Der letzte Federer-Moment
Roger Federer beendet seine glanzvolle Karriere. Sein Rücktritt wurde zuletzt immer wahrscheinlicher und doch fällt der Abschied von ihm schwer.
Es ist zur guten Gewohnheit geworden, dass man sich bei einschneidenden Erlebnissen im Rückblick immer fragt: „Wo bist du da eigentlich gewesen?“ Also, wo ist man gewesen, als etwa der erste Mensch den Mond betrat, als die Twin-Towers in sich zusammenfielen oder als jüngst die Queen verstarb? Das weiß man einfach. Gut, die Sache mit dem Mond ist schwierig, das liegt ja nun schon eine ganze Weile zurück.
Ich selbst habe nun den Spleen, dass ich mir bei wichtigen Matches immer merke, wo ich sie verfolgt habe. Das nimmt eine Menge Gedächtniskapazität in Anspruch, ich weiß, aber diese Marotte leiste ich mir einfach.
Seit gestern Nachmittag herrscht nun darüber Gewissheit, dass Roger Federer nicht mehr ins Profitennis zurückkehrt – möglicherwiese abgesehen von einem Auftritt beim Laver Cup-Jux-Turnier, das er selbst erfunden und längst mit seiner Team8-Agentur versilbert hat. Es ist der erwartete Rücktritt, allerdings um ein paar Wochen vorgezogen. Sein Heimturnier in Basel im Oktober, das von Beobachtern schon vor Monaten als Federers Abschiedsgala ausgemacht wurde, schenkt er sich.
Federer tritt nun also ab und in meinem Kopf begann es zu rattern. Wo war ich 2003, als er in Wimbledon seinen ersten Grand Slam-Titel gewann? Hamburger WG-Zimmer, Mini-Fernseher am Bett. Ich drückte Federers Finalgegner Mark Philippoussis die Daumen, weil ich vor Turnierbeginn 100 Euro auf seinen Turniersieg gesetzt hatte. Das „Dark Horse“ des Feldes sollte zum Titel galoppieren. Es kam bekanntlich anders und ich war etwas wütend auf diesen Roger Federer. Er hatte mich um einen vierstelligen Euro-Betrag gebracht.
Federer wird gewinnen, ganz sicher
Paris-Finale 2008, Federer gegen Nadal, ihr drittes Roland Garros-Endspiel in Serie. Mein damaliger Chef lud die Redaktion zu sich nach Hause ein. Ich lehnte mich ganz weit aus dem Fenster und tönte rum, dass Federer dieses Mal gewinnen würde, ganz klar. Er holte in drei Sätzen dann vier Spiele, es war eine vernichtende Niederlage. Und mein Chef legte vorerst nicht mehr sonderlich großen Wert auf meine „Expertise“.
Ein paar Wochen später, Wimbledon-Finale 2008, wieder Federer gegen Nadal. Meine Freundin hatte Karten für das „Deutsche Derby“ im Springreiten ergattert, da wollte sie hin. Natürlich begleitete ich sie. Federer in Wimbledon, was sollte da schon schiefgehen? Dann verlor er die ersten beiden Sätze. Anruf aus der Redaktion: „Du musst kommen, da bahnt sich eine Sensation an.“ Die Kollegen schauten verdutzt, als ich in Anzug, Krawatte und weißem Hemd genau zum Ende des vierten Durchgangs erschien, den sich Federer holen sollte. Der fünfte Satz, es dämmerte schon in London, ich wagte keine Prognose und ignorierte die Anrufe meiner Freundin. Federer verlor ihn 7:9. Es wurde eine lange Nacht in der Redaktion.
Ausnahmslos alle waren für Federer
ATP-Finals in London 2011, Gruppenphase, nochmal Federer gegen Nadal. Ich saß in der abgedunkelten O2-Arena und lauschte den wummernden Herztönen, die immer dann eingespielt wurden, wenn es eine Hawkeye-Entscheidung gab. An diesem Abend aber erklangen die Herztöne äußerst selten. Es war kein enges Match. Im Gegenteil: Federer gewann 6:3, 6:0, haute 28 Winner raus und holte später als erster Profi zum sechsten Mal den Titel beim Saisonabschlussturnier. Eine Matchdemonstration des Schweizers. Es war das beste Match von Federer, das ich jemals live im Stadion von ihm sah.
Wimbledon-Finale 2014, Federer gegen Djokovic. Auswärtsspiel im Hamburger Westen, es ging an einem regnerischen Tag mit meiner Herren 30-Truppe um den Klassenerhalt. Den Fernseher oben in der Ecke des Clubhauses sah ich sofort, der Wirt registrierte meinen fragenden Blick: „Wir haben Sky!“ Zur zweiten Einzelrunde musste ich raus auf den Platz, Drei-Satz-Sieg! Und Federer? Lag 1:2 Sätze hinten. Regenpause in Hamburg. Alle quetschten sich ins kleine Clubhaus und alle, ausnahmslos, feuerten Federer an. Ein Mannschaftskollege raunte: „Djokovic darf das nicht gewinnen.“ Satzausgleich, Riesenjubel im Clubhaus. Das Punktspiel ging weiter, wir gewannen 5:4, Abstieg vermieden. Federer aber verlor.
Wimbledon-Finale 2019, wieder Federer gegen Djokovic. Familienurlaub auf dem Darß an der Ostsee. Ja, kein gutes Timing. Es ging nicht anders. Am Strand lief der Liveticker. Die Kinder: „Papa, Handy weg!“ Schon gut. Die Score-Checks ließ ich so beiläufig wie möglich aussehen. Meine Frau rollte mit den Augen. Zurück im Ferienhaus, der fünfte Satz begann. Ich konnte nicht anders: Notebook raus, Sky an. Die Kinder: „Warum darf Papa fernsehen?“ Weil es Roger ist, weil es das Wimbledon-Finale ist, weil es das vielleicht so nie wieder geben wird. Das wollte ich sagen. Doch ich sagte nichts. Dann kamen die vergebenen Matchbälle, wenig später hatte Djokovic gewonnen. „Was machen wir denn zum Abendessen?“, fragte ich und klappte das Notebook zu.
Der Größte geht jetzt
Gestern dann der letzte Federer-Moment. Ich saß vor dem Rechner am Küchentisch. Ein Video bei Instagram, ein Post bei Twitter am frühen Nachmittag. Ich sackte kurz in mich zusammen. Nun war es also soweit: Federer erklärt seinen Abschied vom Profitennis. Irgendjemand schrieb irgendwo im Web: „Tennis ohne Roger Federer ist so wie Großbritannien ohne die Queen – er war ja gefühlt immer da!“ Man hatte eine Menge Zeit, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er nicht mehr spielen wird, weil er ja seit 14 Monaten nicht mehr gespielt hat. Und doch ist diese Endgültigkeit hart. Nie mehr Federer.
Es ist die richtige Entscheidung. Er hat dem Tennis genug gegeben. Was bleibt, sind dutzende Erinnerungen an ihn, an seine Matches, an seine Siege, an seine Niederlagen. Der Größte geht jetzt.mens jordan release dates 2022 | spider-man jordan 1 release date australia