Jürgen Höller: „Trampelpfad im Gehirn“
Jürgen Höller ist einer der erfolgreichsten Mentaltrainer. Er gibt Seminare, arbeitet mit Unternehmern, Angestellten und Sportlern. Dem Tennisprofi Alexander Zverev rät er in Krisenzeiten zu einer Neuprogrammierung seiner Gewohnheiten. Ein Gespräch über Mindways, Gedankenhygiene und die Macht der Wiederholung.
Interview: Nina Schwarz
Herr Höller, Sie haben als Unternehmer mit einer Fitness-Kette begonnen. Wie steht es um Ihre Tenniskünste? Gibt es sie überhaupt?
Künste? Nein. Im hohen Alter von 48 Jahren habe ich mal ein paar Wochen Tennistraining genommen. Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht. Aber ich musste wieder aufhören, weil ich ständig unregelmäßig unterwegs war und keinen Trainingspartner mehr fand. Zuhause habe ich im Keller ein eigenes Fitnessstudio. Dort trainiere ich regelmäßig.
Als Motivationstrainer von Spitzensportlern sind Sie vor Jahren durch Ihr Engagement bei den Fußball-Profis von Bayer Leverkusen bekannt geworden. Stichwort „nackte Füße“ und „Scherbenlaufen“.
Das war 1999, und der Trainer damals hieß Christoph Daum. Leider ist zumeist das schlagzeilenträchtige Scherbenlaufen in Erinnerung geblieben. Dabei war diese Aktion nur der Abschluss unserer gemeinsamen Arbeit. Es sollte den Sportlern zeigen: Schaut her, wenn Ihr etwas scheinbar Unmögliches schafft, wie mit nackten Füßen von einem Stuhl auf Scherben zu springen und darüber zu laufen, ohne euch zu verletzen, dann könnt Ihr alles schaffen. Anschließend verließ Leverkusen die Abstiegsplätze, wurde erstmals Vize-Meister. Was ich im Nachhin-
ein bemerkenswert fand: Die Profis hatten damals schon Klauseln in ihren Verträgen, dass sie keine gefährlichen Aktivitäten wie beispielsweise Skifahren machen durften. Und wir ließen sie über Scherben laufen.
Sie haben auch Top-Einzelsportler betreut. Macht es einen Unterschied?
Ein Team besteht aus Individuen. Wenn ich jeden Einzelnen besser mache, verbessere ich auch die Teamleistung. So die Theorie. Das funktioniert aber nur, wenn jeder Einzelne wirklich sein Maximum gibt. Bei Einzelsportlern müssen viele Faktoren stimmen, damit am Ende eine Bestleistung herauskommt. Einer der wichtigsten Punkte ist die Körpersprache. Samy Molcho, der berühmte österreichische Pantomime und Körpersprachen-Papst, hat bei seinen Untersuchungen zur ganzheitlichen Kommunikation herausgefunden, dass Körper und Geist immer eine Einheit sind und sich gegenseitig beeinflussen. Über eine starke, positive Körpersprache kann man auch seine mentale Verfassung positiv verstärken.
An Deutschlands bestem Tennisprofi Alexander Zverev sieht man manchmal, wie fatal das Fehlen positiver Körperspannung ist.
Zverev schien vor den Australian Open in einer schwierigen Abwärtsspirale zu sein. Offenbar hatte er aber mit seinem Team eine Lösung gefunden, schaffte es erstmals in ein Grand Slam-Halbfinale. Ob und welche Hilfe er in Anspruch nahm, vermag ich von außen nicht zu beurteilen.
Was wäre denn ein Weg?
Sportler sind oft rationale Menschen. Es genügt nicht, ihnen zu sagen, du musst dein Verhalten ändern, dann wird es schon wieder. Sie wissen aus Erfahrung, dass es so nicht funktioniert. Zverevs Hadern, seine Verzweiflung, seine Aggressivität, wenn es nicht läuft, sind negative Gewohnheiten, die er nicht mal eben ablegen kann, weil er es sich vornimmt. Sie sind sein Programm. Und wie beim Computer muss man einen Tennisspieler neu programmieren, um eine Verhaltensänderung herbei zu führen. Das gilt im Übrigen auch für jeden Hobbyspieler.
Wie muss man sich das vorstellen?
Es gilt, neue Mentalgewohnheiten zu verfestigen. Eine Methode ist die Visualisierung. Der Tennisspieler stellt sich beispielsweise noch beim Zurücklaufen an die Grundlinie vor, wie er beim nächsten Mal den Ball genau dorthin spielt, wo er ihn haben will.
Und wie lange dauert so ein Umprogrammierungsprozess?
Um eine Verhaltensweise oder einen Denkprozess durch etwas Neues zu ersetzen, muss man sie immer wieder wiederholen. Es dauert bis zu 10.000 Wiederholungen oder bis zu sechs Monate, bis neue Automatismen körperlich oder geistig ausgebildet sind. Ich nenne es die Macht der Wiederholung. Starke Automatismen brauchen aber auch starke Emotionen. Boris Becker hat ebenfalls geflucht und Schläger geschmissen. Aber daraus hat er neue Kraft gezogen, sich gepusht. Seine Botschaft an den Gegner war: Du besiegst mich nicht. Ich nenne das gelungene Gedankenhygiene.
