Michael Stich

ZAHLENSPIELE: Michael Stich im großen tennis MAGAZIN-Interview über die 70er-, 80er-, 90er-Jahre und die Profis von heute.

Michael Stich im Interview: „Der Sport ist größer als die Spieler”

Ein Trip durch die Jahrzehnte mit dem früheren Wimbledonsieger Michael Stich. Über Holzrackets, sein Idol Jimmy Connors, eine Abfuhr von Ivan Lendl und die Bedeutung von Historie.

Erschienen in der 500. tennis MAGAZIN-Ausgabe 6/2021
Fotos: Oliver Hardt

Ortstermin zum Jubiläum. Wir sind zu Gast in der Stiftung von Michael Stich. Für die 70er-, 80er-, 90er- und Nullerjahre haben wir mit Helium gefüllte Zahlen mitgebracht – ein Hauch von Kindergeburtstag. Der Hausherr hat sich auch gut vorbereitet. Das Dress, mit dem er 1992 Olympiasieger im Doppel wurde, hat Stich dabei und seine wichtigsten Rackets: darunter den Fischer Vakuum Pro 98, mit dem er sein letztes Match in Wimbledon 1997, das Halbfinale gegen Cedric Pioline, bestritt, und seinen ersten Holzschläger, den Top Wood von Snauwaert. Den Wimbledonpokal von 1991 bekommen wir nicht zu Gesicht. Er steht in der International Hall of Fame in Newport im US-Bundesstaat Rhode Island. 

Herr Stich, welche Erinnerungen haben Sie an die 70er-Jahre?

Da war ich ja noch ein Kind. Du fängst an, ein gewisses Interesse zu entwickeln. Ich bin ja nie mit der Maßgabe groß geworden: Du wirst jetzt Tennisprofi. Für mich war Tennis immer eine Familiengeschichte. Der Tennisclub war der Ort eines sozialen Treffpunktes. Die Wochenenden wurden mit der Familie auf dem Tennisplatz verbracht. Papa hat Punktspiel gespielt, wir Kinder sind an die Ballwand gegangen, Oma saß auf der Terrasse und hat Kaffee getrunken. Das war schon sehr besonders, weil es unheimlich viel Familienzeit war. 

Wie müssen wir uns Ihren ersten Club vorstellen? 

Der Lawn Tennis Club in Elmshorn ist einer der ältesten Clubs in Deutschland, 1896 gegründet. Es gab aber keine Rasenplätze. Man orientierte sich beim Namen Lawn an England, dem Ursprungsland des Tennissports. Als Kind nimmst du diese Historie natürlich nicht wahr. Wir spielten meistens auf Platz zwei. Auf die anderen sieben Plätze, die Erwachsenenplätze, durften wir nicht. Aber wenn wir auf der Anlage waren und ein Platz nicht gebucht war, dann sind wir immer da drauf und haben gespielt. Man hat den ganzen Tag mit Kumpels im Club verbracht. 

Was war das für ein Lebensgefühl? Holzschläger, weiße Bälle. Tennis war noch kein Volkssport.

Es war damals ein eher elitärer Sport. Wenn du Mitglied in einem Tennisclub warst, war das etwas Besonderes. Ich habe zum Teil die Bekleidung meiner älteren Brüder aufgetragen. Da war kein Geld, um jedem das perfekte Tennisoutfit zu kaufen. Natürlich fand man das Stirnband von John McEnroe toll oder man wollte das Schweißband von Björn Borg unbedingt haben, kleine Dinge. Einen eigenen Schläger für uns Kinder gab es nicht. Die waren damals teuer. Wir tauschten die Rackets hin und her. 

Welcher war Ihr erster Schläger?

Der erste Schläger, an den ich mich bewusst erinnere, war ein Top Wood von Snauwaert. Danach kam der Bryan Gottfried vom gleichnamigen Profi, den ich geschätzt habe, von seiner Art zu spielen. Mit 13, 14 bekam ich meinen ersten Vertrag von einem lokalen Sportgeschäft. Man stellte mir drei Holzschläger zur Verfügung. Als sie frisch verpackt geliefert wurden, war das wie Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag, da war ich stolz wie Bolle. Die Schläger habe ich gehegt und gepflegt.

