Mythos Björn Borg: Mann mit eiskalter Miene
Vor 40 Jahren hat Björn Borg Wimbledon dominiert. Ist man zu Gast im All England Club, begegnet einem der Schwede immer noch. Auf Siegertafeln, als TV-Experte oder als Doppelgänger in Form von Perücke tragender Borg-Fans. Annäherung an den Mythos Borg, der immer noch über der Anlage schwebt.
Am 6. Juli 2008 sitzt Björn Borg in einem Fernsehstudio der BBC. Er trägt einen feinen Anzug. Das früher lange blonde Haar ist kurz geschnitten und schimmert silbern, die Haut ist sanft gebräunt. Er sieht gut aus. Keine 50 Meter Luftlinie entfernt befindet sich der Centre Court von Wimbledon, wo sich in einer halben Stunde Roger Federer und Rafael Nadal duellieren werden. Am Tag darauf wird der Daily Telegraph über das Match, das am Ende der Spanier mit 6:4, 6:4, 6:7, 6;7, 9:7 nach 4:47 Stunden gewinnen soll, in riesigen Lettern schlagzeilen: „The greatest final ever.“
Vor dem Showdown sagt Borg: „Die ganze Welt wartet auf dieses Endspiel.“ Wenn Borg, der eigentlich so leise Schwede, so etwas sagt, hat es Gewicht. Er drückt in dem Moment das aus, was viele genau so empfinden. Allen voran die Aficionados, die wahren Fans, die Liebhaber des Spiels mit Racket und Filzball. Neben Borg sitzt John McEnroe an einem ovalen Tisch, leicht ergraut, ohne die vom roten Stirnband gezähmte Lockenmähne von einst. „Big Mac“ trägt ebenfalls einen Designer-Anzug. Die Rivalen von früher vereint als Experten vor der Kamera. Es ist die Fortsetzung ihrer Story in anderen Rollen.
Wie sich die Geschichte wiederholt. Es gab mindestens ein Finale im All England Club zwischen dem Schweden und dem Amerikaner, über das man ebenfalls „the greatest final ever“ sagen könnte: das Wimbledonfinale 1980. Am Ende siegte Borg zum fünften Mal in Folge auf dem sprichwörtlichen heiligen Rasen. Die Zahlen für die Ewigkeit lauteten: 1:6, 7:5, 6:3, 6:7 (16:18), 8:6. Vor allem der Tiebreak des vierten Satzes gilt immer noch als einer der dramatischsten, der je auf dem Planeten Tennis gespielt wurde.
Borg und McEnroe: Wie Feuer und Eis
Keine Story ohne Rivalität. „Wir waren wie Feuer und Eis“, sagte McEnroe im Sommer 2011 im Interview mit tennis MAGAZIN. „Inzwischen ist es ein bisschen weniger Feuer und ein bisschen weniger Eis.“ Kurioserweise spielten Borg und McEnroe nur 14-mal gegeneinander. Bilanz: 7:7. Viel öfter trat Borg gegen Guillermo Vilas (17:5) oder Jimmy Connors (15:8) an. Zum Vergleich: Federer und Nadal kommen auf 39 Duelle. Und dennoch: Borg versus McEnroe überstrahlt alles. In der Retrospektive ist die Rivalität größer als alles andere, was sich je zwischen den weißen Linien abgespielt hat.
Dazu passt auch, dass Bad Boy McEnroe nach dem frühen Karriereende Borgs in eine Lebenskrise geriet. „Als Björn seine Karriere beendete, war ich am Boden zerstört“, sagte McEnroe später. „Ich fühlte mich vollkommen leer, denn er konnte seinen Rücktritt nicht mal erklären.“ Der Londoner Observer schrieb damals: „Nach Borgs Rücktritt wirkte McEnroe unzufriedener und zorniger denn je, denn er hatte keinen Rivalen mehr.“
Man könnte es auch theatralisch ausdrücken: Als Borg mit gerade einmal 26 Jahren in der schwedischen Zeitung Kvallposten seinen Rücktritt mit folgenden Worten bekannt gab: „Ich kann nicht mehr hundert Prozent geben. Und wenn ich das nicht tun kann, wäre es nicht fair mir selbst gegenüber, weiterzumachen. Tennis sollte Spaß machen, wenn du auf dem Weg an die Spitze bist. Ich fühle diesen aber nicht mehr. Deshalb höre ich auf“, fühlte es sich an, als wäre jemand gestorben. Wie James Dean, der Filmstar der 50er-Jahre, der mit seinem Porsche in den Tod raste und nach nur drei Kinofilmen von der Leinwand verschwand.
