TENNIS-DAVIS-FRA-GER

Wunder von Nancy

Felix Grewe, Nancy

Es gibt Momente, in denen sich die Gänsehaut bis zum Ohrläppchen zieht. Wenn knapp 6.000 französische Fans singen, jubeln und trampeln wie in einem Fußballstadion und man selbst mittendrin sitzt in diesem Spektakel. Wenn unten auf dem Court ein Außenseiter gegen einen der Großen spielt ja, David gegen Goliath, der Vergleich passt mal wieder. Wenn der Underdog von Krämpfen geplagt über den Court humpelt wie ein um im Bilde zu bleiben Mittelfeldregisseur, der gerade vom gegnerischen Verteidiger zusammengetreten wurde.
Freitagabend gegen 19:30. Oder doch schon 20:00 Uhr? Egal, es gibt Wichtigeres. Peter Gojowczyk, Nummer 119 der Welt, hat gerade den vierten Satz im Tiebreak gegen Jo-Wilfried Tsonga, Nummer zwölf,  gewonnen. Ein paar Minuten zuvor wehrte er zwei Matchbälle des Franzosen ab. Spielstand: 5:7, 7:6, 3:6, 7:6. Der fünfte Satz beginnt.

Eigentlich schon jetzt unfassbar. Egal, wie die Kiste hier ausgeht. Dass Tobias Kamke das erste Einzel gewinnt, war für mich schon so unwahrscheinlich, wie einen Franzosen zu treffen, der kein Croissant mag. Aber jetzt auch noch dieser Gojowczyk? Nein, nein, der kann das nie gewinnen. Tsonga ist ein Topmann, auch wenn er nicht richtig austrainiert wirkt. Wenn es drauf ankommt, kann er noch einen Gang hochschalten. Und Gojo wird gleich das Zitterhändchen spüren, das ist sicher. In New York hatte er doch letztes Jahr erzählt, er sei selbst vor Gesprächen mit der Presse tierisch nervös. Ein frühes Break, dann ist das Ding hier relativ schnell durch. Rund läuft der Deutsche ohnehin nicht mehr.
2:1 Gojowczyk im fünften. Er schlägt noch immer extrem gut auf, auch nach mehr als dreieinhalb Stunden Spielzeit. 210 km/h und mehr sind kein Problem für den 24-Jährigen. Er spielt aggressiv, selbstbewusst, mutig. Wie einer, dessen Heimat normalerweise die Challenger-Turniere sind, wirkt er beileibe nicht. Tsonga muss sich meist ein bis zwei Meter hinter der Linie bewegen, Gojowczyk agiert manchmal sogar einen halben Schritt im Feld. 30:40 bei Aufschlag Tsonga, Breakball für den Deutschen zum 3:1. Der Franzose serviert mit Kick nach außen. Gojowczyk trifft die Rückhand nicht richtig, der Ball landet einen halben Meter neben der Seitenlinie. Plötzlich schreit Gojo auf, sackt zusammen, kniet vor Schmerzen im Doppelfeld. Teamchef Carsten Arriens läuft zu seinem Schützling. Es vergehen ein, zwei, drei bange Minuten bis Gojowczyk langsam wieder zur Einstandseite humpelt.

Wie bitter wäre jetzt eine Aufgabe? Junge, zieh das Ding irgendwie durch und wenn du 2:6 vom Platz gehst, wurscht. Ein Held bist du heute ohnehin. Fünf Sätze gegen Tsonga beim Davis Cup-Debüt wahnsinn. Ein 1:1 nach dem ersten Tag ist eh mehr als jeder erwartet hat. Warum müssen die französischen Fans jetzt eigentlich pfeifen? Mensch Leute, ihr macht eine geile Stimmung, aber das ist doch völlig unnötig, Davis Cup hin oder her.