Wie haben Sie damals die große weite Tenniswelt verfolgt?

Meine Eltern haben selbst erst spät mit Tennis angefangen. Als ich anfing zu spielen – Mitte der 70er – , war das die Zeit von Björn Borg und Jimmy Connors, später John McEnroe. Das habe ich schon sehr bewusst wahrgenommen. Ich habe zu der Zeit gleichzeitig Fußball gespielt. Die 74er-Weltmeistermannschaft in Deutschland war die erste, die ich im Fernsehen erlebt habe. Als wir zehn oder elf waren, haben wir  die Wimbledonfinals nachgespielt. Einer war McEnroe, einer Borg. Am Rothenbaum habe ich viele Profis dann zum ersten Mal live gesehen.

Wie war das am Rothenbaum, dem Ort, der später eine große Rolle in Ihrem Leben spielen sollte? Sie haben oft erzählt, dass Sie sich auf die Plätze schlichen.

Auf den Centre Court, das stimmt. Für die Außenplätze hatten wir immer Karten. Ich weiß, dass mein Bruder damals auf M1 unbedingt ein Autogramm von Manuel Orantes haben wollte. Er ist dann runter zu seiner Bank und hat es auch bekommen. Eines meiner Vorbilder hieß Peter McNamara. Die Art wie er Tennis gespielt hat, hat mich total angesprochen. Er spielte typisch australisch, Serve-and-Volley. Ganz einfach, aber unglaublich effektiv. 

Michael Stich

70er Jahre: Stich wuchs im Lawn Tennis Club in Elmshorn auf, bestritt seine Matches mit einem Top Wood-Holzschläger von Snauwaert und schwärmte für Jimmy Connors.

Wie erfolgreich waren Sie als Junior?

In der Jugend war ich nicht besonders erfolgreich. Ich weiß nicht mal, wann ich das erste Mal Kreismeister wurde. 1984 war ich Landesmeister in Schleswig-Holstein, da war ich 15. Aber ich hatte nie eine Runde bei der deutschen Jugendmeisterschaft gewonnen. Ich habe immer die erste Runde im Hauptfeld und in der Trostrunde verloren. Wenn du verloren hast, musstest du schiedsen. Das war der Albtraum.

Was waren Sie für ein Typ auf dem Platz? Nach dem Match auch mal geweint?

Einmal habe ich nach einem Match meinem Gegner die Hand nicht gegeben, weil ich so frustriert und enttäuscht war. Bei einem anderen Match – ich glaube, es war die Clubmeisterschaft – habe ich mit den Fäusten auf den Boden getrommelt. Ich lag auf der Asche und habe geheult wie ein Schlosshund. Ich war sehr leidenschaftlich und sehr emotional. Vielleicht auch geprägt durch Spieler wie McEnroe oder Connors. Jimmy Connors war mein großes Vorbild zu der Zeit. Mir ging es schon als Kind ums Gewinnen. Ich habe nicht nur gespielt, weil es Spaß macht. 

Warum Connors? 

Ich fand den Schläger super, mit dem er gespielt hat, diesen Metallschläger. Er spielte völlig anders als die anderen, war Leftie. Mich faszinierte dieses ‘Nicht aufgeben bis zum letzten Punkt’.  Er verfügte vielleicht nicht über die beste Technik, aber er hatte unglaublich viele Facetten in seinem Spiel, diese Kämpfer-Leidenschaft und den unbändigen Willen. Das ist immer noch sehr präsent für mich, auch wenn im Fernsehen damals wenig gezeigt wurde. Halbfinale und Finale in Wimbledon im Öffentlich-Rechtlichen. Sonst gab es nicht viel Tennis in den Medien. 

Lassen Sie uns in die 80er-Jahre eintauchen. In Wimbledon gab es das Duell Borg gegen McEnroe. Für wen waren Sie? 

Das Kreative, Spielerische und Emotionale, das McEnroe hatte, entsprach eher meinem Naturell und war meinem Spiel näher. Faszinierend bei Borg war diese stoische Ruhe auf dem Platz. Es waren solche Kontraste zwischen den beiden. Man konnte sich von jedem etwas rauspicken.

