Mischa Zverev im Porträt: Im Auftrag der Familie
Wer sich mit Mischa Zverev unterhält, lernt viel: über seine Beziehung zum Bruder, seine diversen Aktivitäten, seine Philosophie und über Tennis im Allgemeinen. Ein Gespräch mit einem Profi, der seinen Sport über alles liebt.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 5/2021
Wollen wir es morgen Vormittag Miami-Zeit probieren? Könntest Du mich gegen 10 anrufen?“ Die WhatsApp landet nachts auf dem Handy. Klar, der Zeitunterschied. Deutschland liegt fünf Stunden vor Florida. Am nächsten Nachmittag poppt gegen 15 Uhr die Nachricht auf: „Dauert noch etwas. Wahrscheinlich in 30 Minuten.“ Ziemlich genau eine halbe Stunde später klingelt es – Mischa Zverev.
Die Idee, diesmal nicht mit Alexander Zverev (23 Jahre), der Nummer sieben der Welt, zu reden, sondern mit dem großen Bruder (33), der Nummer 280, entstand ein paar Wochen vor dem Telefonat. Bei Eurosport flimmerten die Kurzreportagen „Mischas Mission“ über den Bildschirm. Und wenn man sich ein paar dieser Storys angesehen hat, konnte man nur zu dem Ergebnis kommen: Der Mann ist ziemlich multitask. Spielt selber. Coacht und managt seinen Bruder. Ist junger Familienvater. Und jetzt auch noch fürs Fernsehen im Einsatz.
Erst Bruder, dann Tennisspieler
Der Start ins Gespräch ist gleich der Sprung ins pralle Tourleben. Mischa Zverev sitzt in einem dieser Riesenbusse, die bei US-Turnieren immer für die Transfers zwischen Hotel und Anlage eingesetzt werden. „Ich bin alleine, ich kann entspannt und in Ruhe quatschen“, sagt Mischa und rekapituliert noch mal die letzten Tage. Am Samstag zuvor gewann Alexander Zverev das ATP 500-Event in Acapulco. Siegerehrung, Interviews, Massage – um zwei Uhr ist er im Bett. Ein paar Stunden schlafen. Am nächsten Morgen geht der Flieger nach Miami.
Mischa schläft in diesen Tagen auch wenig. Er reist mit Frau Evgenia und dem zweieinhalbjährigen Sohn, der ebenfalls Mischa heißt. „Er ist morgens um sieben wach“, erzählt Vater Mischa und grinst. Man kann die Vaterfreude förmlich durchs Telefon sehen.
In Miami gelandet, bekommt er auf dem Weg per Shuttle zum Hotel einen Anruf von der ATP. „Willst du die Quali in Miami spielen?“, fragt die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Natürlich spielst du“, dröhnt es aus den hinteren Reihen – Sascha schaltet sich ein. „Aber ich bin nicht vorbereitet, habe viel zu tun“, entgegnet Mischa. Der kleine Bruder bleibt unerbittlich: „Du spielst auf jeden Fall!“ Also akzeptiert Mischa die Wildcard, arbeitet am nächsten Morgen Telefonate ab, bereitet sich auf sein Match gegen die Nummer 160 der Welt, Danilo Petrovic, vor – und siegt glatt in zwei Sätzen. Nicht schlecht für einen, den man als aktiven Spieler gar nicht mehr so auf dem Zettel hat. Am nächsten Tag gewinnt er auch das zweite Match und steht beim sechstgrößten Turnier der Welt im Hauptfeld.
Fragt man Mischa Zverev nach der eigenen Jobbeschreibung, antwortet er: „Ich bin der Bruder von Sascha und ich bin Tennisspieler. Früher war ich Tennisspieler und Bruder. Jetzt shiftet das.“ Je länger man mit Mischa redet, desto mehr bekommt man ein Gefühl für die diversen Rollen, die er ausfüllt. Er selbst formuliert es so: „Wenn man älter ist, kann man besser jonglieren, sich die Sachen besser einteilen. Während der Matches blende ich alles andere aus. Als junger Spieler willst du nur Tennis spielen, als älterer weißt du, wie man plant.“
Alles in den Händen der Familie
Das Telefoninterview mit tennis MAGAZIN ist das beste Beispiel für Multitasking. Während der rund 50 Minuten fährt Mischa mit dem Bus zur Anlage, bedankt sich – „thanks“ – beim Busfahrer fürs Fahren, geht zum Check-in – „Piep“ macht der Scanner im Hintergrund –, beantwortet Fragen („Bist du negativ getestet? Nimmst du Medikamente?“), durchläuft den Sicherheitscheck, erkundigt sich nach seinem Trainingsplatz, gibt zwei Schläger zur Bespannung in Auftrag, findet seinen Coach Mikhail Ledovskikh in der Umkleidekabine. „In acht Minuten muss ich auf dem Trainingsplatz stehen“, sagt er gegen Ende des Gesprächs. Perfekte Taktung.