Arthur Ashe hat über Björn Borg einmal gesagt: „Er war größer als das Spiel. Er war wie Elvis Presley oder Liz Taylor.“ Der farbige Amerikaner hatte 1975 in Wimbledon gesiegt, exakt ein Jahr bevor die Borg-Mania startete. Ilie Nastase, die erste Nummer eins der Herrenweltrangliste, erklärte das Phänomen Borg so: „Wir spielten Tennis, er hat irgendetwas anderes gespielt.“
Wer war Björn Borg?
Mag sein, dass Borg ohne den Antipoden McEnroe nicht funktioniert hätte. Mag auch sein, dass der Kinofilm „Borg McEnroe – das Duell zweier Gladiatoren“ aus dem Jahr 2017 nicht diese Wirkung gehabt hätte, aber eines ist auch klar: Reduziert man das kongeniale Duo auf eine Person, bleibt nur Borg. McEnroe war genial auf dem Platz, genauso genial wie später als TV-Kommentator. Er war gleichzeitig eine Zumutung für Gegner, Offizielle und Fans. McEnroes Ausspruch Richtung Schiedsrichter „You cannot be serious“ ist längst geflügeltes Wort, Tenniskulturerbe. Und dennoch: McEnroe, der in seiner Jugend Borg-Poster in seinem Zimmer hängen hatte, ist zwar eine Legende. Borg aber ist Mythos. Sein Wesen scheint so geheimnisvoll wie das Lächeln der Mona Lisa.
Wer ist Björn Borg? Oder sollte man besser fragen: Wer war Björn Borg? Weil der aktuelle Borg, der als europäischer Laver Cup-Kapitän fungiert, der dabei hilft, der Marke Fila zu neuem Glanz zu verhelfen und der vor allem auch Vater seines Sohnes Leo ist, der sich anschickt Tennisprofi zu werden – genau dieser Borg hat offenbar nicht viel zu tun hat mit dem von früher. Dem Eis-Borg, der wie ein außerirdisches Wesen anmutete, zwölf Stunden schlief. Während der zwei Wochen in Wimbledon verbannte er seine Ehefrau Mariana Simionescu aus dem Bett. Sein Hotelzimmer verwandelte er in ein Eisfach, in dem er die Klimaanlage bis zum Anschlag herunterdrehte. Passend dazu sein Ruhepuls: 35 Schläge pro Minute.
Björn Borg: Ein Fall für die Bahnhofsmission
Vor wichtigen Matches konnte er oft nicht schlafen, stand nachts stundenlang am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Wenn Borg nicht Tennis spielte, dann saß er vor dem Fernseher oder las Comics. Seine Lieblingsfigur: Donald Duck. Leute, die ihm Böses wollten, bezeichneten ihn als Langeweiler. Als ungepflegten Menschen, dessen Haut picklig und dessen Gesicht unrasiert war. „Aber das bekräftigte nur den Eindruck, er widme sich so intensiv dem Tennis, dass man ihn nicht auch noch mit so trivialen Dingen wie Körperpflege behelligen könne“, schrieb der US-Autor Michael Mewshaw im amerikanischen Tennis Magazine. Die Zeit formulierte es einmal so: „Wenn er so daher geschlurft kommt in seinen verschlissenen Jeans, die Hände tief in den Taschen, die Haare strähnig über dem Kragen, sieht er aus wie ein Fall für die Bahnhofsmission.“