Hätte Ihnen damals jemand gesagt, mit John McEnroe werden Sie einmal Wimbledon im Doppel gewinnen – wie hätten Sie reagiert?

Völlig undenkbar. Wimbledon war für mich die große weite Welt, eine Traumwelt. Ich lebte in meiner eigenen Welt im heimischen Club. London war unerreichbar.

In Deutschland begeisterten sich schon vor Beckers Wimbledonsieg 1985 immer mehr Menschen für Tennis. Wie haben
Sie diesen Boom erlebt?

Borg war der erste Popstar. Er war plötzlich viel mehr als ein Sportler. Hätte es damals soziale Medien gegeben, hätte er wohl Hundertmillionen Kontakte gehabt. Die Art, wie er auftrat, hat Interesse geweckt, bei den Medien, bei den Menschen. In Deutschland war Michael Westphal der Erste, der auffiel: extrovertiert, groß, ein Lebemann. Noch vor Boris’ Zeit hat man gemerkt, dass sich der Tennissport öffnet. Für mich und meine Familie war es zu der Zeit immer noch unvorstellbar, dass das ein Job sein kann. Am Rothenbaum spielten Hans-Jörg Schwaier, Peter Elter und Christoph Zipf. Als ich in der Tennis-Bundesliga gegen diese Spieler spielte, war diese Welt plötzlich nicht mehr ganz so weit weg.

Inwiefern?

Es gab auf einmal deutsche Profis. Wilhelm Bungert und Karl Meiler waren früher eher die Ausnahme. Plötzlich gab es sechs, sieben Deutsche, die unter den ersten Hundert der Welt standen. Man dachte: ‘Guck mal, es gibt auch Deutsche, die können oben mitspielen.’ 

Wann wurde man auf Ihr Talent aufmerksam?

Einer meiner größten Förderer war Herby Horst, Verbandstrainer in Schleswig-Holstein, der schon früh etwas in mir sah. Die wirkliche Aufmerksamkeit entstand 1986, als ich in Essen deutscher Jugendmeister wurde. Da wusste ich, dass ich ganz gut Tennis spielen kann. 1987 habe ich ein Jahr lang bei Klipper Hamburg Bundesliga gespielt. Da meinte Milan Hostinsky, der Michael Westphal und Ricki Osterthun trainierte: ‘Du kannst ja mal Tennisprofi werden.’ Für mich war es aber auch da noch schwer vorstellbar.

Es kam anders. Woher der Sinneswandel?

Als deutscher Jugendmeister durfte ich zu den US Open, zum Juniorenturnier. Das war mein einziger Junior-Grand Slam. Ich verlor zwar in der ersten oder zweiten Runde gegen Jeff Tarango, aber dachte: ‘Mensch, das ist irgendwie toll. Für Tennis nach New York fliegen, schulfrei bekommen.’ Zu der Zeit hatte Boris schon Wimbledon gewonnen, Steffis Erfolge fingen gerade an. Die internationale Tenniswelt war in Deutschland angekommen. Wir hatten absolute Weltstars, das hat mich zusätzlich motiviert.

Michael Stich

Stichs Rackets: Vom Top Wood von Snauwaert über den Brian Gottfried zum Vakuum Pro 98 von Fischer (gelb).

Die meisten älteren Deutschen wissen genau, was sie an dem Tag taten, als Becker 1985 zum ersten Mal in Wimbledon siegte.

Ich habe keine Ahnung. Da war ich 16. Ich bin mir sicher, dass es bei uns im Tennisclub geguckt wurde, aber ich kann wirklich nicht sagen, ob ich es gesehen habe oder nicht. 

Das glauben wir Ihnen nicht. 

Es war aber so. Als tennisbegeisterter, junger Mensch fand ich es toll, dass es zwei junge Menschen gibt, die riesige Erfolge feiern. Aber es war nicht so, dass ich deshalb Profi werden wollte. Das war in dem Alter nicht meine Vorgabe. Ich ging ganz normal zur Schule.