Der Trip, auf dem der gebürtige Moskauer gerade unterwegs ist, ist ziemlich intensiv. Das hat auch mit Corona zu tun. Vor ein paar Monaten hieß das Management der Zverevs noch Team 8, die Agentur von Roger Federer. Weil man aber in Zeiten, in denen die Profis in eine Blase eintauchen, nur mit sehr wenigen Begleitpersonen reisen kann, entschied man sich, alles in die Hände der Familie zu legen. Wenn beispielsweise Adidas oder Head anfragen, geht Mischa nur ins Nachbarzimmer „und Sasch kann mir sofort eine Antwort geben“. Kurze Wege. Vor allem vertraute. Mischa nennt den Bruder Sasch, Sascha oder Sanya – „nie Alexander, zu formell“. An der Karriere des Bruders partizipiert er logischerweise sein ganzes Leben, gab immer schon Tipps im Hintergrund. Insofern, sagt Mischa, habe sich für ihn gar nicht so viel geändert, wenn er mit Turnierchefs und Partnern kommuniziert, Beziehungen pflegt und weiter ausbaut.
Mischa Zverev ist von allem ein bisschen
Das Wort Manager mag er nicht, auch wenn er das Business des Bruders inzwischen steuert. Zusammen mit Sergei Bubka junior, dem Ex-Profi und Sohn des früheren ukrainischen Stabhochsprung-Weltrekordlers. Bubka junior, 34 Jahre alt, wie Mischa Vater eines zweijährigen Sohns, gehört quasi zur Familie. Lebt wie die Zverevs in Monaco. Das Motto auch hier: kurze Wege. Alle wohnen nah beieinander. Von seiner Wohnung in einem Altbauhaus ist Mischa per Elektoroller oder E-Skateboard in fünf Minuten beim mehrstöckigen Hochhaus, indem sich das Appartement von Alexander Zverev befindet.
Und wieviel Einfluss hat er auf das Spiel seines Bruders? „Es gibt so viele Bezeichnungen: Tennistrainer, Mentalcoach, Fitnesscoach, Psychologe, Ernährungsberater. Ich bin von allem ein bisschen. Wenn ich gebraucht werde, versuche ich zu helfen“, sagt Mischa. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Das langjährige Team steht nach wie vor, mit Fitnesscoach Jez Green und Physiotherapeut Hugo Gravil. Mentalcoaches gibt es, die Namen werden aber nicht genannt. Die Rolle von Alexander Zverev senior? „Papa ist der Häuptling der Familie“, sagt Mischa. Der Vater plant nach wie vor die Trainingseinheiten, aber man sollte den Einfluss von Mischa, der meistens mittrainiert – und entsprechend fit ist – , nicht unterschätzen. „Wenn Sascha zu mir kommt und mich nach meiner Meinung fragt, weiß er, dass er eine ehrliche Antwort bekommt.“
Mischa Zverev drückt aufs Gaspedal
Zwar sei es wichtig, dass „ich der Bruder bleibe“, er spricht von „tiefer Bruderliebe“ und einem „sehr relaxten und flachsigen“ Verhälnis. Andererseits: Innerhalb des Familienclans drückt Mischa kräftig aufs Gaspedal, wenn es um die Karriere des zehn Jahre Jüngeren geht. Studiert Videos von Sascha, achtet akribisch auf dessen Technik und Beinarbeit, vergleicht sie mit Federer, Nadal und Djokovic. Mischa kennt den Charakter des Bruders exakt, weiß genau, wann er was sagt: „Manchmal dauert es ein, zwei Tage, bis ich Dinge anspreche. Wenn Sascha nicht gut geschlafen hat, brauche ich damit gar nicht zu kommen.“
Was die sportliche Perspektive angeht? „Ich sage ihm manchmal, dass er wie ein junger Kerl spielt. Unglaublich gut, aber er könnte noch viel besser sein.“ Was er damit meint: Es gäbe Spieler in ähnlichen Ranglistenregionen, die sind schon fast komplett. Sascha könne sich in so vielen Aspekten verbessern: Vorhand, Volley, Netzangriffe, Rückhand-Slice. „Wenn er alles um ein paar Prozent verbessert, kann das Ergebnis riesig sein, mehr als die Summe der Einzelteile. Es könnte sein komplettes Spiel auf ein anderes Niveau heben.“
