Heinz Günthardt: „Es herrscht ein Erfahrungsmangel”
Heinz Günthardt, Kapitän der Schweizer Billie Jean King Cup-Mannschaft, spricht im Interview über die aktuelle Volleyschwäche im Profitennis, seine langjährige Zusammenarbeit mit Steffi Graf und die Wichtigkeit des Slice.
Interview: Florian Goosmann
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 8/2023
Herr Günthardt, Sie hatten vor einiger Zeit über die schwachen Volleys im aktuellen Tennis gesprochen, und Sie machten gewissermaßen auch die modernen Schläger dafür verantwortlich. Sie sagten, mit dem Holzschläger musste die Technik noch stimmen, nur hinhalten reichte früher nicht.
(lacht) Ja, so ungefähr. Lassen Sie uns das mal durchdenken. Wenn man einen Schläger beim Volley nur hinhält, besteht ein Kampf zwischen Schlägerkopf und Ball: Der Ball möchte in die eine Richtung, der Schlägerkopf in die andere. Der Schlägerkopf kann nicht stabil sein, wenn er sich nicht bewegt – die Stabilität nimmt zu, wenn er sich bewegt. Man kann sich das mit der Situation verdeutlichen, wenn man ins Meer springt.
Ins Meer?
Wenn eine Welle entgegenkommt, wirft man sich automatisch entgegen, um nicht weggedrückt zu werden. Es ist das gleiche Prinzip. Wenn man einen Schläger nur festhält, ist der Kopf nicht stabil. Man kann ihn nicht kontrollieren – allenfalls, wenn man den Ball exakt genau in der Mitte trifft. Das klappt aber nur in der Theorie, in der Praxis nicht. Wenn man einen Holzschläger früher nur hingehalten hätte, wäre der Ball gar nicht übers Netz gekommen. Der Schlägerkopf war kleiner und über die Längsachse noch instabiler als heute. Der Schläger war zudem flexibler, er hätte sich durchgebogen und das Tempo herausgenommen. Der Ball wäre mehr oder weniger vor einem heruntergefallen. Das ist der Grund, warum es früher schlichtweg notwendig war, die richtige Technik zu lernen und nicht nur zu blocken – sondern etwas entgegenzusetzen.
Und wie ist es mit den aktuellen Schlägern?
Heutzutage funktionieren gewisse Dinge, weil das Material besser ist. Das Feedback war früher aber sinnvoller. Die heutigen Schlägerköpfe sind größer, die Rahmen breiter und daher stabiler. Auch wenn man den Ball nicht perfekt in der Mitte trifft oder den Schläger nur hinhält, geht er übers Netz. Das ist aber nicht gut: Denn wenn man den Ball nur blockt, springt er auf der Gegenseite recht hoch ab. Früher, mit der richtigen Technik, hat man ihm ordentlich Rückwärtsdrall mitgegeben. Der Ball blieb flacher. Es war damit schwieriger für den Gegner, einen zu passieren.
Gibt es noch andere Gründe für die Volleyschwäche auf der Tour?
Meine Generation hat von der vorherigen Generation gelernt, die drei von vier Grand Slam-Turnieren auf Rasen gespielt hat. Die Spieler standen damals ununterbrochen am Netz. Jeder wusste, wie es geht – von der Technik, vom Stellungsspiel. Man wusste, wohin der Volley musste, wie hart er gespielt sein sollte, mit wie viel Unterschnitt. Zu meiner Zeit wurden die Plätze bereits langsamer und vollieren wurde schwieriger. Wir haben nur noch zeitweise Serve-and-Volley gespielt. In Wimbledon ging es noch, an anderen Orten aber nicht mehr. Bei der nächsten Generation wurde es noch mal langsamer. Das Volleyspiel wurde benachteiligt, also haben es immer weniger Profis gespielt. Die heutige Generation wird von Leuten trainiert, die schon selbst nicht mehr Serve-and-Volley gespielt haben, also herrscht auch ein Erfahrungsmangel. Die Trainer wissen über viele Dinge gut Bescheid, aber am Netz ist etwas verlorengegangen.