Aber plötzlich war eine Nation im Ausnahmezustand. Für den Davis Cup wurden Sendungen verschoben. Bundespräsident Richard von Weizsäcker kam ins Aktuelle Sportstudio und fachsimpelte mit Boris Becker.

Diesen Boom hat man wahrgenommen, aber die Dimension war einem nicht bewusst, was es eigentlich bedeutet, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender das Heute-Journal ausfallen lässt. Da passierte zwar etwas ganz besonders Großes, aber es hatte in dem Moment noch keinen Einfluss auf mein eigenes Leben. 

Wie würden Sie rückblickend dieses Jahrzehnt einordnen mit der weltpolitischen Entwicklung und den immensen Erfolgen im Sport?

Ich glaube, dass es ein besonderes Jahrzehnt war, weil es, vor allem auf meinen Sport bezogen, diese Einzigartigkeit der Erfolge gab. Fußball war ja immer schon groß. Vor dem Mauerfall war der DDR-Sport wahnsinnig erfolgreich. Aber es gab die Distanz zur damaligen DDR, dieses „Sich-Messen“ zweier Länder mit einem komplett unterschiedlichen politischen System, die dennoch eine Nation sind. Das war im Rückblick sehr besonders. Wobei Tennis in der DDR keine Rolle spielte. Es gab Thomas Emmrich als Aushängeschild. Weltweit wurde Tennis dynamischer, athletischer. Als ich Ende der 80er Profi wurde, änderte sich das Schlägermaterial. Es gab Graphit-Schläger, gelbe Bälle.

1991 gewannen Sie sensationell in Wimbledon. Ihre Quoten in den Wettbüros standen zu Beginn des Turniers bei 80:1. 

Vor Paris lagen sie wahrscheinlich bei 100:1. Ich habe damals Nachrichten von Menschen bekommen, die auf mich gesetzt und damit Geld verdient hatten. 

Sie besiegten auf dem Weg zum Titel drei Grand Slam-Sieger in Folge: Jim Courier, Stefan Edberg und Becker. Kaum zu glauben, oder?

Man darf nicht vergessen: Ich hatte vorher das Halbfinale bei den French Open gespielt. Wir hatten da schon die historische Chance, das erste rein-deutsche Grand Slam-Finale zu spielen. Ich verlor gegen Courier, Boris gegen Agassi. Als ich nach Wimbledon kam, war ich schon die Nummer 7 in der Welt und sogar an sechs gesetzt. Ich war kein Titelanwärter, aber wusste gerade nach Paris und auf Rasen, den ich mochte, da kann ich gut spielen. In Erinnerung ist mir auch geblieben: Es war das verregnetste Wimbledon überhaupt in der Geschichte. Mein erstes Match habe ich gegen Dan Goldie am Montag angefangen und am Donnerstag zu Ende gespielt. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass der mittlere Sonntag gespielt wurde, mit Cliff Richard auf der Tribüne, der Ständchen gab. In der zweiten Woche stiegen die Temperaturen, es wurde total heiß. Gegen Alexander Volkov im Achtelfinale auf dem ehemaligen Platz 2 war ich fast draußen. Bei 5:3 im fünften Satz serviert er zum Match. Bei 30:30 fällt mein Netzroller auf die Linie und ich mache das Break. Ich glaube, das war eine Initialzündung. Und dann lief es halt.

Ihr Preisgeld? 

Ich glaube 500.000 Dollar. Ich habe irgendwann mal mit Bob Hewitt und Frew McMillan, die viele Jahre für die BBC arbeiteten, über Preisgeld gesprochen. In den 60er-Jahren gewannen sie in Wimbledon das Doppel und bekamen 20 Pfund und einen Essensgutschein. Für mich war das Preisgeld natürlich schön, aber in dem Moment eher sekundär. 

Michael Stich

Wichtige Einordnung: Stichs Credo lautet, dass man die Historie nie vergessen darf. „Unsere Generation hat der Generation Borg/McEnroe und auch den Spielern davor um Rod Laver, die dazu beigetragen haben, dass Tennis ein Profisport wurde, unfassbar viel zu verdanken.“

Wie gefiel Ihnen Ihr Dress?