Nervt die ständige Frage nach einem Trainer Boris Becker? „Auf keinen Fall.“ Darüber werde immer offen diskutiert. Man müsse fühlen, wann der richtige Moment ist. „Die Aufgabe im Team muss bei jedem klar definiert sein“, sagt Mischa Zverev. Jetzt mit den Quarantäne-Bestimmungen sei das für Außenstehende kompliziert. Es ist auch der Grund, warum David Ferrer als Coach ausschied. „Er wollte nicht nach Australien reisen, weil er dann seine Familie sechs, sieben Wochen nicht gesehen hätte.“ Völlig nachvollziehbar sei das. „Würde ich das Gleiche, das ich für Sascha tue, für jemand anderen tun? Nie im Leben!“ Einen anderen als den Bruder werde er nie trainieren. „Vielleicht meinen Sohn. Ich kann mich nicht für jemanden emotional verausgaben, der nicht zur Familie gehört. Mir reicht es schon, wenn ich bei Sascha jeden Tag einen Herzinfarkt bekomme.“
Mischas Mission: Besseres Image für den Bruder
Mischas Mission, um den Eurosport-Slogan zu bemühen: den Bruder mit Hilfe der ganzen Familie zum Grand Slam-Champion und zur Nummer eins zu formen. Es gibt noch eine Mission: das zum Teil nicht optimale Image des Bruders zu polieren. Ihn so zu positionieren, wie er ist: „ehrlich, leidenschaftlich, mit einem weichen Herz.“ Aktuell arbeitet man an einer Stiftung. Mehr wird nicht verraten. Nur so viel: „Er liebt Tiere und Familie über alles.“ Man werde ihn in Zukunft viel besser kennenlernen und verstehen. Sein Bruder habe ihm mal gesagt: „Ich wäre gerne der Grund, warum Kinder mit Tennisspielen anfangen.“ Einen Seitenhieb auf den früheren Manager Patricio Apey, von dem man sich vor Gericht trennte, kann sich Mischa Zverev nicht verkneifen, ohne aber den Namen zu nennen: „Sascha hatte nicht die richtigen Helfer, um seine wahre Persönlichkeit zu zeigen.“
Der Zverev-Clan, der Bruder, die eigene Familie mit Frau und Sohn – es gibt noch etwas, das Mischa Zverev umtreibt. Man könnte es Selbstverwirklichung nennen, auch wenn die eng mit dem Family-Business verzahnt ist. Er liest viel, unterhält sich mit Menschen, die in ihrem Bereich top sind. Er bildet sich mit Onlinekursen weiter im Bereich Management und Marketing. Hatte er auch Schulungen, um vor der Kamera gut zu wirken? „Nein!“ Mischa lacht. Er habe das für Eurosport und Tennis Channel zum ersten Mal gemacht und keine Ahnung gehabt, was zu erwarten war. „Die haben mir gesagt: Sei einfach du selbst.“ Das Feedback sei okay gewesen. Mischa sagt: „Wenn ich wieder eingeladen werde, heißt es, es war gar nicht so schlecht.“ Läuft im Moment alles perfekt für ihn und die Zverevs? „Ich würde jetzt noch kein Fazit ziehen. Wir brauchen noch Zeit“, sagt er, „aber im Moment fühlen sich alle wohl.“
Vita Mischa Zverev
Zu Jugendzeiten in Hamburg galt Mischa Zverev als Wunderkind, der regelmäßig ältere Gegner auf Sand panierte. Inzwischen befindet sich der 33-Jährige im Spätherbst seiner Karriere. Der Spielstil des Linkshänders: so oft es geht, ans Netz gehen. Bei den Australian Open 2017 besiegte er die Nummer eins, Andy Murray, und verlor erst im Viertelfinale. Zverev lebt mit seiner Frau Evgenia und Sohn Mischa (2) in Monte Carlo. Karrierepreisgeld: 5,7 Millionen Dollar.New Air Jordans 1 release dates | air jordan outlet app