Gibt es eine wissenschaftliche Erklärung für diese Verhaltensweisen?
Das menschliche Gehirn besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen, den Neuronen. Sie nehmen jede Information auf und speichern sie. Wenn ich an einem Programm etwas ändern will, muss ich neue Reize setzen. Diese Informationen werden verarbeitet, neue Verbindungen entstehen. Man kann sich neuronale Denk- und Verhaltensänderungen wie einen Trampelpfad im Gehirn vorstellen, der durch Wiederholungen immer breiter wird. Man nennt das auch den Mindway, eine Datenautobahn, auf der sich positive Denk- und Bewegungsgewohnheiten ausbilden, die die zuvor programmierten, negativen ersetzen.
Viele Tennisspieler führen Selbstgespräche…
Dieser innere Dialog ist wichtig. Es macht allerdings einen Unterschied, ob ich mich beschimpfe oder lobe. Autosuggestion, die Kunst, sich stark zu reden, ist ein wichtiger Faktor, wenn ich mich aus einer Krise befreien will. Wenn ich nach dem ersten Doppelfehler vor jedem weiteren Aufschlag denke, oh Gott, jetzt geht es schon wieder los, dann darf ich mich nicht wundern, wenn ich den Doppelfehler tatsächlich mache.
Das nennt man eine sich selbst erfüllende Vorhersage…
So wie ich denke, handle ich. Das meine ich mit Einheit. Der australische Sportpsychologe Alan Richardsen ließ für eine Studie drei Vergleichsgruppen Basketball-Freiwürfe üben. Die einen trainierten jeden Tag eine Stunde lang Werfen, eine zweite Gruppe stellte sich zehn Minuten am Tag vor, sie würden Freiwürfe üben und die dritte Gruppe machte nichts. Nach 20 Tagen ließ Richardson die Teilnehmer aller Gruppen zum Werfen antreten. Das erstaunliche Ergebnis: Die Gruppe, die geübt hatte, schaffte eine Erfolgsquote von 24 Prozent. Die, die sich das Werfen nur vorgestellt hatte, 23 Prozent. Die dritte Gruppe war im Ergebnis irrelevant. Entscheidend ist, dass es für den Effekt offenbar egal ist, ob ich etwas körperlich übe, oder es mir nur vorstelle.
Viele Menschen haben Angst, dass es ihnen als Schwäche ausgelegt wird, wenn sie sich beim Mentaltrainer Hilfe holen.
Das hat sich geändert. Zumindest im Hochleistungssport sind Mentaltrainer längst üblich. Als Fernsehzuschauer kann ich das Ergebnis bei den Skirennläufern sogar beobachten. Bevor die an den Start gehen, gehen sie die Strecke zigmal im Geiste durch, so wie sie es zuvor gelernt haben. Dann stehen sie im Schnee, bewegen Kopf und Hände bei geschlossenen Augen. Das sieht ein bisschen crazy aus, aber ohne geht es nicht.
Im Tennis ist so etwas nicht möglich, weil der Gegner den Spielverlauf mitbestimmt?
Es funktioniert nicht eins zu eins für jeden Schlag. Dafür ist das Spiel zu komplex und der Spieler muss auch intuitiv reagieren. Aber grundsätzlich kann ich mir auch im Tennis vorstellen und mental einüben, wie ich reagiere, wenn der Gegner eine Schlagvariante anwendet, die er beispielsweise in einer bestimmten Situation bevorzugt.
Was ist, wenn meine Angst vorm Scheitern alles mühsam Erlernte lähmt?
Allein das Wort „gescheitert“! In der Dialektik ist es ein Makel. Besonders hier bei uns in Deutschland. Dabei muss man nur das letzte „t“ weglassen und schon hat man das Wort „gescheiter“. Scheitern, und daraus gestärkt hervorgehen, das ist der Weg! Dafür gibt es viele Beispiele. Ich habe in meiner Bibliothek zu Hause ungefähr 600 Biographien. Sogar ein Bill Gates wurde durch Misserfolg stark. Er stand wieder auf und wurde erfolgreicher denn je.
Hinfallen also als Normalität begreifen?
Jeder fällt mal hin. Und wie lernen Kinder laufen? Indem sie hinfallen, vielleicht ein bisschen weinen und wieder aufstehen. Sportler sollten wissen, dass es Zwischentiefs auf dem Weg nach oben gibt.
Darauf kann man sich vorbereiten?
Unbedingt. Der Sport und da auch das Tennis liefern dafür beeindruckende Beispiele. Novak Djokovic hatte 2017/2018 ein Motivationsloch, fiel aus den Top-Ten, Verletzungen handicapten ihn. Er stellte sich die Sinnfrage. Ich weiß nicht, welche Hilfen er in dieser Krisenzeit hatte. Aber ich bin sicher, es gehörte auch Mentaltraining dazu. Danach kam er stark zurück, wurde wieder die Nummer eins. In engen Spielsituationen entscheidet nicht die Technik, sondern der Kopf.
