ATP Finals in Turin: Frischer Wind
Das Herrentennis in Italien boomt. Nicht nur, dass die ATP Finals bis 2025 in Turin ausgetragen werden, auch im ATP-Ranking wird immer mehr Italienisch gesprochen. Die Gründe für den Aufstieg.
Text: Stefano Semeraro, Christian Albrecht Barschel
Für diejenigen, die Tennis in Italien in den letzten 50 Jahren verfolgt haben, zunächst als Fan und dann als Beruf, wirkt es immer noch wie ein Traum, dass die ATP Finals seit 2021 bis 2025 in Turin gespielt werden. Aber: Es ist wahr! Fünf Jahre lang wird die Stadt mit der berühmten Mole Antonelliana, die jeder italienische Sportfan mit Fußball verbindet – mit Juventus Turin, der Alten Dame – , eine Woche lange die Tennis-Hauptstadt der Welt sein. Erwartet wird ein Erlös von mehr als 500 Millionen Euro dank der Mitwirkung großer italienischer Marken wie Intesa Sanpaolo (Kreditinstitut), Iren (Energieunternehmen), Emporio Armani (Modelabel), Lavazza (Kaffeeunternehmen) und Valmora (Wasserhersteller). Nicht zu verschweigen, dass das Pala Alpitour in Turin neben den ATP Finals eine Woche später auch Gastgeber zweier Gruppen sowie eines Viertelfinals bei den Davis Cup-Finals sein wird.
Tennis spricht italienisch
Nichts passiert offensichtlich zufällig. Die ATP Finals, das ehemalige Masters, folgte immer den Fußstapfen der aktuellen Champions. In Schweden für Björn Borg, in New York für Jimmy Connors und John McEnroe, in Frankfurt und Hannover für Boris Becker und Michael Stich, in London für Andy Murray. 45 Jahre nach den Heldentaten von Adriano Panatta ist nun der Moment für Italien gekommen: der neuen Supermacht im Herrentennis. Seit März 2021 standen neun oder zehn (Rekord!) Italiener in den Top 100 im ATP-Ranking. Matteo Berrettini war 2019 der dritte Italiener nach Panatta und Corrado Barazzutti, der an den ATP Finals teilnahm. Nachdem Berrettini 2020 Ersatzspieler beim Saisonfinale der acht Besten des Jahres war, wird er im November 2021 mit großer Wahrscheinlichkeit wieder dabei sein, vor allem dank seines Finaleinzugs in Wimbledon – als erster Italiener überhaupt.
Jannik Sinner könnte ebenfalls zu den „Großen Acht“ in Turin gehören. Hinter diesen beiden Mittelstürmern des italienischen Herrentennis gibt es noch ein komplettes Team – von Lorenzo Musetti bis Lorenzo Sonego. Von Andreas Seppi bis Fabio Fognini, bis hin zu den noch recht unbekannten Flavio Cobolli oder Luca Nardi. Mindestens so stark wie das Team von Roberto Mancini, das die Fußball-Europameisterschaft gewann. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass seit einem Jahr zwei Italiener an der Spitze der ATP stehen. Der ehemalige Top-20-Spieler Andrea Gaudenzi als Präsident und Massimo Calvelli, ebenfalls ein Ex-Profi, als Geschäftsführer. Tennis spricht derzeit Italienisch.
Tennis in Italien: Top-Förderung und Heimspiele
Aber woher kommt diese italienische Renaissance überhaupt? Wie gewöhnlich gibt es keine einzelne Erklärung, aber eine Reihe von Gründen. Zunächst werden in Italien seit Langem viele Profiturniere der unteren und mittleren Kategorie veranstaltet. 2021 waren es bei den Herren zehn ITF-Turniere sowie 22 ATP-Challenger-Turniere. Hinzukommen das ATP-Masters-1000-Turnier in Rom, die beiden ATP-250-Turniere in Cagliari und Parma sowie das NextGen Finals in Mailand, das seit 2017 eine nicht zu unterschätzende Rolle beim wiederauflebendem Interesse am Tennis hat (seit 2023 finden die Next gen Finals nun in Saudi Arabien statt). Um es kurz zu machen: Italienische Spieler müssen nicht allzu viele Anstrengungen unternehmen, zu viel Geld ausgeben, nicht zu viel ins Ausland reisen, um Profiturniere spielen zu können. Das ist ein erster Faktor.
