Duckhee Lee

Bild: tennis magazin/ATP

Gehörloser Profi Duckhee Lee: Star aus der Stille

Der Südkoreaner Duckhee Lee, 18 Jahre alt, zählt zu den größten Talenten auf der Tour und hat sich bereits in die Top 150 gespielt. Das Erstaunliche dabei: Er ist gehörlos.

Hinweis: Dieser Text erschien im Original in der tennis MAGAZIN-Printausgabe 3/2017!

Plopp macht es. Und noch einmal: Plopp. Dazu hört man das Stöhnen des Gegners und das Quietschen oder Rutschen seiner Schuhe, wenn er sich zum Ball bewegt. Und immer wieder dieses unaufhörliche Plopp, wenn der Ball mit dem Schläger getroffen wird und wenn er im eigenen Feld aufprallt. Das ist der „Sound of Tennis“. Millionenfach gehört. Auf dem Platz, im Fernsehen, im Webstream, im Radio.

Duckhee Lee hat diese Geräuschkulisse noch nie wahrnehmen können. Er weiß nicht, wie es sich anhört, wenn ein Tennisschläger auf einen Tennisball prallt, wenn ein Gegner laut grunzend eine fiese Topspin-Vorhand abfeuert oder wenn ein Linienrichter mitten im Ballwechsel „OUT“ brüllt. Er ist seit seiner Geburt taub. Zu hundert Prozent.

Lee ist 18 Jahre alt, kommt aus Südkorea und träumt davon, der beste Tennisspieler der Welt zu werden. Schon jetzt hat er als Gehörloser Unglaubliches geleistet: Er steht in den Top 150 der Weltrangliste. Bei den Australian Open verlor er knapp in der letzten Runde der Qualifikation – es wäre seine erste Hauptfeldteilnahme bei einem Major gewesen.

Duckhee Lee spricht nicht von „Handicap“

Das Gehör liefert Tennisspielern die ersten Informationen über den gegnerischen Schlag. Akustische Reize erreichen das Gehirn schneller als visuelle Signale. Der Schlagklang verrät viel über Spin, Tempo und Flugrichtung des Balls. Auch für das Timing der eigenen Schläge ist das Gehör unerlässlich – eigentlich.

Lee zeigt nun, dass man es nicht unbedingt braucht, um zu den 200 besten Tennisspielern der Welt zu gehören. Er hat es seit frühester Kindheit gelernt, mit seinem „Handicap“ umzugehen – wobei er selbst nie von einer Behinderung spricht. Im Gegenteil: Er sieht seine Taubheit sogar als Wettbewerbsvorteil. „Ich kann den Ball zwar nicht hören, aber dafür spüre ich ihn“, erklärte er neulich im Gespräch mit der New York Times. „Ich verfolge die Bewegungsabläufe des Gegners und die Flugkurve des Balls sehr genau. Weil ich nichts höre, kann ich mich komplett auf das Match konzentrieren. Ich werde nicht so leicht abgelenkt wie andere Spieler.“

Wenn Lee auf dem Platz steht, nimmt er nichts von all dem wahr, was um ihn herum passiert. Jubel, störende Zwischenrufe von den Tribünen, Lärm von den Nachbarplätzen – bei ihm herrscht nur Stille. Er wirkt dadurch äußerst fokussiert, fast ein wenig entrückt und fernab von allem, was ihm wiederum eine gewisse Leichtigkeit verleiht. „Er bringt eine Gelassenheit auf den Platz, die beeindruckend ist. Dadurch ist seine mentale Stärke herausragend“, schwärmt der ­frühere deutsche Profi Benjamin Ebrahimzadeh, der erstmals bei den Australian Open mit Lee trainiert hat. Ebrahimzadeh ist Chefcoach an der Akademie von Patrick Mouratoglou in Nizza. Lee wurde über eine ­Stiftung in das Akademie-Programm aufgenommen; Ebrahimzadeh kümmert sich dort hauptsächlich um ihn.

Duckhee Lee

SCHON ALS KIND EINE ATTRAKTION: 2013 trat Lee bei den Junioren in Wimbledon an, verlor in der ersten Runde – und stand dennoch im Rampenlicht.

„Die generelle Sprache, die uns verbindet, ist Tennis“, sagt Ebrahimzadeh. Lee ist zwar Lippenleser, aber bei Fremdsprachen wie Englisch erkennt er nur wenig. Dann müssen sein Vater und sein Cousin Chung Hyo Woo, der ihn zum Tennis gebracht und ihn jahrelang trainiert hat, für ihn übersetzen – eine mühsame Art der Kommunikation. Ebrahimzadeh arbeitet lieber mit optischen Hilfsmitteln. Er malt Skizzen auf, macht Bewegungen vor, analysiert Videos mit Lee. „Er kann diesen visuellen Input unglaublich gut umsetzen“, lobt Ebrahimzadeh.