Eine Dreiviertelstunde später: Gojowczyk spielt und spielt und spielt. Teilweise mit dem Mut der Verzweiflung und dem Versuch, die Ballwechsel so kurz wie möglich zu halten. Aufgabe? Fehlanzeige. Gedanken an Chang gegen Lendl 1989 in Paris kommen auf. Oder an Korda gegen Sampras, 1993 beim Grand Slam Cup in München. Das Beeindruckende: Gojowczyk kämpft sich bei seinen Aufschlagspielen immer wieder zurück, zig Mal liegt er 0:30 hinten und dreht das Spiel noch. 6:6. Tiebreak? Nein, wir sind hier beim Davis Cup!

20:45: SMS eines Kumpels aus Hamburg, auch so ein Tennis-Nerd. Gojowczyk verlor zuletzt fünf Matches. Rankings der Gegner: #288, #214, #176, #138, #308. Ist eigentlich ne Flachzange. Aber jetzt fünfter Satz vs. Tsonga, Hammer! Recht hat er. Die Flachzange ist zwar entschieden zu hart, aber sein Auftritt sprengt alle Erwartungen. Wie macht der das eigentlich? Ich versteh’s nicht…

Kurz nach 21 Uhr. Dritter Matchball für Peter Gojowczyk. Zwei hatte er schon bei 5:4. Zweimal servierte Tsonga ein Ass. Diesmal kommt der Deutsche in den Ballwechsel. Die Kugel rauscht ein paar Mal hin und her. Dann landet eine Vorhand von Tsonga im Netz. 5:7, 7:6, 3:6, 7:6, 8:6. Peter Gojowczyk schreit, reißt die Arme kurz in die Luft. Für einen richtigen Freudentanz fehlt ihm die Kraft. Spielzeit: 4:19 Stunden. Die französischen Fans in der Halle sind still wie auf einer Beerdigung. Gojowczyk und Teamchef Arriens liegen sich in den Armen. Fließen sogar Tränen? Man erkennt es von der Pressetribüne schlecht. Deutschland führt mit 2:0 in Nancy.

Verrückte Welt! Eigentlich sollte dieser Trip nach Nancy sportlich doch völlig unbedeutend werden. Ein Neuanfang mit einem jungen Team, das wacker kämpfte aber chancenlos unterging. So sollte die Story aussehen. Dazu natürlich ein wenig bohren, wie es mit den alten Streithähnen weitergeht. Plötzlich spielen die Jungs ums Erreichen des Halbfinals irre! Was macht wohl Philipp Kohlschreiber gerade? Ach, egal… 
Kurz vor 22:00 Uhr. Während der neue deutsche Davis Cup-Held noch unter der Dusche steht, kommt Teamchef Carsten Arriens zur Pressekonferenz mit Rucksack und Schläger auf dem Rücken. Wir führen mit 2:0, aber es fühlt sich immer noch so an, als ob die Begegnung kaum zu gewinnen ist, gesteht er. Sein Blick ist leer aber glücklich. Etwas überrumpelt von dieser Führung wirkt er. Arriens erzählt, wie er die Spieler unter der Woche auf die Matches vorbereitet hat, in Einzelgesprächen aber auch in großen Runden mit der gesamten Mannschaft. Für mich haben diese Wochen im Team eine wichtige Bedeutung, sagt er. Worte, denen man nach den Querelen der letzten Wochen und Monate besonders lauscht. Dass Tommy Haas und Philipp Kohlschreiber gar nicht gefehlt hätten, stellt ein Reporter fest. Nächste Frage, bitte, kontert Arriens. Schon klar, auf dieses Thema hat er am späten Abend gar keine Lust diesmal verständlich.

Und Peter Gejowczyk? Der setzt sich einige Minuten später auf den gleichen Stuhl, auf dem zuvor sein Kapitän Platz nahm. Es ist ein unglaubliches Gefühl stammelt er. Im fünften Satz sei es das Wichtigste gewesen, dass ich atme. Er lacht. Ich mache nachher noch ein schönes Eisbad. Und dann werde ich spät ins Bett gehen. Aber morgen bin ich ready fürs Doppel sagt er und ergänzt: „Aber nur zum Zugucken natürlich!

Vielleicht folgt dann das nächste Wunder…

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