Die Geschwindigkeit der Plätze sind immer wieder Thema: Die Australian Open 2017 wurden gelobt, weil die Courts so schnell waren. Roger Federer spielte spektakuläre Matches, Mischa Zverev besiegte Andy Murray mit Serve-and-Volley. Dennoch wurde daraus kein Trend. Indian Wells war in diesem Jahr wieder extrem langsam. Wer blockiert, dass es wieder schneller wird?
Das ist eine gute Frage. Es gibt wohl mehrere Komponenten. Eine davon ist das berühmte Wimbledonfinale zwischen Pete Sampras und Goran Ivanisevic 1994. Da wurde fast nur aufgeschlagen. In Paris gab 1982 das Finale zwischen Mats Wilander und Guillermo Vilas. Dort flogen die Bälle hundert Mal übers Netz. Beides war langweilig. Paris wollte also schneller werden, Wimbledon langsamer. Jetzt haben beide ein ähnliches Tempo. Wie so oft, wenn man etwas justieren will, übertreibt man es manchmal. Dabei könnte man in Wimbledon einfach schnellere Bälle nehmen. Andererseits: Es geht ja noch, man kann Serve-and-Volley spielen – aber man muss es eben sehr gut können.
Womit wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs wären.
Pauschal heißt es immer: Keiner spielt mehr Serve-and-Volley, weil man es nicht kann. Das ist aber falsch: Weil es keiner kann, spielt es keiner mehr. Das ist nicht dasselbe. Andererseits dauert es, ein Serve-and-Volley-Spiel zu entwickeln. Und wenn es nur für die fünf Rasenwochen pro Jahr ein Vorteil sein könnte, lohnt es sich selten. Viele Coaches schauen zudem nur aufeinander und machen das, was alle machen.
Es gibt zumindest einige Spielerinnen und Spieler, die etwas anders spielen. Tatjana Maria beispielsweise.
Tatjana Maria spielt keinen Ball wie die anderen Spielerinnen. Dennoch würden wohl 70 Prozent der Trainer sagen, dass man mit ihrem Spiel heutzutage auf der WTA-Tour nicht spielen kann – was eben nicht stimmt.
Muss die Spielerin oder der Spieler selbst von seinem „anderen“ Spiel überzeugt sein? Wie Maxime Cressy bei den Herren, der Serve-and-Volley innig liebt.
Ja klar! Er kommt damit durch, weil sein Spiel so ungewohnt für alle anderen ist. Solche Beispiele gab es früher schon. Natalie Tauziat zum Beispiel. Sie hat ursprünglich von der Grundlinie gespielt. Dann hat sie den Schläger gewechselt, ein Riesenteil, das extrem schnell war. Plötzlich hat sie nur noch Halbvolleys gespielt, ist nach vorne gerannt und hat in Wimbledon das Finale erreicht. Sie hat bewiesen, dass man ganz anders spielen und erfolgreich sein kann. Plötzlich hatten alle Panik und dachten: Was ist denn hier los?
Wenn wir an die aktuelle Spitze bei den Herren blicken: Da spielt ein Novak Djokovic mit 36 Jahren noch ganz oben mit, aber auch ein Carlos Alcaraz mit 20.
Vor ein paar Jahren haben alle gesagt: „Es ist bei den Männern unmöglich, als Teenager vorne zu stehen. Tennis ist zu athletisch geworden!“ Und jetzt? Es war nicht unmöglich, wir hatten nur nicht den richtigen Teenager. Jetzt sind da Carlos Alcaraz, Jannik Sinner und Luca van Assche! Das ist das Tolle am Tennis: Es ist nicht einzufangen. Jeder glaubt, er wisse, wie es läuft – dabei weiß es keiner! Ausnahmespieler gibt es nicht ununterbrochen, sonst wären sie keine Ausnahme. Also hat man auch mal ein Loch. Das heißt aber nicht, dass etwas unmöglich ist. Ich kann selbst nach meiner langen Zeit im Tennis sagen, dass ich diese Sportart nicht verstehe (lacht).
Das Besondere an Alcaraz ist auch, dass er so viel drauf hat. Andere in seinem Alter hatten noch viele Schwächen.
