Nick Kyrgios: „Ich inspiriere Millionen von Menschen”
Die einen lieben ihn, die anderen sind genervt von ihm. Dass Nick Kyrgios nach seinem grandiosen Wimbledonfinale erwachsen wird, ist nicht zu erwarten. Annäherung an einen besonderen Typen.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 9/2022
Neulich auf Mallorca. „Okay, wir fragen ihn?, flötete die PR-Dame von der ATP. Es klang fast so, als habe man um eine Papst-Audienz gebeten. Wobei: Das ist bei den Stars der Szene meistens so. Wer an Federer, Nadal oder Djokovic ran will, muss demütig anklopfen. Immer wieder. Beim Management, Sponsoren oder der ATP. An die süßesten Früchte der Tour kommt man nur schwer. Aber ein Interview mit einer Nummer 63 der Welt? Sollte eigentlich kein Problem sein. Es sei denn, der Mann heißt Nick Kyrgios.
Der Australier ist nämlich – Rangliste hin oder her – einer der Superstars im Circuit. Ob einem das passt oder nicht. Seine Eskapaden mögen nerven. Aber Kyrgios hat den USP, wie es bei Marketinggurus so schön heißt. Er hat ein Alleinstellungsmerkmal. Kein anderer Profi ist mit ihm vergleichbar. Kyrgios ist heute noch das, was schon galt, als er bei den Australian Open 2015 als 19-Jähriger bis ins Viertelfinale stürmte und erst dort von Andy Murray gestoppt wurde: „the special K“. Das müssen auch seine Kritiker zugestehen.
Wunderschöne Freundin und Haus auf den Bahamas
„Ich wollte ihn unbedingt bei meinen Turnieren dabei haben“, sagt etwa Veranstalter Edwin Weindorfer, zuständig für die Herren-Events in Stuttgart und Mallorca. Weindorfer weiß: Kyrgios verkauft Tickets. Für den 1,93-Meter-Mann mit den Tattoos stehen die Leute an der Kasse an. Weil er wild ist, interessant. Weil man bei dem 27-jährigen aus Canberra nie weiß, was als nächstes kommt. Und: Weil er unfassbares Tennis spielen kann, wie man zuletzt im Wimbledonfinale gegen Novak Djokovic gesehen hat.
Als der Schreiber dieser Zeilen auf Mallorca weilte, hätte er nicht ahnen können, welch’ irre Story in den nächsten Wochen sportlich passieren sollte.
Abseits des Courts dürfte sich auch nach seinem Erfolg beim berühmtesten Turnier der Welt nichts geändert haben. Kyrgios demonstriert in den sozialen Netzwerken cooles Superstargehabe, postet gerne Neidbilder. Zum Beispiel die Villa, die ihm Weindorfer auf der Lieblingsinsel der Deutschen gestellt hat. Inklusive Pool, Basketballkorb und Privatkoch. Oder einen giftgrünen Tesla, ein Modell X für rund 120.000 Euro, an dem er lässig lehnt. Er wirkt dann wie ein NBA-Star oder ein Fußball-Promi. Rund drei Millionen Followern gibt Kyrgios private Einblicke.
Es ist später Nachmittag geworden an diesem schwül-heißen Junitag. Die Dame von der ATP signalisiert: „Es klappt.“ Geholfen haben dürfte, dass er gerade sein Auftaktmatch gegen den Serben Laslo Djere gewonnen hat, wenn auch denkbar knapp mit 7:6 im dritten Satz.
Nick Kyrgios: „Ich bin einfach ich selbst“
Rund 20 Minuten später hat Kyrgios auf einem Barhocker auf der Terrasse des Mallorca Country Clubs Platz genommen und bedankt sich artig, dass man ihm zum Sieg gratuliert hat. Heiß ist es immer noch, aber er trägt einen dicken Kapuzenpulli und das obligatorische, tief ins Gesicht gezogene Basecap. Er sieht ein bisschen müde aus.
tennis MAGAZIN: Sie haben in Stuttgart, Halle und auf Mallorca konstant gute Ergebnisse geliefert. Erleben wir gerade einen neuen Nick Kyrgios?
Wie meinen Sie das?
