Flow im Tennis: „Novak Djokovic hat mir die Augen geöffnet”
Der frühere Topjunior und heutige Psychiater Andor Simon interviewte die Stars und ihre Coaches, um den tranceähnlichen Zustand auf dem Court zu entschlüsseln.
Interview: Simon Graf
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 4/2024
Herr Simon, wie kamen Sie darauf, den Flow im Tennis zu untersuchen?
Ich begann, mich ins Thema einzulesen nach dem Pariser Endspiel 2015 zwischen Stan Wawrinka und Novak Djokovic. Ich saß in einer der vordersten Reihen am Court Philippe Chatrier und sah, wie Wawrinka ab dem zweiten Satz nicht mehr zu stoppen war. Er war im Flow. Djokovic hatte zuvor monatelang nicht verloren, aber er merkte: Heute würde er nicht gewinnen. Das war eindrücklich zu sehen. So richtig mit meinen Recherchen begann ich dann nach den Australian Open 2020.
Wieso nach den Australian Open 2020?
Ich war für zwei Wochen dort und konnte aus nächster Nähe erleben, was alles dahintersteckt, um einen Grand Slam-Titel zu gewinnen. Dank meines guten Freundes Dominik Utzinger, damals Coach von Viktorija Golubic, hatte ich eine Akkreditierung für die erste Woche. So konnte ich auch in die Players Lounge. In der zweiten Woche hatte ich durch Frank Denzler, den Chefarzt der Basler Rennbahnklinik, der Djokovic 2018 am Ellbogen operiert hatte, Kontakt zur Entourage des Serben. So bekam ich Tickets für seine Matches. Ich saß sogar in seiner Box, drei Reihen hinter ihm. Was mir einige meiner Tennisfreunde übel nahmen, als sie mich im Fernsehen sahen, spielte er doch im Halbfinale gegen Roger Federer. Aber es war eine extrem spannende Erfahrung, so nah dran zu sein.
Dann also gleich die Frage: Was ist der Flow im Tennis?
Im Flow geht man komplett im Spiel auf. Man wird eins mit Ball und hat das Gefühl, man könne ihn gar nicht mehr verschlagen. Alle Ängste und Ablenkungen, die uns hemmen, sind weg. Der Flow ist das ausgeprägteste Beispiel eines optimalen Leistungszustandes. Es ist ein wunderbares Gefühl, ohne Sorgen. Das Timing ist perfekt, man spürt, welche Bälle man spielen muss. Man nimmt die Umgebung wahr, ohne sich davon ablenken zu lassen oder unter Druck gesetzt zu fühlen. Man weiß: Einem kann nichts passieren. Ich ging beim Begriff des Flow-Zustands von der Definition des ungarischen Glücksforschers Mihaly Csikszentmihalyi aus und näherte mich ihm nun im Tennis an. Neurobiologisch wird beim Flow der gleiche Zustand festgestellt wie bei der Meditation. Es gibt einen ungehinderten Fluss zwischen den verschiedenen Hirnregionen mit einer starken Aktivierung des präfrontalen Cortex. Das ist die Hirnregion, die eine übergeordnete kognitive Funktion hat.
Wenn ich das höre, glaube ich, dass ich auf dem Tennisplatz noch nie im Flow war. Höchstens vielleicht ganz kurz im Training.
(schmunzelt) Das kann sein. Aber vielleicht sind Sie es ab und zu beim Schreiben eines Artikels. Man kann ja in ganz unterschiedlichen Tätigkeiten den Flow spüren. Was mich bei meiner Untersuchung im Tennis überraschte: wie unterschiedlich der Flow von den Profis wahrgenommen wird. Fernando Verdasco war der erste Spitzenspieler, den ich länger dazu interviewte, als er in Basel war. Er sagte, er sei in seiner Karriere vielleicht viermal so richtig in den Flow gekommen. Und Pat Rafter, immerhin zweifacher Grand Slam-Champion, sagte mir, er habe es maximal zehnmal erlebt. Aber ich solle doch Roger Federer fragen, der sei die ganze Zeit im Flow gewesen.
Und, haben Sie ihn gefragt?
Roger Federer ist leider einer der wenigen, den ich noch nicht dazu interviewen konnte. Er ist ja seit zwei Jahren nicht mehr auf der Tour, deshalb traf ich ihn auch nicht bei den Australian Open an. Ich habe einige Anknüpfungspunkte zu ihm, aber bisher hat es noch nicht geklappt. Federer ist natürlich ein spannendes Beispiel. Ich kann mich in seiner ganzen Karriere nur an drei, vier Matches erinnern, in denen er es nicht richtig gespürt hat und jede dritte Rückhand verschlug. Aber sonst hatte ich bei ihm wie auch bei Rafael Nadal und Novak Djokovic fast immer den Eindruck: Er ist voll dabei, mental wie physisch.
Wen haben Sie interviewt zum Flow?