Aber was kümmerte Borg, den fünffachen Wimbledon-Champion, die Kritik an seiner Person? Den Mann, von dem viele behaupteten, er sei größer als der ganze Sport gewesen. Wenn er die Anlage im Südwesten Londons betrat, kreischten die Mädchen wie bei den Beatles. Polizisten mussten helfen, die stürmischen Fans abzuwehren. Mitte der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre war Borg Kult, ein Popstar, die perfekte Projektionsfläche für die Träume und Sehnsüchte einer Generation. 1978 schickte der Präsident von Wimbledon Briefe an die Direktoren von 60 Mädchenschulen. Sie sollten doch bitte während des Turniers ihre Schülerinnen unter Kontrolle halten. Was natürlich nicht funktionierte. Selbst Medien wurden zu Borg-Jüngern. Über die Hysterie an der Church Road schrieb einmal eine Reporterin des Boulevardblattes Daily Express: „Er ist wirklich wunderschön. Ein Gesicht, wie Raffael es gemalt haben könnte, mit blauen Augen, die man nie vergisst.“
Es ging längst nicht mehr um den Tennisspieler Borg, der das Kunststück fertigbrachte, pro Saison 600 Schläger zu verbrauchen, Griffstärke fünf, 414 Gramm schwer. Seine Rackets ließ er mit bis zu 38 Kilo Zugkraft besaiten. Manchmal brachen die Holzrahmen schon beim Bespannen – so enorm stand das Material unter Druck. Insofern waren die Schläger sinnbildlich für den, der mit ihnen zehntausende von Bällen drosch. Einmal – der Borg-McEnroe-Film zeigt diese Sequenz eindrücklich – bricht Borg während des Wimbledonturniers von 1980 weinend in der Dusche zusammen. Die Last, die er tragen muss, ist zu hoch. Sean Connory alias James Bond hat oft gesagt, er hasse seine Rolle und den Rummel um seine Person. Borg wird es ähnlich gegangen sein.
Borgs Vorbilder: Rod Laver, Eddy Merckx und Muhammad Ali
Als „perfekte Geld-Maschine“ bezeichnete der IMG-Agent, der Italiener Cino Marchese, den Schweden. Sein Preisgeld mag aus heutiger Sicht läppisch klingen, nur 3,6 Millionen Dollar. Aber das war nur ein kleines Stück vom großen Kuchen bestehend aus Gagen für Showkämpfe, Antrittsgeldern und vor allem Einnahmen aus der Werbung. 1980 schloss Borg mit seinem Schlägerhersteller Donnay einen Vertrag über dreieinhalb Millionen Dollar für fünf Jahre ab. Es war bis dahin der größte Schlägerdeal im Profitennis. Mit Borg stiegen die Umsätze seiner Bekleidungsmarke Fila innerhalb von drei Jahren von 25 auf 53 Millionen Dollar. Das geschätzte Gesamtvermögen Borgs auf dem Höhepunkt seiner Karriere: 75 Millionen Dollar – eine astronomische Summe unter Einberechnung der damaligen Kaufkraft.
Mythos Borg. Manuel Orantes, spanischer Weltklassespieler in der Borg-Ära hat über den Schweden gesagt: „Das Schlimmste an Borg ist nicht sein Topspin-Schlag, sondern dass er nie eine Regung zeigt in seinem steinernen Gesicht. Netzroller oder Netzball – dieselben Augen und niemals ein Zeichen von Freude oder Enttäuschung.“ Dabei war Borg als Kind ein Rebell. Er schmiss Schläger, bepöbelte Gegner und Schiedsrichter. Die Schule bricht er mit 15 Jahren ab, zieht aus dem Elternhaus in Stockholm aus. Vom schwedischen Tennisverband wird er ein halbes Jahr gesperrt. Ein paar Jahre später vollzieht sich die Wandlung. Borg will so erfolgreich werden wie seine Vorbilder: der doppelte Grand Slam-Gewinner Rod Laver, Radprofi Eddy Merckx und Boxlegende Muhammad Ali.
