50 Jahre ATP-Ranking: Die Jagd nach der Nummer 1
Die Zahl, von der alle Spieler träumen. Vor 50 Jahren wurde die Weltrangliste im Herrentennis eingeführt. Ein Rückblick auf die ehrlichste Währung auf der ATP-Tour.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 9/2023
Wer ist der derzeit beste Spieler der Welt? Auf diese Frage gibt das ATP-Ranking Woche für Woche eine aussagekräftige Antwort. Zumindest, wenn man den Zeitraum eines Jahres zum Maßstab nimmt. Die Weltrangliste lügt nicht, lautet ein beliebtes Sprichwort. Um die Nummer eins zu werden und es dann auch zu bleiben, gibt es keinen einfachen Weg und keine Abkürzungen. Es benötigt dauerhaft gute Leistungen, Fleiß, enormen Willen, Durchhaltevermögen und manchmal auch eine Portion Glück. „Die Nummer eins kommt nicht zu dir. Du musst hingehen und sie dir holen“, erzählte Roger Federer, der viele Jahre der Inbegriff des Nummer-eins-Spielers war.
„Nicht jeder kann Nummer eins“, sagte Arthur Ashe, einer der erfolgreichsten Spieler, die es nicht auf die Spitzenposition schafften. Der Club der Weltranglistenersten ist übersichtlich. „Die Nummer eins zu sein, ist ikonisch. Es gibt nicht viele davon“, sagte Pete Sampras. Um genau zu sein, umfasst der Club bislang 28 Mitglieder (siehe Tabelle rechts). Noch elitärer ist der Kreis der Nummer-eins-Spieler am Jahresende. Er umfasst 18 Spieler. In diesem Jahr feiert das ATP-Ranking sein 50-jähriges Bestehen. Am 23. August 1973 wurde die erste computerbasierte Weltrangliste veröffentlicht. Der Tag glich einer Zäsur im Herrentennis. „Davor hatten wir nur eine Weltrangliste am Jahresende, die abhängig von Meinungen war. Einige Zeitungen und Magazine machten Ranglisten so, wie sie es wollten. Das war nicht fair. Es gab keine offizielle Nummer eins“, blickte Ilie Nastase auf die Zeit vor der Einführung der Weltrangliste zurück.
Mehr Gericht mit Einführung der Weltrangliste
Mit der Installation des ATP-Rankings kehrte deutlich mehr Gerechtigkeit ein. Denn zuvor konnten viele Turniere selbst bestimmen, wer teilnehmen durfte. „Einige Spieler schafften es auf die Liste, weil ihr Name dabei half, Tickets für das Turnier zu verkaufen. Sie bekamen Priorität vor anderen. Das verursachte große Bedenken bei denjenigen, die keinen großen Namen hatten und an der Grenze standen, um in die Turniere zu gelangen“, erinnerte sich der zweimalige Grand Slam-Sieger Stan Smith an die Zeit vor dem ATP-Ranking.
Bei der Gründung der ATP im September 1972 beschloss man, ein Ranglistensystem einzuführen, das so gut wie möglich das tatsächliche Spielniveau eines Spielers widerspiegelt und frei von Meinungen und Vorurteilen ist. Das erste ATP-Ranking basierte auf einem Durchschnittssystem der letzten 52 Wochen. Alle Turnierergebnisse flossen in die Wertung ein. Mindestens zwölf Turniere innerhalb eines Jahres musste man gespielt haben, um berücksichtigt zu werden. Den Turnieren wurden Ranglistenpunkte anhand ihres Preisgelds, Größe des Teilnehmerfeldes sowie Stärke des Feldes zugesprochen. Dieses Punktesystem wurde von fast allen ATP-Spielern befürwortet.
23. August 1973: Der Beginn einer neuen Zeitrechnung
186 Profis umfasste die erste Weltrangliste am 23. August 1973. Ausgerechnet den Rumänen Ilie Nastase, bekannt als der Rebell im Herrentennis und etwas skeptisch gegenüber dem Ranglistensystem, spuckte der Computer als erste Nummer eins der Geschichte aus. „Ich hatte Glück, dass ich 1973 mein bestes Tennis spielte und dass es das Jahr war, als das ATP-Ranking begann. Ich hatte nicht viel Zeit, mein Topranking zu genießen. Als ich es hatte, wollte es mir jeder wegnehmen. Mittlerweile kann ich mich zurücklehnen und sagen: ‚Ich habe es geschafft. Ich war die Nummer eins. Was auch immer passiert, es wird nichts daran ändern‘“, sagte Nastase über seine historische Pole-Position im Herrentennis.