Ich muss leider sagen, es war eines der hässlichsten Outfits, das ich jemals getragen habe, mit diesen schwarzen Streifen von Rebook, was hart an der Grenze war, weil Wimbledon überwiegend weiß ist. Der Tennissport war damals ja noch eher klassisch, immer Polo- oder Pikee-Hemd. Die Shorts waren kurz und eng. Die Socken wurden hochgezogen. 

War der Wimbledonsieg eine Zäsur für Sie? Becker spricht von seiner zweiten Geburt. 

Wimbledon war das i-Tüpfelchen, der letzte Schritt zu wissen, du stehst nicht nur da oben, sondern bist Welt-spitze, weil du das wichtigste Turnier der Welt gewonnen hast. Und dann auch noch gegen Courier, damals French Open-Sieger, Edberg Wimbledon-Sieger, Boris Wimbledon-Sieger, alles Nummer-Einsen, wo ich mir  sagte: Viel mehr geht dann auch nicht. Und für die mediale Aufmerksamkeit war das logischerweise der Startschuss. 

Stefan Edberg hat im Halbfinale beim 6:4, 6:7, 6:7, 6:7 nicht einmal seinen Aufschlag verloren. Was hat er Ihnen später dazu gesagt?

Wir haben nie darüber gesprochen und ich weiß auch nicht, ob wir es jemals tun werden. Aber wenn man sich das Match heute anguckt, sieht man, wie perplex er war. Er wusste gar nicht, was passiert ist.

War die Zeit danach wie ein Rausch: alle deutschen Turniere gewonnen, ATP-Weltmeister, Davis Cup-Sieger, Olympia-Gold mit Becker 1992 in Barcelona? Sie galten ja immer als der kontrollierte Norddeutsche.

Nein, bin ich nicht. Da wurde so ein Image kreiert. Ich bin alles andere als das. Wie emotional ich bin, hat sich auf dem Platz oft genug gezeigt.

Also doch ein Rausch?

Es war kein Rausch, aber irgendwann ein Traum, den man lebt, der aber auch gepaart war mit einer hohen Erwartungshaltung, die ich selbst und auch die Fans an mich hatten. Ich habe mich am Anfang sehr schwer damit getan, in Deutschland zu spielen, weil ich genau dieser Erwartungshaltung der Fans nicht gerecht werden konnte. Die Missfallens-Äußerungen, wenn ich schlecht spielte, habe ich immer sehr persönlich genommen. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass das nie gegen mich gerichtet war. Die Fans waren eher traurig, weil ich nicht mein bestes Tennis gespielt habe. Deren Unmut war eigentlich mein Unmut, den sie aber artikulierten. Als ich das verstanden habe, fing ich an, in Deutschland gerne und sehr erfolgreich zu spielen.

Die Becker-Stich-Konkurrenz ist Legende. Wie war das für Sie?

Die Becker-Fans waren immer für Boris, die waren ja nicht gegen mich. Und die Stich-Fans waren für mich, aber nicht gegen Boris. Das ist genau die Art der Betrachtung, die einen ganz großen Unterschied macht. 

Die 90er-Jahre waren gespickt mit Stars: Edberg, Sampras, Agassi, Stich, Becker, Ivanisevic, Courier. Gab es Freundschaften?

Bei den Australian Open 1990 begriff ich zum ersten Mal, dass es eine Gruppe von Topspielern gibt und die anderen. Ich ging in die Kabine und landete in dem Bereich, wo die gesetzten Spieler waren. Ich suchte mir einen Schrank aus. Plötzlich stand Ivan Lendl vor mir und fragte: ‘Was willst du hier?’ Und ich sagte: ‘Ich will einen Platz.’ Er meinte: ‘Bevor du hier rein darfst, musst du erstmal ein bisschen was gewinnen.’ Ich hatte verstanden. Ein Jahr später, ich hatte in Adelaide und Sydney jeweils im Finale gespielt, war das kein Thema mehr. Mit Topleuten wie Courier, Richard Krajicek oder Wayne Ferrera, mit dem ich teilweise Doppel spielte, habe ich mich gut verstanden. Das waren Freundschaften geprägt von gegenseitigem Respekt. Wir hatten einen ähnlichen Intellekt und Interesssen, bei denen es nicht nur um Vor- und Rückhand ging.