Sie wirken ehrgeiziger. Wollen Sie der Tenniswelt beweisen, dass Ihr Fokus jetzt voll auf dem Platz liegt?
Nein. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas beweisen muss. Ich habe als Kind nie geglaubt, dass ich auf diesem Niveau spielen kann und so ziemlich jeden Profi schlagen würde. Ich habe die Big Four geschlagen, Titel gewonnen, ich inspiriere Millionen von Menschen. Ich bin einfach ich selbst. Das Match heute war ein weiteres Beispiel dafür, dass es nicht stimmt, wenn die Leute sagen, ich würde nicht kämpfen.
In der Vergangenheit konnte man aber manchmal den Eindruck bekommen.
Ich hatte zwei super Wochen in Stuttgart und Halle. Ich habe schon viel Geld verdient und es besteht für mich nicht wirklich die Notwendigkeit, dieses Match zu gewinnen, aber ich habe mich durchgekämpft.
Nick Kyrgios: „Die Leute haben vor meinem Haus gecampt“
Warum haben Sie die Sandplatzsaison nicht gespielt?
Ich verbringe gerne Zeit mit meiner Familie. Meine Freundin und ich wohnen zusammen. Für einen Australier ist es zu hart, alles zu spielen: Hartplatzsaison, Sandplatzsaison, Rasensaison. Ich muss einen Teil des Kalenders opfern, um ein normales Leben führen zu können.
Es hat also nichts damit zu tun, dass Sie auf Asche weniger erfolgreich sind als beispielsweise auf Rasen?
Ich bin immerhin gut genug, um die French Open-Sieger Federer oder Wawrinka geschlagen zu haben. Ich habe Sandplatzspezialisten wie Cuevas oder Pella besiegt. Ich hatte starke Matches auf Asche. Ich finde, ich spiele ganz okay. Mein Leben und meine Familie sind mir nur etwas wichtiger als Sandplatztennis.
Können Sie ein Privatleben führen, ohne dass Sie ständig angesprochen werden?
In Australien ist das sehr schwer. Wenn meine Freundin und ich abends essen gehen, machen die Leute die ganze Zeit Fotos von uns. Als ich Nadal in Wimbledon schlug, haben die Leute zwei Wochen lang vor meinem Haus in Australien gecampt. Ich konnte nicht mal vor die Tür gehen.
Wie wichtig ist der Unterhaltungsfaktor im Tennis?
Sehr wichtig. Ich glaube, Sport und Unterhaltung waren noch nie zuvor so eng miteinander verzahnt. Es ist gut, eine Balance zu haben. Es gibt Spieler wie Goffin, die sich nur auf ihr Tennis konzentrieren. Aber Typen wie Monfils oder ich, die Zuschauermengen anziehen, sind genauso wichtig. Wenn niemand zusieht, macht Profisport keinen Sinn.
Nick Kyrgios: „Mehr als zufrieden mit dem, was ich erreicht habe“
Sie sagten neulich, dass Ihnen die Weltrangliste nicht wichtig ist. Warum sehen Sie das so?
Ich glaube nicht, dass die Rangliste dem Können gerecht wird. Sie belohnt Beständigkeit. Ich habe in Miami gegen Rublev 6:3, 6:0 gewonnen. Er war die Nummer 7 der Welt. Also haben Ranglistenplätze offensichtlich nichts zu bedeuten.
Viele Leute behaupten, Sie seien so talentiert. Sie müssten ein Grand Slam-Turnier gewinnen.
Ich höre mir nie an, was die Leute sagen. Ich bin mehr als zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Ich bin 27 Jahre alt, ich bin gesund, meine Eltern sind gesund, ich habe eine wunderschöne Freundin und ein Haus auf den Bahamas.
Sie lieben Basketball. Haben Sie je davon geträumt, in der NBA zu spielen?
Ich habe bis 14 Jahre Basketball gespielt, aber dann musste ich aufhören, weil der Fokus auf Tennis lag. Ich spiele aber ständig, wenn ich zu Hause bin.
Für viele Kids sind Sie ein Held. Hatten Sie ein Idol, als Sie aufwuchsen?