Menschen ohne Gehör sind in der Regel auf visueller Ebene sehr stark. Lee ist dafür das perfekte Beispiel. Der Heidelberger Sportwissenschaftler Michael Müller, der seine Diplomarbeit über das Tennistraining mit Gehörlosen schrieb, sagt: „Das Gedächtnis für Bewegungsabläufe und Bewegungsmuster ist bei ihnen besser als bei ­Hörenden.“

Dennoch ist es überaus erstaunlich, dass es Lee schon so weit gebracht hat. Gehörlose haben oft koordinative Schwächen, sie haben Probleme damit, die Balance zu halten, weil das Ohr gleichzeitig Hör- und Gleichgewichtsorgan ist. Daher fällt es tauben Sportlern so schwer, in einem koordinativ höchst anspruchs­vollen Sport wie ­Tennis mit der ­normal hörenden Konkurrenz mitzuhalten.

Es ist eigentlich: un­möglich.

Auch Ebrahimzadeh hatte zunächst leichte Bedenken, als die Zusammenarbeit mit Lee begann. Klar, er wusste, dass der 18-jährige Südkoreaner für sein Alter schon sehr schnell spielen kann und dabei „stabil und erwachsen“ agiert, wie es Ebrahimzadeh formuliert. Um es aber weiter nach oben zu schaffen, kommt es vor allem darauf an, unter Druck auch noch stabil zu bleiben. Wie reagiert Lee, wenn er weit nach außen getrieben wird und seine Komfortzone verlassen muss? Das Wichtigste in solchen Matchsituationen: Balance halten! Ebrahim­zadehs Fazit nach den Einheiten in Melbourne: „Er ist auch dann stark, wenn sich das Spielgeschehen weit in die Ecken des Platzes verlagert. Er hat das nötige Körper­gefühl, um im Gleichgewicht zu bleiben.“

Duckhee Lee als „Tennis-Beethoven“?

Wie ist das möglich? Ist er tatsächlich ein Wunderkind, wie es die Schweizer Boulevard-Zeitung Blick schrieb, die Lee als „Tennis-Beethoven“ bezeichnete? Der große Komponist aus dem 18. Jahrhundert schrieb ohne Gehör Musik für die Ewigkeit. Fest steht: Die Karriere von Duck-hee Lee war von Beginn an geplant.

Als er zwei Jahre alt war, stellten seine Eltern fest, dass ihr Junge nichts hören kann. Gar nichts. Mit vier Jahren schickten sie ihn an eine Schule für behinderte Kinder. Während seine Schulkameraden in der Regel nur an den Wochenenden nach Hause kamen, wurde Duckhee jeden Morgen von seiner Mutter zu der eine Stunde entfernten Schule gebracht und mittags wieder abgeholt. Nachmittags besuchte er nämlich zusätzlich eine reguläre Schule. Er sollte sich in der Welt der Hörenden so früh wie möglich zurechtfinden. Die Mutter brachte ihrem Sohn Lippen­lesen bei; Gebärdensprache kam für sie nicht in Frage. Das hätte ihr Kind zu sehr in die Welt der Gehörlosen gedrängt – und genau das wollte sie um jeden Preis verhindern. Duckhee sollte unabhängig und ganz normal groß werden. Dass er taub war, nahm sein näheres Umfeld irgendwann gar nicht mehr wahr.

Nach ein paar Jahren verließ Duckhee die Sonderschule. Er war nun endgültig in der Welt der Hörenden angekommen, ohne sie zu hören. Aber er verstand sie. Auf seine Art. „Wenn jemand schon so viele schwierige Situationen in seinem Leben gemeistert hat, dann wird man automatisch gelassener – auch im Match“, vermutet Coach Ebrahimzadeh.

Neben der schulischen Laufbahn kümmerten sich die Eltern auch um die sportliche Karriere ihres Sohnes. Duckhees Vater, selbst ein erfolg­reicher Schwimmer und insgesamt sport­begeistert, wollte seinen Sohn im Golf oder Bogenschießen unterbringen. Aber Duckhee eiferte seinem älteren Cousin nach, der Tennis spielte. Die Eltern akzeptierten die Wahl ihres Sohnes, wollten aber nichts dem Zufall überlassen. Dem ersten Trainer sagten sie unverblümt: „Unser Junge soll nicht zum Spaß trainieren, wir nehmen die Sache ernst. Wenn Sie kein Potenzial in ihm sehen, werden wir nicht weitermachen.“ Der Trainer erkannte das Talent – die wundersame Geschichte des ­Tennisspielers Duckhee Lee begann.