Eines der bekanntesten Fotos der tennis MAGAZIN-Geschichte ist der Kniefall von Hamburg von unserem früheren Fotografen Jochen Körner. Haben Sie das Foto bewusst wahrgenommen?

Das habe ich gerne wahrgenommen (lacht). 

Sie siegten 6:1, 6:1 gegen Becker. Wie sind Ihre Erinnerungen an diese Szene?

Es war ein langer Ballwechsel. Ich spiele einen Volley, halb Rahmen, halb Saite, der erst auf die Netzkante und dann auf seine Seite fiel. Das Gefühl war: Gib’ mir ’ne Bratpfanne oder einen Tischtennisschläger – das ist Wurst, alles gelingt. Das war einer dieser Tage. Strahlender Sonnenschein, das nicht ganz neue Stadion, ohne Dach, alles offen. Es war schön. 

Mit dem Ende der 90er-Jahre trudelten die großen Karrieren aus: Becker, Graf, Stich. Danach fehlten die großen Erfolge.

Es fehlten die großen Titel, aber wir hatten Tommy Haas, Nicolas Kiefer und etwas später Rainer Schüttler. Das war eine Generation, die wirklich erfolgreich war, alles Top Ten-Spieler. Der Sport hatte sich nochmal verändert. Die Athletik, das Körperliche spielte eine immer größere Rolle. Die Profis waren fokussierter auf ihren Sport. Damit fehlte etwas die Leichtigkeit. Ich war immer ein Fan von Kiefer, der aus meiner Sicht das größte Potential hatte und ein Grand Slam-Turnier hätte gewinnen können. Auch den Davis Cup hätte man mit der Mannschaft locker holen können. Der Sport wurde egoistischer. Wir waren auch egoistisch, aber beim Davis Cup fehlte der nachfolgenden Generation der Teamgedanke.

Ab dem Jahr 2000 sanken beim DTB die Mitgliederzahlen. Es wurde weniger Tennis im Fernsehen gezeigt. Wie haben Sie die Entwicklung empfunden?

Ich vergleiche das gerne mit der Formel-1. Michael Schumacher war die Lichtgestalt in den 90er-Jahren und zu Beginn der 2000er. Ein Sebastian Vettel ist uneingeschränkt ein exzellenter und wahnsinnig erfolgreicher Formel-1-Fahrer. Vettel könnte aber auch noch viermal Weltmeister werden, er wäre immer noch nicht Michael Schumacher. Michael hat diesen Sport groß gemacht, weil er bei den Menschen ein großes Interesse für eine Sportart geweckt hat, die nicht zwangsläufig eine Volkssportart war. Es haben in der Spitze vermutlich zehn Millionen Fans und mehr vor dem Fernseher gesessen und seine Rennen verfolgt. Im Tennis war es genauso. Tennis war eine elitäre Sportart. Boris und Steffi haben angefangen, es in Deutschland zu einem Volkssport zu machen. Dazu veränderte sich die Medienlandschaft. Das Internet kam langsam auf, es wurde über viele Sportarten berichtet, in denen die Deutschen erfolgreicher waren als im Tennis. Ich war immer der Ansicht, wären die Spieler noch erfolgreicher gewesen und hätten sie den Fans mehr Einblick in ihre Persönlichkeit gegeben, hätte Tennis eventuell eine größere Ausmerksamkeit bekommen können. Es ist eine Wechsel­wirkung.

Michael Stich

Die 2000er: Zu Beginn des Jahrtausends fehlten Stich die großen Tennispersönlichkeiten. Folge: Die mediale Aufmerksamkeit ließ nach.

Erklären Sie das bitte.