Ich habe ganz viele Gespräche geführt, in der Summe über 100. Mit Spielerinnen und Spielern, mit Coaches und früheren Tennisgrößen. Es war eine sehr spannende Reise. Ich begann meine Recherche im Coronajahr 2020 in der Schweizer Szene. Beni Linder und Michael Lammer von Swiss Tennis fanden das eine gute Idee und haben mich dabei unterstützt. Ich interviewte im Herbst 2020 etwa 20 regionale Spitzenspieler, später unterhielt ich mich auch länger mit Jakob Hlasek, Heinz Günthardt, Martina Hingis und Marco Chiudinelli.
Was sagten sie?
Als ich Martina Hingis erklärte, was ich unter Flow verstehe, sagte sie, sie habe das sehr oft erlebt. Ich war 1998 in Melbourne im Stadion, wie sie im Endspiel Conchita Martinez deklassierte. Ich habe es immer geliebt, ihr zuzuschauen. Was für ein Talent! Heinz Günthardt interessierte sich sehr für die Thematik und hat als Coach von Steffi Graf viel erlebt. Er nahm Maria Sharapova als Beispiel, wie man es schafft, sich immer wieder zu konzentrieren und alles abzuschütteln. Sie drehte vor den Aufschlägen oder Returns ja jeweils ihrer Gegnerin den Rücken zu und tänzelte. Ich fuhr nach Montreux zu Hlasek, was auch sehr interessant war. Da kristallisierte sich für mich erstmals heraus, dass für die Besten der Übergang von einer Topleistung zum Flow-Erleben fließend ist.
Wieso?
Sie haben alle Bausteine, die es braucht, um jederzeit eine optimale Leistung abzurufen. Deshalb sind sie die Besten. Viele Spielerinnen und Spieler erleben nur selten einen optimalen Leistungszustand. Deshalb ist es für sie ein Aha-Erlebnis, wenn sie einmal in den Flow kommen. Bei absoluten Topspielern wie Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer hingegen stimmen schon so viele Faktoren, dass für sie der Übergang zum Flow minimal ist. Sie funktionieren schon grundsätzlich auf einem solch hohen Niveau. Das bestätigten mir übrigens auch Iga Swiatek und Ashleigh Barty.
Was war Ihr aufschlussreichstes Gespräch?
Wenn ich eines wählen muss, dann wohl jenes mit Djokovic. Er hat mir die Augen geöffnet. Ich war ja schon 2023 bei den Australian Open und führte zahlreiche Interviews. Ich war damals beeindruckt, wie es Djokovic schaffte, im Jahr nach seiner Deportation aus Australien seine Emotionen zu kontrollieren. Als er gewonnen hatte, brach dann alles aus ihm heraus. Ich traf Djokovic am Salatbuffet in der Players Lounge und konnte mich mit ihm über seine mentale Stärke und den Flow unterhalten. Er sagte: „Entscheidend ist nicht, wie lange man im Flow verharren kann. Es ist gar nicht möglich, diesen Zustand über ein ganzes Tennismatch aufrechtzuerhalten. Der Schlüssel ist, dass man so schnell wie möglich wieder in diesen Zustand zurückkehrt, wenn man ihn verloren hat. Dass man sich sofort wieder von Neuem fokussieren kann.“ Ich glaube, das unterscheidet die Besten von den anderen: Sie akzeptieren, dass es einen schwierigen Moment gab, lassen diesen dann aber auch gleich wieder los.
Kann man das trainieren?
Die meisten amerikanischen Spieler wie Taylor Fritz, Frances Tiafoe, Ben Shelton, Tommy Paul oder John Isner sagten: „Keine Chance. Du musst einfach so hart wie möglich auf den Ball einschlagen, und dann kommt der Flow vielleicht.“ Auch Dominic Thiem sagte das sowie Coach Patrick Mouratoglou. Andere wie Gilles Cervara, der Coach von Daniil Medvedev, mit dem ich mich mehrmals unterhielt, sagten, dass man das sehr wohl trainieren könne. Mit Meditation oder mit Achtsamkeit im Alltag. Ich teile diese Meinung. Novak Djokovic lebt das ja vor. Er tut sehr viel, um seine Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Er meditiert, er hat sich Atemtechniken angeeignet, die er auf dem Platz anwenden kann. Die Wirkung von Meditation ist inzwischen unbestritten. Bei Zen-Buddhisten, die Tausende von Stunden meditiert haben, kann man das in der Gehirnstruktur nachweisen.
Was kann man tun, wenn Meditation nichts für einen ist?
Der Alltag bietet uns ganz viele Möglichkeiten, Achtsamkeit zu üben. Das kann schon am Morgen unter der Dusche beginnen, indem man eine halbe Minute sehr bewusst wahrnimmt, wie das Wasser auf unseren Körper prasselt. Oder man kann sich achtsam einseifen und abtrocknen. Man kann aber auch das Umgekehrte tun: Wenn einen etwas belastet, kann man ganz bewusst eine halbe Minute daran denken – um es dann loszulassen. Loslassen lernen und sich immer wieder neu zu fokussieren, hilft einem nicht nur auf dem Platz, es ist auch eine gute Lebensschule. Wer besser mit Widrigkeiten umgehen kann, kommt besser durchs Leben. Denn es läuft ja zwangsläufig nicht immer alles so, wie wir uns das wünschen.