Alles kann er aber auch nicht. Sein Netzspiel ist ausbaufähig. Er ist von hinten so stark, da braucht er keine klassischen Angriffsbälle. Aber auch Rafael Nadal hat seine ersten French Open von der Grundlinie mit viel Rennerei gewonnen. Es gibt viele Möglichkeiten. Man muss nicht alles können, um ein guter Tennisspieler zu sein. Auf Englisch spricht man von „The Art of Reduction“. Wenn man simpel spielen kann, ist es einfacher, es zu wiederholen. Man muss wissen, was man kann – und was nicht. Wenn man das, was man kann, möglichst oft einsetzen kann, spielt man schon mal gut.
Was sagen sie zu Novak Djokovic – kann er womöglich noch drei, vier Jahre dominieren? Federer und Nadal haben sich in seinem Alter schon anders bewegt als in jüngeren Jahren, bei Djokovic sieht man kaum eine Veränderung.
Drei, vier Jahre sind noch sehr lange. Drei oder vier Grand Slams traue ich ihm noch zu. (überlegt) Am Ende geht es oft ganz schnell. Wenn man sich Nadal anschaut, wie er im vergangenen Jahr die Australian Open gewonnen hat: Das war eine der größten Leistungen der Sportgeschichte. Wenn man so etwas schafft, braucht es aber zusätzliche Energie, die man als älterer Spieler ab einem bestimmten Tag nicht mehr ersetzen kann. Erfahrungsgemäß geht es dann richtig schnell. Man hält und hält das Niveau – und plötzlich geht es nicht mehr. Man wird langsamer, es fehlen immer zwanzig, dreißig Zentimeter. Das hört sich nach wenig an, sind aber Welten. Es ist ein Unterschied, ob ich den Ball selbst beschleunigen kann oder nur noch hinten in der Defensive herumhumple.
Lassen Sie uns in Ihre Heimat, die Schweiz, blicken. Roger Federer ist zurückgetreten, Stan Wawrinka ist in den Endzügen seiner Karriere. Aber Sie haben immer wieder neue Leute. Dominic Stricker zum Beispiel. Kann er ganz nach vorne kommen?
Das hoffe ich, kann es aber schwer abschätzen. Aber wir haben nicht nur Stricker: Auch Leandro Riedi spielt gut, dazu ein paar Jüngere. Letztlich müssen viele Komponenten stimmen. Hält der Körper? Sagt einem der Lebensstil zu? Wie ist das Umfeld drauf?
Marc-Andrea Hüsler ist auch eine interessante Story.
Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich: Er hat ein super Timing! Aber ihm fehlte die Athletik, er kam an zu wenige Bälle heran. Mittlerweile hat er viel Selbstvertrauen getankt. Seine ersten guten Resultate hat er in hohen Lagen erzielt, weil er groß ist, so gut aufschlägt und vorkommt. Die Ballwechsel in der Höhe sind kurz. Durch diese Siege stieg sein Selbstvertrauen. Was viele nicht glauben: Auch Bewegung hat mit Selbstvertrauen zu tun. Antizipation bedeutet, man traut sich zu, etwas zu sehen. Und plötzlich bewegt man sich besser und effizienter, weil man sich instinktiver bewegt. Kleine Unterschiede machen so viel aus! Vorher hat man 4:6, 4:6 verloren, plötzlich gewinnt man 6:4, 6:4. Ich hoffe, dass Hüsler noch viele Jahre vorne mitspielt. Ich finde ihn cool, denn er spielt auch ein etwas anderes Tennis.
In Deutschland sind Sie vielen Tennisfans als Trainer von Steffi Graf in Erinnerung. Wie kam es damals zu der Zusammenarbeit?
Ich hatte zuvor fünf Jahre lang das Bundesliga-Team von Rot-Weiß Berlin trainiert. Dorthin hatte Steffi gute Beziehungen. Ihr Vater hatte einen Trainer gesucht, der richtig Tennis spielen konnte und Deutsch sprach. Und – das war interessant: Er sollte verheiratet sein.
Wie bitte?
Das stand auf der Wunschliste. „Wie ist denn die Ehe, alles solide?“, hieß es. Da kamen nicht mehr viele Kandidaten infrage. Ihr Vater hat mir den Sinn dahinter nicht erklärt, aber man kann sich ja denken, warum die Frage kam.