Die Förderungssituation in Italien hat sich verbessert
Die große Zunahme an italienischen Talenten liegt an der Veränderung der Philosophie vom FIT, dem italienischen Tennisverband, der sich einst in Konkurrenz zu privaten Teams sah. Viele Jahre lang hat der Verband die besten Talente aus ihren Heimatstädten herausgerissen. Er hat sie dazu gezwungen, im Technik-Trainingscenter in Tirrenia, ein Ortsteil von Pisa, zu trainieren. Seitdem das Über-18-Projekt im Jahr 2015 startete, das von einem der angesehensten Techniktrainer, Umberto Rianna – ehemaliger Assistenztrainer von Berrettini und Sonego, und nun im Team bei Musetti – , geleitet wird, gibt es endlich eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Teams.
Der italienische Tennisverband unterstützt seine besten Spieler logistisch und wirtschaftlich, ohne dabei den Spielern Honig ums Maul zu schmieren. Die Situation hat sich verbessert, sodass die Talente emporkommen. Die Qualität der italienischen Trainer war immer sehr hoch. Das kann man am Lebenslauf von Trainern wie Umberto Rianna, Riccardo Piatti, Max Sartori und Vincenzo Santopadre sehen. Diese konnten in den letzten Jahren endlich mit dem richtigen Stoff und Werkzeug Top-Spieler ‚Made in Italy‘ maßschneidern.
„Es gab eine Veränderung in der Mentalität“
„Ich habe den italienischen Verband gern“, lacht Fabio Della Vida, Manager und Talentscout, der Martina Hingis und Kim Clijsters entdeckt hat. Della Vida war einer der ersten, der das Potential von Jannik Sinner erkannte. „Alles hat sich verändert, seitdem der Verband endlich verstanden hat, dass die Spieler von denen ausgebildet werden müssen, die wissen, wie es geht. Bis vor zehn oder 15 Jahren waren die Italiener diejenigen, die am wenigsten gearbeitet haben im Profizirkus. Heute sind wir ein Beispiel für jeden. “Eine Initialzündung für den Boom waren einige Großtaten wie das Halbfinale von Marco Cecchinato bei den French Open 2018 und von Berrettini bei den US Open 2019. Außerdem der erste Sieg eines Italieners bei einem Masters-1000-Turnier von Fabio Fognini in Monte Carlo 2018.
„Es gab eine richtige Veränderung in der Mentalität bei Spielern und Trainern“, sagt Max Sartori, der Mentor von Seppi, Entdecker von Sinner und derzeit Trainer von Cecchinato. „Jeder hat begriffen, dass man mit dem richtigen Programm an die Spitze kommen kann. Wenn einst mein Ziel war, Seppi in die Top 100 zu bringen, ist es heutzutage, Top-10-Spieler auszubilden.“
Tennis in Italien: Berrettini als Vorbild für den Nachwuchs
Beim Boom geht es nicht nur um das Profitennis. 2020 hatte der italienische Tennisverband 275.820 Mitglieder. 2021 sind es bereits 365.140 Mitglieder. 2020 wuchs die Anzahl der Tennisclubs von 3.168 auf 3.433, mit geschätzten zwei Millionen Spielern. Tennis ist an Volleyball vorbeigezogen und ist nun der zweitmeiste ausgeübte Sport in Italien nach Fußball. Der italienische Verband macht einen Gesamtumsatz von 60 Millionen Euro, nur der Fußball-Verband Federcalcio (174 Millionen Euro) erzeugt mehr. Einen Trainingsplatz für ein Tennis interessiertes Kind in Bologna, Rom oder Mailand zu finden, wird zu einem Kunststück. Wenn man die jungen Tennisspieler fragt, welcher Spieler ihr Idol ist, ist die Antwort nicht mehr Federer, Nadal oder Djokovic, sondern Berrettini.