Auch Sie haben schwere Zeiten überwunden…
Für die Olympischen Spiele im Jahr 2000 in Sydney habe ich ungefähr 50 Bundestrainer im Bereich Mentaltraining gecoacht. Ich war als Unternehmer extrem erfolgreich, hatte mir weltweit einen guten Namen aufgebaut. 2001 geriet ich in Börsenturbulenzen, ging mit meinem Unternehmen pleite, machte gravierende Fehler und verlor praktisch alles, was ein Mensch überhaupt verlieren kann. Aber auch diese Lebenskrise hat mich nicht gebrochen. 2004 kam ich zurück, zahlte 6,6 Millionen Euro Schulden ab, und heute bin ich erfolgreicher denn je. Das erzähle ich nicht, weil ich so ein toller Hecht bin, sondern weil ich selbst das beste Beispiel für einen erfolgreichen Wiederaufsteher bin.
Ist diese Willenskraft, dieser Glaube an sich selbst etwas, was Ihnen Ihr Elternhaus mitgegeben hat?
Ich komme aus sogenannten kleinen Verhältnissen. Aber ich hatte schon früh jemanden, der mir als Vorbild diente. Natürlich reicht das allein nicht. Ich habe hart gearbeitet, manchmal 16 Stunden am Tag, um meine Ziele zu erreichen.
Hilft Standhalten auch in Drucksituationen?
Ein schwieriges Thema. Es geht um die richtige Mischung von Anspannung und Konzentration bei gleichzeitigem Loslassen. Viele scheitern, weil sie nicht loslassen können. Aber auch Leichtigkeit bei höchster Anspannung kann man erlernen.
Jeder Mensch kann das?
Jeder Mensch kann alles lernen. Noch einmal das Beispiel mit den Kindern. Wenn wir auf die Welt kommen, können wir nichts. Aber wir lernen alles, was wir zum Leben brauchen. Es gilt nur, diese Fähigkeiten richtig einzusetzen.
Eine schöne Theorie…
Die auch funktioniert. Beispiel Ablenkung. Wir sind ja beim Thema Druck. In meinen Anfangsjahren war ich vor jedem Auftritt total aufgeregt. Ich bin früh ins Bett gegangen, habe auf Alkohol verzichtet, wollte vernünftig sein. Gut geschlafen habe ich trotzdem nicht. Irgendwann habe ich mir gesagt, wenn ich sowieso nicht schlafen kann, dann kann ich auch abends noch ausgehen, dann habe ich wenigstens etwas davon. Und, was passierte?
Sie konnten schlafen?
Genau. Deshalb baue ich in meinen Seminaren Pausen ein, in denen die Teilnehmer Dinge tun, die sie ablenken. Wir spielen laute Musik ein, motivieren sie, sich körperlich zu betätigen. Hauptsache sie bewegen sich weg von dem Thema, an dem sie arbeiten. Danach ist der Geist wieder frisch für neue Aufgaben.
Als Trainer arbeitet man überwiegend mit „normalen“ Menschen. Manche sind ehrgeizig, manche wollen nur Spaß, ein bisschen Bewegung und danach nett zusammensitzen im Clubhaus. Wie stelle ich mich darauf ein?
Als Trainer muss ich das vorher klären. Was willst du, was sind deine Ziele? Das Problem dabei, die meisten Menschen wissen nicht, was sie wollen. Sie wissen nur, was sie nicht wollen. Also muss ich mit ihnen Ziele definieren, die realistisch sind. Kleine Schritte, die man erreichen kann. Du willst Clubmeister werden, spielst aber noch nicht lange Tennis? Versuche in fünf Jahren so weit zu sein. Du willst keine Matches spielen, aber möglichst mit vielen Mitspielern Bälle schlagen? In sechs Monaten hast Du Schlagsicherheit, um längere Ballwechsel gestalten zu können.
Gibt es etwas, was ich als Trainer auf keinen Fall machen sollte?
Negierung in der Ansprache. Niemals sagen, was der Spieler nicht machen soll. Ein Beispiel aus der Praxis: In einem Stadtpark sollten die Leute nicht über den Rasen laufen, weil frisch angesät war. Erst stellte die Verwaltung ein Schild auf, auf dem stand, bitte nicht den Rasen betreten. Es half nichts. Dann stellten sie ein Schild auf: Bitte den Gehweg benutzen. Das funktioniert. Lösungsvorschläge sind besser als Verbote.
Vita Jürgen Höller
Jürgen Höller, 56, gründete mit 19 Jahren sein erstes Unternehmen. Anfang der 90er Jahre coachte er als Motivationstrainer Spitzensportler, Politiker und Künstler, gab dann überwiegend Seminare. 2001 ging er mit seinem Beratungsunternehmen pleite, musste 2003 wegen Anlagenbetrugs ins Gefängnis. Seit 2004 ist er mit der Jürgen Höller KG sowie der gleichnamigen Academy wieder im Geschäft.air jordan 1 royal nike outlet | cheap air jordan 1s for sale