Mischa Zverev über Serve-and-Volley: „Du willst den Rhythmus des Gegners zerstören”
Serve-and-Volley als Philosophie. Mischa Zverev im Gespräch mit tennis MAGAZIN über die Schwierigkeit, nach vorne zu stürmen und warum es trotzdem ein Riesenspaß ist.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 4/2022
Herr Zverev, was zeichnet Serve-and-Volley aus?
Die Idee dahinter ist: Du gibst dem Gegner keinen Rhythmus und erzwingst eine Entscheidung. Jeder Schlag ist entscheidend. Bei mir war es so: Ich habe angefangen, Serve-and-Volley zu spielen, weil mein Grundlinienspiel nicht gut genug war. Meine Vorhand war nicht gut. Ich bin meiner Schwäche ausgewichen, indem ich ans Netz gelaufen bin. Früher war es auf Rasen von hinten komplizierter als am Netz. Also ist man nach vorne gerückt. Die Bälle flogen langsamer durch die Luft, das heißt, das Passieren war schwieriger, man hatte mehr Zeit als Volleyspieler. Beim Volley sprang der Ball auch nicht so gut ab und rutschte richtig über den Platz weg, was es für den Grundlinienspieler schwierig machte. Deswegen war es die logische Taktik für viele Tennisspieler.
Warum sind langsame Bälle ein Vorteil für den Volleyspieler?
Die alten Schlägersaiten und die Technik haben dafür gesorgt, dass der Ball langsamer durch die Luft flog, mit weniger Spin. Wenn du am Netz warst, kam der Ball direkt auf dich zu. Heutzutage, wenn Rafa eine Vorhand spielt, dann hat die nicht nur einen Spin, bei dem der Ball extrem rotiert, er hat auch noch so eine seitliche Bananen-Kurve. Für einen Volley-Spieler ist es dann viel komplizierter, den Ball sauber zu treffen. Früher waren die Plätze im Durchschnitt sehr schnell, vor allem in der Halle. Bei Hartplätzen mischt man ja Farbe, Wasser und Sandkörner. Das ist heute wie richtig grobes Schmirgelpapier, was den Ball verlangsamt. Früher flutschte der Ball einfach durch, was beim Volley hilft. Die Rasenplätze waren schneller, aber hatten auch eine schlechtere Qualität. Du musstest dich nicht mit Platzfehlern beschäftigen, wenn du einfach nach vorne gestürmt bist.
Aber dann hat sich alles geändert.
Ja, es gab diese Revolution in den 1990er-Jahren, die Schlägerflächen wurden größer. Michael Chang und Andre Agassi spielten mit riesigen Pfannen. Das Grundlinienspiel wurde einfacher. Der Ball saß oft in der Mitte des Schlägers. Du hattest mehr Power, konntest mit mehr Spin spielen. Neben den Plätzen wurden auch die Bälle langsamer. Früher spielten sich die Bälle nach einer gewissen Zeit wie Flummis. Der Filz ging ab und die Bälle wurden richtig schnell. Heute ist es eher das Gegenteil. Die Bälle werden flauschig. Sie sind auch ein bisschen größer. Dadurch hat sich das ganze Spiel verändert. Und klar: Die Spieler sind athletischer geworden.
Wie wirkt sich das aus?
Die Grundschläge sind schneller geworden. Die Spieler werfen ihr ganzes Körpergewicht in jeden Schlag. Bei fast jeder Vorhand befindet sich Rafa in der Luft. Früher bekam man beigebracht, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Heute fliegt der Ball mit einer größeren Kurve durch die Luft und teilweise auch schneller, aber nach dem Aufspringen verlangsamt er sich.
Der Gegner an der Grundlinie hat mehr Zeit?
Genau. Das macht das Volleyspiel viel komplizierter. Du musst schneller reagieren, mit anderen Winkeln und anderen Flugbahnen rechnen. Als Grundlinienspieler hast du viel mehr Optionen heutzutage. Federer zum Beispiel kann mich kurz cross passieren, er kann mich schnell cross passieren, er kann mich abschießen durch die Mitte, er kann kurz longline spielen auf die Füße, er kann aber auch schnell longline spielen oder Lobs einsetzen.