Top-Einschaltquoten für Tennis in Italien
Das Fernsehen hat zudem ein Erdbeben registriert. Die Quoten von SuperTennis, einem frei zugänglichen Tennissender des Verbandes, haben sich im letzten Jahr um 43 Prozent gesteigert. Das Finale beim ATP-Turnier in Sofia zwischen Sinner und Vasek Pospisil am 14. November 2020, das parallel live auf Rai 2 lief, hat für einen Rekordwert von sechs Prozent Marktanteil, durchschnittlich eine Million Zuschauer und 3,7 Millionen Kontakte gesorgt. Nicht schlecht für ein Finale eines ATP-250er-Turniers. Tennis wuchs auch beim Pay-TV-Sender Sky. 37 Prozent mehr Zuschauer im Vergleich zu 2019, an dem die Masters-1000-Turniere 20 Prozent Anteil haben. Das historische Turnier in Rom, das Internazionali di Roma, konnte einen Zuwachs von 21 Prozent im Vergleich zu 2019 vorweisen.
Das Wimbledon-Finale 2021 zwischen Berrettini und Djokovic, das am gleichen Tag wie das Endspiel der Fußball-EM ausgetragen wurde, konnte die Zuschauerzahl aus dem Finale 2019 zwischen Djokovic und Federer pulverisieren. 1,523 Millionen Zuschauer auf Sky sowie 3,214 Millionen Zuschauer im Free-TV auf TV8 machen eine Gesamtsumme von 4,7 Millionen (im Vergleich zu 716.000 Zuschauern beim Wimbledonfinale 2019). Das am meisten geschaute Tennismatch in Italien hatte einen unglaublichen Marktanteil von 34 Prozent. Zum Vergleich: Das Top-Match der italienischen Fußball-Liga zwischen AC Mailand und Juventus Turin hatte einige Wochen zuvor auf dem Pay-TV-Sender nur knapp 800.000 Zuschauer.
Ist Italien der neue Tennis-Gigant?
„Das gesamte italienische Tennis – Clubs, Mitglieder, Firmen – hatte vor dem letzten Wimbledon einen Wert von mehr als 400 Millionen Euro“, erklärt Leonardo Bassi, ein ehemaliger Tennisspieler, nun Sportmanager. Er kümmerte sich viele Jahre um das Sponsoring bei Sergio Tacchini und Bennetton. Bassi war der erste, der Pete Sampras, Martina Hingis, Goran Ivanisevic, Tommy Haas, Jana Kandarr und Jennifer Capriati unter Vertrag nahm. „Heute haben wir sicherlich diese Zahl übertroffen“, sagt Bassi. Dazu beigetragen hat neben der Corona-Pandemie (Tennis konnte während der Lockdowns gespielt werden) auch die „Sinner-Mania“. Mindestens 60.000 bis 70.000 mehr aktive Mitglieder mit 60 Euro pro Person (so viel kostet eine Mitgliedskarte) macht ein Minimum von 3,5 Millionen Euro, das den Verband, die Tennisindustrie und den Einzelhandel glücklich macht.
„Sie bekommen Anfragen für das Shirt, das von einem Champion wie Jannik Sinner getragen wird. Sinner wird angesehen als Mario Draghi (Ministerpräsident in Italien) des Sports. Bescheiden im Verhalten, aber sehr entschlossen im Inneren“, fügt Bassi an. Große heimische Marken wie Parmigiano Reggiano (Käse), Alfa Romeo (Auto), Fastweb (Internet) und Technogym (Fitness) machten den 20-Jährigen zu ihrer Werbefigur, weil Sinner letztes Jahr zu den drei attraktivsten Sportlern Italiens aufgestiegen war – noch vor Valentino Rossi, neunmaliger Weltmeister im Motorrad-Rennsport.
Anfang der 80er-Jahre sponserten italienische Marken den Großteil der Top 10 im ATP-Ranking. In der heutigen Zeit, in der einige Top-Spieler aus Italien kommen, wurde dieses Erbe von Giorgi Armani übernommen. Es ist ein Gigant in der Modebranche, der mit seiner Marke EA7 Fognini sponsert und in Verhandlungen mit Berrettini steht. Kurz gesagt: All die Teile des fantastischen Puzzles fallen zusammen. Die ATP Finals haben nun die Aufgabe, den bekannten Ausspruch von Pop-Sängerin Madonna zu demonstrieren. „Italiener können es besser“ gilt nun auch fürs Tennis.