Ich habe zu vielen NBA-Spielern aufgeschaut. Wenn ich einen nennen müsste, wäre es Kevin Garnett. Ich liebe den Stil von Basketballern. Tennisspieler sind nicht so, vielleicht Jo-Wilfried Tsonga. Aber ich liebe es auch, Roger spielen zu sehen. Federer ist ein riesen Vorbild für jeden.
Nick Kyrgios: „Habe meinen Drogenkonsum in den Griff bekommen“
Im Februar sprachen Sie über Ihre Depressionen und Drogenkonsum. Können Sie Näheres dazu sagen?
Ich war 22, 23 Jahre alt, reiste sieben, acht Monate pro Jahr. Ich war weit weg von meiner Familie, hatte keine Stabilität, war einsam auf der Tennistour. Es war deprimierend. Ich kämpfte mit mir, versuchte, jemand anderes zu sein, weil ich mit all den Erwartungen nicht zurechtgekommen bin. Man wollte, dass ich Grand Slam-Turnier gewinne, aber das war nicht, was ich wollte. Es war nicht, was ich sein wollte, und dann habe ich angefangen, Drogen zu nehmen und es ist aus der Kontrolle geraten. Ich habe das aber in den Griff bekommen.
Sind Sie jetzt in einer besseren Phase Ihrer Karriere und eine ausgeglichenere Person? Sie zertrümmern immer noch Schläger.
Ja, tue ich. Aber ich versuche, jeden Tag ein besserer Spieler und Mensch zu sein. Ich bin älter und reifer. Ich habe mehr erlebt und durchgemacht als 20 Leute zusammen. Ich habe die Welt bereist, bin überall gewesen, war in einigen wirklich üblen Orten untergebracht, hatte mit wirklich schlimmen Dingen zu tun. Ich weiß inzwischen, dass ich stark bin und ein dickes Fell habe.
Verraten Sie uns noch etwas über Ihre Charity, die Nick-Kyrgios-Stiftung.
Meine Stiftung befindet sich in Melbourne. Es geht darum, benachteiligten Kindern zu helfen, die keine guten Lebensumstände haben und für die es keine Möglichkeit gibt, Sport zu treiben. Mir ist es wichtig, etwas zurückzugeben.
Nick Kyrgios siegt und pöbelt weiter
Das Interview ist zuende. Kyrgios bedankt sich für das Gespräch, verschwindet im oberen Stockwerk des Clubhauses und lässt einen nachdenklichen Reporter zurück. Wie kann einer, der höflich ist, mit Tiefgang redet, sich auf dem Platz oft so daneben benehmen? Oder ist das gar kein Widerspruch? Mehr als eine halbe Millon Dollar hat er an Strafgeldern kassiert. Wenn er Offizielle und Zuschauer bepöbelt, wird einem Angst und Bange. Wie tickt Nick Kyrgios? In einem 15-Minuten-Interview wird man es nicht erfahren. Wahrscheinlich wissen es auch die Psychologen nicht, die ihn betreut haben.
Am nächsten Tag trifft man sich morgens zufällig beim Shuttle-Service. „Man, I am out“, sagt Kyrgios und sieht wirklich leidend aus. Zu seinem Match gegen Roberto Bautista Agut tritt er wegen Magenschmerzen nicht mehr an.
Eine Woche später läuft Wimbledon. Sein Tennis: traumhaft. Sein Verhalten auf dem Platz: leider oft völlig daneben. Gibt es den Kyrgios-Malus? Vielleicht. Als Stefanos Tsitsipas im Match gegen ihn einen Ball Richtung Zuschauerin drischt, fordert Kyrgios den Schiedsrichter auf, den Griechen zu suspendieren. Kann gut sein, dass der Australier fällig gewesen wäre, wenn er das Gleiche getan hätte.
Anschließend siegt und pöbelt Kyrgios weiter, spielt das Turnier seines Lebens. Bei der Siegerehrung provoziert er den ehrwürdigen Lawn Tennis Club, indem er seine weiße Kappe gegen eine rote austauscht. Vor dem Finale macht die News die Runde, dass er sich wegen häuslicher Gewalt vor einem australischen Gericht verantworten muss. Es sieht nicht so aus, als würde Ruhe einkehren beim ewigen Rebellen Nick Kyrgios.
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