Klingt nach Harakiri, ans Netz zu stürmen.
Ein bisschen ist es so, weil der Grundlinienspieler so viele Optionen hat. Am Netz hat sich aber nichts geändert, du hast immer noch den Vorhand-Volley und den Rückhand-Volley. Den kannst du nicht auf einmal mit mehr Spin spielen. Der ist so wie er früher war, gerade und mit ein bisschen Slice gespielt. So richtig kann man den Volley nicht weiterentwickeln. Klar hat man jetzt einen schnelleren Schläger, aber am Netz einen schnellen Schläger zu haben, ist auch gefährlich, weil der Ball mit einem schnellen Schläger eher weiter fliegt. Du brauchst eigentlich einen Schläger, der die Geschwindigkeit vom Gegner absorbiert und das Gefühl, um ihn richtig zu platzieren. Wenn ich einen Volley gegen einen guten Grundlinienspieler spiele, dann versuche ich, den Ball einfach nur zu blocken, weil er so schnell bei mir ankommt. Da muss ich selber nicht noch Tempo geben. Dazu kommt die Psychologie. Du läufst 100-mal ans Netz und wirst 50-mal passiert. Das ist, als wenn du jedes Mal ein Tor kassierst. Irgendwann hat ein junger Spieler keine Lust mehr, ans Netz zu gehen.
Was raten Sie ihm?
Es ist okay so, weil beim 101. Mal der andere einen Fehler macht. Beim 110. Mal kannst du den Gegner vielleicht komplett zerstören, aber das dauert erst mal eine Stunde, das dauert vielleicht anderthalb Sätze. Vielleicht dauert es Wochen, vielleicht dauert es zwanzig verlorene Matches und da vergeht einem schnell der Spaß. Wenn du von hinten eine Rally mit 20 Schlägen spielst und beim einundzwanzigsten Mal einen Fehler machst, dann lagert sich im Gehirn ab, was für eine gute Rally das war. Bei einem Serve-und-Volley-Spiel schlägst du auf, wirst passiert und das Gehirn speichert etwas Negatives ab. Aber du vergisst, der Return war ziemlich nah an die Linie gespielt und beim nächsten Mal geht er vielleicht ins Aus.
Jeder Tennisfan erinnert sich an Ihr Match gegen Andy Murray 2017 in Melbourne, als Sie bis ins Viertelfinale kamen. Haben Sie eine Erklärung, warum es so perfekt lief?
Murray kann nicht beschleunigen (lacht). Das klingt merkwürdig bei einem Spieler seiner Klasse, aber er hat nicht den Zug im Arm wie Rafa oder Federer oder sogar ein Jack Sock. Ich hatte die Woche davor gegen Rafa in Brisbane gespielt und eins und eins verloren. Keine Chance. Er konnte mich auf neunzehn verschiedene Arten passieren. Ich konnte seine Schläge nicht lesen. Sie waren zu schnell und hatten auch noch Topspin, sodass ich teilweise das Gefühl hatte, der fliegt an die Plane. Er ist aber trotzdem noch hinten reingeplumpst. Murrays Vor- und Rückhand sind relativ gerade. Und er spielt ungern longline.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Sie extrem gut spielten. John McEnroe war plötzlich Fan von Ihnen.
Klar, ich habe sehr gut gespielt, aber er hat es mir auch erlaubt, weil er die Returns meistens geblockt hat. Er gab mir Zeit, den ersten Volley zu spielen, ich war nicht permanent unter Druck. Ich konnte oft an seiner Beinstellung erkennen, wohin er den Ball spielen wird. Federer lässt mich wie einen Trottel aussehen, weil er so viele Optionen hat und mich ständig auf dem falschen Fuß erwischt.
