2013 French Open – Day Six

Mail aus Paris – Ein Drama in der Stierkampfarena

Felix Grewe – aus Paris

Selten fühlten sich 4:37 Stunden so kurz an wie gestern. Und selten waren sie so spannend, so aufreibend, so emotional. Nun ist man als Vertreter der deutschen Presse selbstverständlich zur Objektivität verpflichtet, wenn ein Landsmann auf dem Platz steht. Man sollte nicht klatschen auf der Tribüne, nicht jubeln und aufmunternde Worte zurufen schon gar nicht. Aber neben seinem Job als Journalist ist und bleibt man Tennisfan. Man lebt diesen Sport, man liebt ihn. Und man fiebert automatisch mit, wenn Tommy Haas so wie am Freitagabend fünf dramatische Sätze in der dritten Runde eines Grand Slam-Turniers spielt. Erst recht, wenn man direkt am Court sitzt, in der zweiten Reihe auf Höhe der Grundlinie. Wenn man den Spielern in die Augen schaut, wenn man die Achterbahnfahrt ihrer Emotionen miterlebt, den Wechsel zwischen Lockerheit und Anspannung, zwischen Souveränität und Verkrampfung, zwischen Hoffnung und Bangen.

Zwölf vergebene Matchbälle

Gestern Abend: Auf Court 1 im Stade Roland Garros, in der sogenannten Stierkampfarena, hat Tommy Haas gerade seinen zwölften Matchball gegen den Amerikaner John Isner nicht nutzen können. Haas ist fassungslos. Man spürt seine Verzweiflung. Er schaut zu seiner Box, in der Coach Ulf Fischer, Physiotherapeut Carlos Costa und Manager Edwin Weindorfer sitzen. Wieder kommt nichts von drüben! brüllt er und meint seine Betreuer, von denen er sich mehr Unterstützung wünscht. Vielleicht muss er in diesem Moment auch einfach nur Frust abbauen. Das Team kann nicht helfen. Haas macht bei 10:10 im Tiebreak einen Fehler, danach serviert der 2,06 Meter-Hühne Isner einen seiner typischen Aufschlagwinner. Punkt. Satz für Isner, statt Sieg für Haas. Es steht 7:5, 7:6, 4:6, 6:7 aus Sicht des Deutschen. Ohne eine Regung zu zeigen, schlurft Haas zur Bank. Man wartet auf seinen Wutausbruch. Wann zerhackt er seinen Schläger? Gar nicht! Äußerlich akzeptiert er den Satzverlust, als habe er gerade einen Durchgang in der ersten Runde eines unbedeutenden ATP-Turniers verloren.
Die meisten Kollegen der deutschen Presse verlassen das Stadion. Sie müssen beginnen, ihre Berichte für die Tageszeitungen zu schreiben. In diesem Moment liebt man den Job als Redakteur eines Fachmagazins, das nicht tagesaktuell arbeitet, umso mehr. Wer möchte in einem engen Pressezentrum sitzen, eingepfercht wie in einer Legebatterie und die Begegnung am Fernseher verfolgen, während man draußen hautnah dabei sein kann?
Angeschlagen wie ein Boxer

Wenige Minuten später scheint die Partie entschieden. Es steht 3:0, kurz darauf 4:1 für den Amerikaner. Haas ist angeschlagen, wie ein Boxer kurz vor dem K.o. Er reckt sich nicht mehr so sehr nach den Aufschlägen seines Gegners wie noch kurz zuvor. Er sprintet nicht mehr so schnell. Vielleicht, weil auch die Kraft nachlässt. Sicher aber, weil er die vergebenen Chancen nicht so einfach abhaken kann. Keiner im Stadion würde in diesem Moment einen Crèpe auf das Weiterkommen des Deutschen setzen.
Zehn Minuten später ist Haas wieder im Rennen. Wie er das geschafft hat? Man weiß es nicht. Irgendwie ist es ihm gelungen, den Aufschlag des Riesen auf der anderen Seite doch noch zu brechen. Auch, weil Isner kaum mehr laufen kann. Der Amerikaner hat Krämpfe, schaut immer wieder zu seinem Coach und seiner Freundin. Seine Mimik ist ein Mix aus Erschöpfung und Verzweiflung. Es steht 4:4 im fünften Satz, kurz darauf 6:6. Tiebreak? Von wegen! Bis einer der Akteure zwei Spiele Vorsprung hat, wird gespielt. Die Pressetribüne füllt sich wieder aber nicht mit deutschen Kollegen. Stattdessen kommen Journalisten aus aller Welt, um dieses Drama mitzuerleben. Eine Reporterin vom argentinischen Radio sitzt plötzlich in der ersten Reihe. Amerikaner wen wunderts? sind einige da, dazu Italiener und natürlich Franzosen.
Tommy, Tommy-Rufe in der Arena

Man muss an Wimbledon 2010 denken. An das Jahrhundertmatch zwischen John Isner und Nicolas Mahut. Es ist kein Geheimnis, dass es der Amerikaner gern mal in die Länge zieht. Im letzten Jahr spielte er hier in Paris 5:41 Stunden gegen Paul-Henri Mathieu. Dauert es heute auch so lange? Man kann es sich nicht vorstellen, bei einem Gegner, der Tommy Haas heißt.
Der Deutsche macht jetzt wieder den wesentlich besseren Eindruck. Auch nach mehr als vier Stunden zieht er die Grundschläge mit enormer Präzision und hohem Risiko durch. Beim Spielstand von 8:8 gelingt Haas das Break die Vorentscheidung. Wenig später landet ein Return von Isner seitlich im Aus. Haas hat gewonnen, 10:8 im entscheidenden Durchgang! Ekstatischer Jubel in der Arena, Tommy, Tommy-Rufe, immer wieder. Gänsehaut pur ja, auch auf der Pressetribüne! Haas haut sich dreimal auf die Brust, trabt wie in Trance zum Netz, wo Isner wartet. Nach dem Handshake springt er noch einmal in die Mitte des Platzes, jubelt, winkt ins Publikum. Er packt auffallend schnell seine Tasche und verschwindet in den Katakomben.

Exakt eine Stunde nachdem Haas seinen 13. Matchball verwandelt hat, erscheint er zum Gespräch mit den Journalisten. Es ist jetzt 21:30 Uhr. Das ist das schöne an diesem Sport, die ganzen Emotionen, die dazugehören, erzählt er und ergänzt: Ich habe jetzt nicht die Zeit, alles zu genießen. Man überlegt viel mehr, wo man nachher gut essen gehen kann und dass man hoffentlich später gut schläft und regeneriert. Der Deutsche ist müde, völlig leer. Aber er gesteht, dass er auch Stolz empfindet. Wer will es ihm verdenken? Nach einem Triumph, an den man sich auch noch in zehn ach was, in 20 Jahren erinnern wird.
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