Über den Autor
Stefano Semeraro, Jahrgang 1963, ist Chefredakteur bei ‚Il Tennis Italiano, der ältesten Tenniszeitung der Welt. Daneben schreibt er seit mehr als 30 Jahren für die Turiner Zeitung La Stampa, für die er von 100 Grand Slam-Turnieren berichtet hat. Semeraro veröffentlichte zudem einige Bücher, darunter Biografien über Roger Federer und Jannik Sinner.
Die italienischen Profis in der Übersicht:
Matteo Berrettini – der Hammer
Warum Berrettini bei den Showturnieren „Ultimate Tennis Showdown“ den Spitznamen „The Hammer“ verpasst bekommen hat? Wenn der Italiener auf dem Platz steht, dann kracht es: Aufschlag, Vorhand, Vollgas! Berrettini war über zwei Jahre lang fester Bestandteil der Top 10. Bei seiner Aufschlagbewegung versucht er, sich an Milos Raonic zu orientieren. „Ich halte den Schläger dann so, als würde ich eine Pizza in den Ofen schieben“, sagte er tennis MAGAZIN.
Jannik Sinner – das Jahrhunderttalent
Neben Berrettini hat Italien mit Sinner einen weiteren heißen Anwärter auf einen Grand Slam-Titel in den nächsten Jahren. Vom 22-Jährigen schwärmte die Tenniswelt früh. „Jannik ist einer der talentiertesten Spieler, die ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe“, sagt John McEnroe über Sinner, dem auch eine herausragende Karriere als Skifahrer offen stand. Mittlerweile ist der Südtiroler der fünfte Top-Ten-Spieler aus Italien.
Fabio Fognini – der Heißsporn
Wenn er spielt, wird es wild. Kaum jemand agiert auf dem Platz so leidenschaftlich wie Fognini. Beim 36-Jährigen liegen Genie und Wahnsinn nah beieinander. Die Folge: Er kann an guten Tagen gegen jeden gewinnen, an schlechten Tagen gegen jeden verlieren. 2019 zog Fognini als erster Italiener nach 40 Jahren in die Top 10 ein. Privat ist er ganz zahm. Mit Ex-US-Open-Siegerin Flavia Pennetta ist er seit 2016 verheiratet. Das Paar hat drei Kinder.
Lorenzo Sonego – der Spätstarter
Sonego begann erst im Alter von elf Jahren mit dem Tennis, was sehr ungewöhnlich ist für einen späteren Tennisprofi. Daher dauerte es auch einige Zeit, bis sich der 28-Jährige im Profitennis durchsetzen konnte. Der Durchbruch gelang 2019 mit dem Turniersieg in Antalya. Seitdem hat sich Sonego Stück für Stück nach oben gespielt und steht kurz vor dem Einzug in die Top 20. Highlight: ein 6:2, 6:1-Sieg gegen Novak Djokovic 2020 in Wien.
Lorenzo Musetti – der Elegante
2019 gewann Musetti die Australian Open bei den Junioren und wurde zur Nummer eins. Mit seiner eleganten einhändigen Rückhand hat der 21-Jährige seit dem Einstieg bei den Profis mächtig Eindruck hinterlassen. 2020 wurde er der erste Spieler des Jahrgangs 2002, der ein Match auf der ATP-Tour gewann. Bei den French Open 2021 führte er im Achtelfinale gegen Novak Djokovic mit 2:0 in den Sätzen, brach dann ein und gab im fünften Satz auf.
Marco Cecchinato – der Sandplatzspezialist
Mit dem Label Sandplatzspezialist muss man im modernen Tennis vorsichtig umgehen. Auf Cecchinato trifft dies aber zu wie auf keinen anderen Spieler. 63 Matches gewann der 28-Jährige bis 2021 auf der ATP-Tour, 52 davon auf Sand mit fünf Finals und drei Titeln. Auf der roten Asche läuft Cecchinato zur Höchstform auf. Bei den French Open 2018 zog er sensationell ins Halbfinale ein und besiegte unter anderem Novak Djokovic.