Man sieht heute kaum noch Serve-and-Volley. Allerdings wählte Rafael Nadal im Finale von Melbourne ab und zu die Variante, nach dem Aufschlag ans Netz vorzurücken. Wie bewerten Sie das?
Die Spieler, vor allem Medvedev, stellen sich auf lange Rallys ein. Nach Aufschlag und Return spielt man praktisch wie bei einem Elfer den Punkt aus. Das ist die Taktik, den Punkt von hinten aufzubauen. Rafa analysiert permanent das Spiel und er weiß, wann es klug ist, für Überraschungsmomente zu sorgen. Er macht oft etwas Neues oder Unerwartetes, wenn er hinten liegt, zum Beispiel bei Breakball gegen sich. Nach einem ganz langen Spiel, Vorteil – Einstand – Vorteil – Einstand, streut er plötzlich Serve-and-Volley ein. Er macht es dann, wenn du damit nicht rechnest, in einer Stresssituation. Oder er setzt seinen Stopp ein, vor allem mit der Vorhand. Würde Rafa permanent Serve-and-Volley spielen, würde es nicht funktionieren.
Was ist anstrengender, immer permanent ans Netz zu stürmen oder hinten zu bleiben?
Schwer zu sagen. Die Ballwechsel von hinten sind logischerweise länger, aber etwas überspitzt formuliert spazierst du einfach zwei Schritte nach links und zwei Schritte nach rechts. Bei Serve-and-Volley servierst du, du landest mit viel Wucht auf einem Bein. Du musst dich sofort abstoßen und nach vorne sprinten. Du machst immer so Drei-Schritt-Sprints. Da ist viel Stress auf den Muskeln und den Gelenken. Dann musst du beschleunigen und innerhalb von einem Split-Step fast zum Halten kommen und dann bist du in einer Torwartsituation, wo du reagieren musst, entweder nach links oder nach rechts. Es ist eine andere Muskulatur, die benötigt wird. Insgesamt glaube ich, dass ein Grundlinienmatch, bei dem man über fünf Stunden 40 Meter pro Ballwechsel läuft, anstrengender ist, als fünf Sätze Serve-and-Volley zu spielen.
Haben Sie sich bei den besten Serve-and-Volley-Spielern wie McEnroe oder Edberg etwas abgeguckt?
Nicht wirklich, jeder muss seinen Stil finden. Sampras zum Beispiel hat zwei Split-Steps gemacht, anstatt einen. Edberg hat mehr kleinere Schritte gemacht. Wie McEnroe gespielt hat, so kann eh keiner spielen. Ich orientiere mich eher daran, wie die Gegner passieren. Es gibt Spieler, die passieren zu 90 Prozent longline in schwierigen Situationen. Es gibt bei Serve-and-Volley nicht so viele Variationen. Eine Vorhand von hinten – ob es del Potro, Fernando Gonzalez, Marat Safin ist – spielt jeder anders, mit offener Stellung oder geschlossener Stellung. Einen Vorhand-Volley kannst du nicht offen spielen, du kannst nicht mit Western- oder Eastern-Griff spielen, sondern mit einem Volley-Griff für Vorhand und Rückhand.
Was ist für Sie entscheidend, wenn sich ein Spieler für Serve-and-Volley entscheidet?
Boris Becker ist das beste Beispiel. Beim ihm war es wie beim Poker. Du kannst nur erfolgreich Serve-and-Volley spielen, wenn du ahnst, wohin der Gegner returniert. Wenn du den Gegner nicht kennst, nicht lesen kannst und du nicht weißt, wohin er spielt, dann ist Serve-and-Volley schwierig. Ich spiele nur Serve-and-Volley gegen einen Gegner, bei dem ich weiß, wenn ich durch die Mitte serviere auf seine Rückhand bei Einstand, wird zu achtzig Prozent der Return entweder mittig zurückkommen oder auf meine Linkshänder-Rückhand gehen. Gegen einen Tomas Berdych bin ich hinten geblieben, weil mein Aufschlag gegen ihn zu schwach war. Er hat mich jedes Mal wie ein Hühnchen gebraten, weil ich nicht wusste, wohin er returniert. Wichtig ist, dass man sich extrem auf seinen Aufschlag konzentriert. Viele machen den Fehler, dass sie schon an den Volley oder ans Nach-Vorne-Laufen denken. Wenn dein Aufschlag gut ist, dann wird der erste Volley einfach sein. Wenn dein Aufschlag schwach ist, dann hast du einen unspielbaren ersten Volley. Es ist auch eine andere Aufschlagtechnik. Viele Serve-and-Volley-Spieler servieren gut, wenn sie ans Netz laufen. Wenn du denen sagst, bleib hinten, dann stimmt die ganze Bewegung nicht.