Haben Sie regelmäßig mit Steffi trainiert oder hatte sie einen Hittingpartner?
Ich habe mit ihr gespielt. Als wir 1992 die Zusammenarbeit begonnen haben, war ich ja erst 32 Jahre alt und noch gut im Schlag.
Ist es ein Vorteil, selbst zu spüren, wie die Schläge des Schützlings ankommen?
Selbstverständlich. Beim ersten Training haben wir einen Satz gespielt und ich fand ihren Rückhand-Topspin sehr angenehm für mich. Ich habe sie gefragt: Warum spielst du so viel Rückhand-Topspin? Sie meinte, dass sie umstellen wolle. Ich habe das anders gesehen.
Steffi Graf hatte zwischenzeitlich ihre Rückhand recht oft durchgezogen, unter Ihnen dann fast nicht mehr.
Ich hatte im Vorfeld nicht viel mit ihr besprochen. Aber ich habe mir überlegt, was sie am besten konnte: Sie hat am liebsten die Vorhand aus der Rückhandecke gespielt. Die Frage war also: Welcher Schlag ist optimal, damit sie möglichst oft die Gelegenheit dazu bekommt – ein Topspin oder ein Slice? Es ist der Slice. Auf einen guten Slice kann man als Gegner unglaublich schwer longline spielen. Sollte ich also eher ihren Topspin verbessern – oder schauen, dass der Slice gut kommt? Wenn der beste Schlag die Vorhand aus der Rückhandecke ist, passt ein guter Slice hervorragend!
Hat das jeder in ihrem Umfeld verstanden?
Steffi meinte, man hätte ihr gesagt, dass ihr Spiel altmodisch sei. So etwas kann ich gar nicht hören. Entweder ist etwas gut oder schlecht. Ob alt oder neu, ist völlig egal. Steffis Einstellung zum Slice war kurzzeitig nicht die richtige. Sie hat ihn zu defensiv gespielt. Ihr Slice sollte aber kein defensiver Schlag sein, sondern ein aggressiver. Mit dem sie kurz oder lang spielen oder ihn als Vorbereitungsschlag für den Vorhandschlag nutzen sollte. Ich habe versucht, ihre Ansicht zum Slice zu ändern, nicht den Schlag an sich.
Verrückt, dass sie sich von dem Gerede von außen hat beeindrucken lassen.
Das ist meistens so. Es muss immer modern sein, was auch immer das bedeutet. Aber ein mittelmäßiger Topspin, der hüfthoch aufspringt, hilft keinem weiter. Ich erinnere mich an ein Interview nach den French Open mit einem deutschen Journalisten. Er meinte, ich hätte ja gar nichts umgestellt. Eine interessante Feststellung – schließlich hatte Steffi gerade
das Turnier gewonnen.
Was haben Sie geantwortet?
Danke für das Kompliment! Aber er hat nicht verstanden, wie ich das gemeint hatte. Es ist doch so: Bis jemand gekommen wäre und gezeigt hätte, dass etwas nicht mehr funktioniert – wieso hätten wir etwas ändern sollen? Es hätte keinen Sinn ergeben.
Ein giftiger Slice wäre im heutigen Damentennis eine starke Waffe!
Aber hallo! Man kann ihn kurz spielen oder lang. Die entscheidende Frage ist: Springt er im gegnerischen Feld zehn Zentimeter hoch ab – oder dreißig? Es ist alles eine Sache der Qualität.
Vita Heinz Günthardt
Der Schweizer, 64, gewann im Einzel fünf Titel auf der ATP-Tour und war die Nummer 22 der Welt. Im Doppel gewann er 30 ATP-Titel, darunter in Wimbledon und bei den French Open. Von 1992 bis zu ihrem Karriereende im Jahr 1999 betreute er Steffi Graf. Gemeinsam gewannen sie zwölf Grand Slam-Titel. Zudem trainierte er für kurze Zeit Jennifer Capriati, Ana Ivanovic und Jelena Dokic. Seit 2012 ist er Kapitän der Schweizer Billie-Jean-King-Cup-Mannschaft. 2021 erreichte die Schweiz das Finale, 2022 gewann man den Titel. Günthardt arbeitete mehr als 30 Jahre für das Schweizer Fernsehen als Kommentator.