Eine eiserne Disziplin, Geduld, Ausdauer und Perfektion werden zu seinen wichtigsten Tugenden. Borg ist mit Abstand der beste Athlet seiner Zeit. Bei einem 400-Meter-Hürdenlauf besiegte er den damaligen französischen Olympiasieger über 110 Meter Hürden Guy Drut. Sein Spiel auf dem Platz – einmalig. Sein Trainer, Förderer und Beichtvater Lennart Bergelin bemerkte einmal: „Das einzig Wichtige, das ich je für ihn getan habe, war, seinen Stil in keiner Weise anzutasten.“
Björn Borg: Comeback in Monte Carlo
Die Faszination Borg besteht auch aus den Brüchen in seinem Leben. 109 Wochen war er die Nummer eins, er gewann elf Grand Slam-Turniere, aber er stürzte auch gnadenlos ab. Und die Boulevardblätter machten kräftig Auflage mit seinen Dramen: Pleite der Europa-Abteilung der „Björn Borg Design Group“, Schlammschlachten mit Ex-Geliebten, Heirat mit der dubiosen italienischen Pop-Sängerin Loredana Berte, ein angeblicher Selbstmordversuch. Im Februar 1989 soll er in Mailand eine Überdosis Schlaftabletten genommen haben. Anschließend habe man ihm den Magen ausgepumpt. Später beschuldigten Borgs Berater die italienische Presse, die Tatsachen verdreht zu haben. Borg habe lediglich zu viel getrunken, etwas Falsches gegessen und wollte mit den Tabletten in den Schlaf finden.
Ins Bild des gefallenen Stars passten auch seine Comeback-Versuche. Im April 1991 trat der damals 34-Jährige beim Turnier in Monte Carlo an. Acht Jahre zuvor hatte ein gewisser Henri Leconte an gleicher Stelle Borgs Karriere beendet. Diesmal hieß der Gegner Jordi Arrese, die Nummer 54 der Welt. Borg war chancenlos und unterlag in der ersten Runde mit 2:6 und 3:6. Anschließend kommentierte Ion Tiriac: „Ich habe ihn noch nie so schlecht spielen sehen – Arrese.“
Nach dem Karriereende mied Borg mehr als 15 Jahre Wimbledon. Als er 1997 anlässlich der Eröffnung von Court 1 zurückkehrte, wurde er gefeiert wie ein verlorener Sohn. Seitdem ist der inzwischen 63-Jährige Dauergast im AELTC (All England Lawn Tennis Club) – ob in der Royal Box, im BBC-Fernsehstudio oder in Form Perücke tragender Borg-Jünger. Die Strahlkraft der Marke Björn Borg ist ungebrochen. Der Mythos lebt.
Rekorde von Björn Borg
– Borg ist der einzige Spieler der Open Era, der die French Open und Wimbledon dreimal hintereinander gewinnen konnte (1978, 1979, 1980). Nadal schaffte dieses Kunststück zweimal (2008 und 2010), Federer einmal (2009).
– Zwischen 1979 und 1981 gewann Borg bei den French Open 41 Sätze in Folge. Das schaffte selbst Sandplatzgott Nadal bislang nicht. Seine beste Serie endete 2018 nach 37 in Serie gewonnenen Durchgängen.
– 1979 war Borg der erste Tennisprofi, der in einem Jahr mehr als eine Million Dollar Preisgeld verdiente. Als er 1981 mit 26 Jahren aufhörte, hatte er mehr als 3,6 Millionen Dollar eingespielt.
– Von 33 Fünf-Satz-Matches in seiner Karriere gewann Borg 27. Das entspricht einer Siegquote von 81,8 Prozent – kein Spieler kommt auf einen besseren Wert. Stärkster aktueller Profi in dieser Rubrik ist Kei Nishikori (79,3 Prozent).
– Bei seinen 27 gespielten Grand Slam-Turnieren gewann Borg 141 Matches und verlor 16. Er kommt damit auf eine Grand Slam-Siegquote von 89,8 Prozent. So gut war bislang kein anderen Profi. Nadal liegt bei 87,2 Prozent, Djokovic bei 86,6 und Federer bei 86,1 (Stand: vor den French Open 2019).
– Kein anderer Spieler der Open Ära war so jung wie Borg, als er 1981 seinen elften Grand Slam-Titel holte – nämlich genau 25 Jahre und einen Tag. Zum Vergleich: Federer war bei seinem elften Majorsieg 25 Jahre und 324 Tage alt. Nadal 26 Jahre und zwei Tage. Pete Sampras war fast 27.
– Bei seinem French Open-Sieg 1978 gab Borg in sieben Matches nur 32 Spiele ab, sechs Sätze gewann er im Turnierverlauf mit 6:0. Bis heute ist Borg der Spieler, der die wenigsten Spiele auf dem Weg zu einem Grand Slam-Titel verlor. Rafael Nadals Bestwert liegt bei 35 verlorenen Spielen (2017 French Open).womens air jordan 6 barely rose dh9696 100 release date | is outlet store legit