Zu unserer Zeit gab es eine Breite in der Spitze, die von vielen Grand Slam-Siegern geprägt war. Wir hatten einen Sampras, Agassi, Courier, Becker, Edberg, Stich, Ivanisevic – alles Typen. An Goran haben sich die Leute gerieben. Dieses ‘mag ich’, ‘mag ich nicht’, ‘der ist bekloppt’ oder ‘der ist genial’. Das ging verloren. Spieler wie Lleyton Hewitt, Juan Carlos Ferrero oder Carlos Moya waren exzellente Tennisspieler, aber als Persönlichkeiten haben sie nicht viel von sich preisgegeben. Das meine ich mit Wechselwirkung, die medial transportiert dem Sport zu mehr Aufmerksamkeit verhilft. Irgendwann ging es immer mehr nur um Tennis. Jetzt auch. Es geht um historische Erfolge, weniger um die Menschen. Was weiß ich heute über Nadal, Federer oder Djokovic? 

Es ist Ihnen zu glatt? 

Man bekommt das Gefühl, dass Tennis eine heile Welt ist und alle miteinander befreundet sind. Mir persönlich fehlt die Authentizität der Spieler auf dem Platz. Das, was ihren Charakter ausmacht, echte Gefühle und Reaktionen. Ich erinnere mich an eine Szene, als Marcos Baghadtis bei den Australian Open in der ersten Runde verloren hat und nicht über sein Match berichtet wurde, sondern nur darüber, dass er auf dem Platz vier Schläger zertrümmert hat. Das tauchte in allen Nachrichtensendungen auf. Es beschreibt, worum es neben der Leistung im Sport auch geht. Nämlich nicht nur um historische Erfolge, wer die meisten Wochen die Nummer eins war. Der Fan will Emotionen sehen. Bei Federer, Nadal und Djokovic, unbestritten die größten Tennisspieler aller Zeiten, fehlt mir das zuweilen. 

Herr Stich, wir haben über fünf Jahrzehnte Tennis gesprochen. Wie fällt Ihr persönliches Fazit aus?

Ich finde es spannend, dass es nach Zverev, Tsitsipas und anderen schon die nächste Generation mit tollen Spielern gibt. Das sind interessante Charaktere – Karatsev, Sinner, Musetti. Aber beim Blick in die Zukunft sollte man die Vergangenheit nicht vergessen. Unsere Generation hat der Generation Borg/McEnroe und auch den Spielern davor um Rod Laver, die dazu beigetragen haben, dass Tennis ein Profisport wurde, unfassbar viel zu verdanken. Wir wären nie in der Lage gewesen, den Sport so zu betreiben und auch das Geld zu verdienen, hätte es die Spieler vor uns nicht gegeben. Das ist bei späteren Generationen genauso. Hätte es Sampras, Agassi, Becker und wie sie alle heißen, die den Sport durch ihre Persönlichkeiten, ihre Aura, ihre Art des Seins nach vorne brachten, nicht gegeben, hätten die Spieler heute nicht das, was sie haben. Ich finde es ein bisschen schade, dass vielen diese Verbindung fehlt. Es geht nicht um den einzelnen Spieler, sondern es geht um den Sport. Ich werde oft gefragt, wer ist der Beste aller Zeiten? Das ist alles toll und es ist für jeden ein Ziel, der da oben steht, Rekorde zu brechen. Aber eines ist immer klar: Keiner dieser Spieler ist jemals größer als der Sport. Der Sport mit seiner Historie steht über allem. Diese Haltung fehlt mir ein bisschen in unserer schnelllebigen Zeit. Ich bin dankbar, dass ich nicht mit Facebook, Twitter und Instagram groß geworden bin und ich bin dankbar, dass ich nicht in den 70ern den Weg ebnen musste, sondern genau dazwischen Profi war. In einer der großartigsten Zeiten, die es im Tennis jemals gab. 

Vita Michael Stich

Der Elmshorner (Jg. 1968) gilt nach Boris Becker als der erfolgreichste deutsche Tennisprofi. 1991 siegte er in Wimbledon. Insgesamt gewann er 18 ATP-Titel, darunter alle deutschen Turniere auf allen Belägen. Bestes Ranking: Platz zwei. Karriere-Preisgeld: 12,6 Millionen Dollar. Nach der aktiven Karriere machte er sich einen Namen als Turnierdirektor der German Open in Hamburg (2009 bis 2018). Stich ist verheiratet mit der Dressurreiterin Alexandra Rikowski. men’s jordan upcoming releases | mens jordan release dates