Duckhee Lee war besser als alle Hörenden

Schnell wurde er zu einer landesweiten Attraktion, weil er in allen nationalen Altersklassen seinen hörenden Gegnern überlegen war. Dennoch stießen die Eltern auf viel Skepsis, nachdem klar wurde, dass ihr Sohn Profispieler werden sollte. Immer wieder hörten sie, dass die Geschwindigkeit auf Profiebene viel zu schnell sei. Da könne ein tauber Spieler einfach nicht mithalten. Im Jugendtennis mag das ja noch gehen, aber echtes Profitennis? Keine Chance.

Duckhee Lee

GROSSER SIEG: Duckhee Lee, mittlerweile 21 Jahre alt, gewann in Winston-Salem als erster Gehörloser ein Match bei einem ATP-Turnier.Bild: tennis MAGAZIN / ATP

Ambitionierte gehörlose Sportler schaffen es nur in absoluten Ausnahmefällen, sich bei den Hörenden durchzusetzen. In der Regel bleiben sie unter sich, um Chancengleichheit herzustellen. Es gibt die „Deaflympics“, die Olympischen Spiele der Gehörlosen. Tennis ist dort fester Bestandteil. Welt- und Kontinental­meisterschaften für gehörlose Tennisspieler werden ebenfalls regelmäßig durchgeführt. Duckhee Lee nahm daran nie teil. Er wollte immer normal sein, zu den Hörenden zählen. Gehörlosen-Weltmeister? Nein danke.

Die Deutsche Heike Albrecht schlug den anderen Weg ein. Über das Gehörlosentennis strebte sie eine Karriere auf der WTA-Tour an. Albrecht gewann schon als Jugendliche alles, was es im Gehörlosentennis zu gewinnen gibt. Heute, mit 25 Jahren, ist sie noch immer die Weltranglistenerste der Gehörlosen, aber eine Profilaufbahn ist kein Thema mehr für sie. Stattdessen studiert sie Psychologie in München und steht kurz vor ihrem Abschluss. Albrecht spielte sich bis kurz vor die Top 100 der regulären deutschen Rangliste. Dann wurde sie von Verletzungen zurückgeworfen.

Duckhee Lee findet sich zu klein

Hätte sie es schaffen können? „Irgendwann wuchs in mir der Wunsch, mit einem Studium zu beginnen, um später bessere Chancen zu haben. Da blieb für Tennis wenig Zeit“, räumt Albrecht ein. Im Nachhinein eine kluge Entscheidung. Die Karriere von Duckhee Lee verfolgt sie, in ungläubiges Staunen versetzen sie seine Resultate aber nicht. „Er investiert mehr als andere Profis in seinen Sport. Dadurch kann er trotz der Nachteile mit ihnen mithalten“, analysiert sie.

Albrecht nutzt im Alltag Hörhilfen. Sie sind für sie unverzichtbar geworden. Wenn sie zu einem offiziellen Match unter Gehörlosen antritt, muss sie die Geräte allerdings abnehmen. Spielt sie eine Partie gegen eine hörende Gegnerin, kann sie Hörgeräte nutzen. Sie kennt also beide Welten. Duckhee Lee trägt keine Hörhilfen. Nicht im Alltag und nicht auf dem Platz – obwohl er sie auf Profiturnieren einsetzen dürfte. Aufgrund der Schwere seiner Hörschädigung helfen sie ihm jedoch nicht weiter.

Besonders zu schaffen macht ihm dieser Umstand nicht. Lee hat ganz andere Sorgen. „Ich könnte etwas größer sein, das würde meinem Spiel mehr helfen“, sagt er, der 1,75 Meter misst. Im modernen Herrentennis ist das tatsächlich nicht besonders groß. Aber Lee hat bis jetzt schon ganz andere Hürden auf seinem Weg in die Weltspitze souverän überwunden.

Update: Duckhee Lee kletterte im April 2017 – kurz nach dem ersten Erscheinen des obigen Textes – auf Platz 130 in der ATP-Rangliste. Danach aber stagnierte er und fiel in der Weltrangliste zurück. Anfang 2019 rutschte er kurzzeitig aus den Top 250. Aktuell steht er auf Rang 212 und schaffte es nun beim ATP-Turnier in Winston-Salem als erster gehörloser Spieler, ein Match auf höchstem Profilevel zu gewinnen. Benjamin Ebrahimzadeh ist nicht mehr Lees Coach. Derzeit wird er von seinem Cousin Chung Hyo Woo trainiert, der ihn einst auch zum Tennis führte.

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