Was ist noch wichtig?
Man muss schon wissen, ob man auf den Körper serviert oder in die Ecken. Serviere ich eher schneller oder langsamer, mit Kick oder Slice. Es geht darum, das Timing des Gegners zu stören und ihn aus seiner Komfortzone zu drängen. Wenn du volles Brett servieren kannst, also als Profi mit 220 Sachen, ist das natürlich gut. Heute bekommst du selbst Aufschläge mit 205 oder 210 km/h um die Ohren, wenn du auf den gegnerischen Schläger servierst. Ich konnte nicht mit 220 servieren, deswegen war bei mir immer die Platzierung das Wichtigste. Der Returnspieler wird zu einem Zwischenschritt gezwungen und kann nicht so viel Power hinter den Ball bringen.
Von welcher Position spielt man den ersten Volley?
Das kommt darauf an, wie schnell du bist. Je weiter vorne, desto besser. Aber wenn du schnell servierst und der Return schnell zurückkommt, dann stehst du manchmal im Niemandsland, also zwischen T- und Grundlinie und musst einen Halbvolley spielen. Der erste Schritt direkt nach dem Aufschlag muss ein großer schneller Schritt sein, der dich weit nach vorne bringt.
Was passiert vor dem zweiten Volley?
Es ist letztlich Mathematik. Kann der Gegner einen Lob spielen oder nicht? Kann er kurz cross spielen oder nicht? Welche Winkel kann er spielen? Du musst antizipieren und versuchen, die größte Fläche des Platzes abzudecken. Wichtig ist die Körperspannung. Das Gewicht liegt auf dem Vorderfuß, damit du reagieren kannst. Das ist wie ein Torwart beim Elfer.
Es gibt wahrscheinlich Tausend Variationen, wenn man ans Netz geht. Gibt es Spielzüge, die immer wiederkehren? Patentrezepte?
Ja, man serviert nach außen und spielt den Volley in die andere Ecke. Oder man schlägt durch die Mitte auf und setzt den Volley über Netzhöhe kurz cross. Schlägt man durch die Mitte auf und muss den Volley unter Netzhöhe spielen, spielt man ihn lang, sozusagen hinter den Gegner.
Wenn Sie jemand fragt, warum sollte ich Serve-and-Volley spielen, was antworten Sie ihm?
Wenn man heute trainiert, spielt man in der Regel lange Ballwechsel, stundenlang. So bekommt man seinen Rhythmus. Als Serve-and-Volley-Spieler hast du nur ein Ziel: den Rhythmus des Gegners zu zerstören. Und darum geht es letztendlich, um erfolgreich zu sein.
Vita Mischa Zverev
Der Wahlhamburger galt in seiner Jugend als Nachfolger von Boris Becker. Er selbst sagte früh, dass seinem Bruder Alexander die Zukunft gehöre. Mischa Zverev war die Nummer 25 der Welt (2017), er gewann einen Titel auf der Tour (Eastbourne 2018, s. Foto o.). Heute spielt er immer noch, ist aber gleichzeitig Trainer und Manager seines Bruders und tritt immer öfter als Experte im Fernsehen auf. Der ältere Zverev-Bruder lebt mit seiner Frau Evgenia und Sohn Mischa Jr. (2) in Monte Carlo.men’s new jordans release dates | is air jordan outlet legit