Das ATP-Ranking hat alles verändert. Im August 1973 waren die Spieler, die es sich laut der Weltrangliste verdient hatten, berechtigt, an allen Turnieren teilzunehmen – unabhängig von ihrer Nationalität. „Das war die größte Auswirkung des ATP-Rankings auf die weltweite Tour“, sagte Charlie Pasarell, einer der Mitbegründer des ATP-Rankings. „Alle Spieler waren auf derselben Seite, da dies bedeutend war für unser Spiel. Es war vielleicht das wichtigste Kapital der ATP, da wir unseren Zusammenhalt etabliert haben und geholfen haben, dass unser Spiel gesund heranwächst“, erklärte Stan Smith die Bedeutung der Einführung der Weltrangliste.
„Also nun bin ich Nummer eins. Was soll ich nun tun?“
Seit nunmehr 50 Jahren gibt es die Jagd auf die Nummer eins im Herrentennis. „Ob man die Nummer zwei, drei, vier oder fünf ist, ist völlig egal. Es geht darum, die Nummer eins zu sein“, sagte Boris Becker einst – immer noch der einzige Nummer-eins-Spieler aus Deutschland. Becker brauchte einen langen Atem, um erstmals den Weltranglistenthron zu besteigen. Nach seinem fünften Grand Slam-Titel, bei den Australian Open 1991, war es endlich so weit. „Das war ein absoluter Höhepunkt. Letztendlich ist es egal, wann man die Nummer eins wird, wenn man sich das vorgenommen hat. Entscheidend ist, dass man es erreicht hat. Damals ging ein Traum in Erfüllung“, blickte Becker zurück.
Zwei Spieler schafften es ohne einen Grand Slam-Titel bis ganz an die Spitze: Ivan Lendl und Marcelo Rios. Während Lendl nach dem Erreichen der Nummer eins acht Grand Slam-Turniere gewann, blieb Rios die bislang einzige Nummer eins ohne einen Major-Titel. Nummer eins zu sein, bringt nicht nur Verpflichtungen mit sich. Man spürt auch stets den Atem aller Spieler auf der Tour im Nacken. „Es ist so, als wenn man einer Frau hinterherjagt. Die Jagd macht Spaß, aber wenn man sie hat, ist es mit dem Spaß oft vorbei“, sagte Jim Courier über seine Zeit als Weltranglistenerster. Ähnlich erging es Mats Wilander. Als der Schwede nach seinem siebten Grand Slam-Titel bei den US Open 1988 endlich die Nummer eins wurde, fiel er in ein mentales und spielerisches Loch. „Also nun bin ich Nummer eins. Und was soll ich jetzt tun?“, fragte sich der Schwede.
Nummer 1: Die tragische Geschichte von Guillermo Vilas
Andere Spieler wie Roger Federer und Novak Djokovic beflügelt das Gefühl, die Nummer eins zu sein, zu noch besseren Leistungen. Aus einer Position der Stärke heraus dominierten sie ihre Gegner. „Ich bin gerne die Frontfigur. Wenn du die Rangliste anführst, wird es dir nie langweilig. Schließlich hast du die ganze Welt an den Fersen. Jeder ist hinter dir her, jeder will dich schlagen“, sagte Federer, der zwischen 2004 und 2008 237 Wochen in Folge nicht von der Weltranglistenspitze zu verdrängen war.
Die Jagd auf die Nummer eins bringt auch tragische Geschichten mit sich. Der beste Spieler, der es nicht nach ganz oben schaffte, ist zweifelsohne Guillermo Vilas. Trotz 62 ATP-Titeln spuckte der Computer den Argentinier nie auf dem vordersten Platz aus. Auch nicht 1977, als er ein Fabeljahr spielte. Er gewann 16 Turniere, siegte bei den French Open und US Open, erreichte das Finale bei den Australian Open und übernahm dennoch zu keinem Zeitpunkt die Weltranglistenführung. „Ich wollte oft die Aufzeichnungen sehen. Die ATP ließ es nie zu. Jemand ließ mich so schlecht wie möglich dastehen, um mich glauben zu lassen, ich sei nicht die Nummer eins“, sagte der Argentinier tief enttäuscht. Der Antrag des argentinischen Journalisten Eduardo Puppo, der im Jahr 2014 1.119 Seiten Beweismaterial schickte, um Vilas nachträglich zur Nummer eins zu erklären, wurde seitens der ATP mehrmals abgelehnt. So blieb Vilas‘ Jagd auf die Nummer eins auch nach seiner Karriere erfolglos. Um es mit den Worten von Andre Agassi zu sagen: „Nummer zwei zu sein, ist scheiße.“