Ablenkungen gibt es heutzutage viele. Das Handy ist stets dabei, man schaut sich auf Instagram die neuesten Fotos und Videos an, checkt seine Nachrichten. Ist es heute schwieriger geworden, sich zu konzentrieren?
Ein guter Punkt. Im Gespräch mit Ehemaligen wie Ivan Lendl, Iva Majoli oder Conchita Martinez hat sich in der Tat die Erkenntnis herausgeschält, dass die heutige Generation mehr Mühe hat, sich zu fokussieren. Ich glaube, dass das mit den vielen Ablenkungen zu tun hat. Deshalb haben inzwischen fast alle jungen Spieler einen Mentalcoach, der sie dabei unterstützt, sich zu fokussieren. Interessant war aber auch mein Gespräch mit Adrian Mannarino, einem sehr introvertierten, ruhigen Franzosen. Er sagte, er habe gar kein Problem, sich zu konzentrieren. Er habe ein paar Interessen neben dem Tennis, lasse sich aber nicht groß ablenken. Es ist natürlich auch typenabhängig. Und mit 35 zählt Mannarino ja nun auch schon zu den Älteren auf der Tour.
Wie haben die Spielerinnen und Spieler reagiert, als Sie sie angesprochen haben?
Es half, dass ich eine Akkreditierung hatte und sie wussten, dass ich irgendwie dazu gehöre. Ich war sehr angenehm überrascht, wie offen die meisten für den Austausch waren. Einige hatten nur ein paar Minuten Zeit, mit anderen entwickelten sich längere Gespräche. Ich befolgte natürlich einige Regeln: Ich sprach niemanden am Matchtag an, und ich störte niemanden beim Essen. Ich versuchte herauszuspüren, wann der Zeitpunkt stimmt. Vor allem die ehemaligen Spitzenspieler, die nun Coaches sind, schätzten die Diskussionen sehr und wollten auch von mir wissen, was ich schon herausgefunden habe. Vielleicht waren sie auch froh, dass man sie nicht vergessen hat. Es gab wahnsinnig schöne Begegnungen. Mit Judy Murray saß ich sicher eine Stunde bei Kaffee und Kuchen. Sie war total nett. Andre Agassi traf ich per Zufall in den Gängen der Rod Laver Arena und fragte ihn, ob ich ein Selfie mit ihm schießen könne. Danach verwickelte ich ihn in ein kurzes Gespräch.
Kassierten Sie auch Körbe?
Alexander Zverev war der Einzige, der sagte, er habe keine Zeit. Bei anderen ergab es sich nicht. Ich hätte mich sehr gerne mit Stan Wawrinka unterhalten, aber er verlor leider schon in der ersten Runde. Ich sah ihn einmal beim Essen mit seiner Mannschaft, wollte ihn aber nicht stören. Rafael Nadal verpasste die Australian Open leider. Und Carlos Alcaraz und Jannik Sinner sah ich nie in der Players Lounge. Sie haben offenbar immer anderswo gegessen.
Wen haben Sie sonst noch so interviewt bei den Australian Open 2023 und 2024?
Das ist eine lange Liste. Um nur einige aufzuzählen: Coco Gauff, Holger Rune, Andrey Rublev, Daniil Medvedev, Caroline Garcia, Hubert Hurkacz, Karolina Pliskova, Thanasi Kokkinakis, Alizé Cornet, Sebastian Korda, Belinda Bencic, Karen Khachanov, Céline Naef, Felix Auger-Aliassime, Tomas Martin Etcheverry, die ehemaligen Doppelspieler Paul Haarhuis und Jacco Eltingh oder frühere Spieler wie Jim Courier, Lleyton Hewitt oder Julien Benneteau.
In der Tat eine eindrückliche Liste. Dann müssen Sie ja stundenlang auf der Pirsch gewesen sein in der Players Lounge.
Absolut. Es waren sehr lange Tage. Aber es hat sich gelohnt. Und zwischendurch habe ich mir auch immer wieder ein Spiel in der Arena angeschaut, wenn ich ein Ticket bekommen habe.
Was machen Sie nun mit Ihren Erkenntnissen? Schreiben Sie eine Arbeit darüber?
Exakt. Ich habe sehr viel Material gesammelt, nun werde ich es auswerten und eine wissenschaftliche Publikation darüber verfassen. Natürlich stehe ich gerne als Ansprechpartner zur Verfügung. Es war jedenfalls sehr spannend, all diese Gespräche zu führen, und auch menschlich bereichernd.
Vita Andor Simon
Der Basler Andor Simon war ein talentierter Junior beim Federer-Club Old Boys Basel und schlug sogar den jungen Boris Becker. Mit 15 musste er, in seiner Altersgruppe nationale Spitze, wegen Knieproblemen aufhören. Er blieb dem Sport stets verbunden als Tennisliebhaber. Seit einigen Jahren spielt er wieder intensiver. Statt Tennisprofi wurde er Psychiater, seit 32 Jahren praktiziert er in der Schweiz (Binningen und Basel), zudem ist er Privatdozent an der Universität Bern. Daneben betreut er einige Sportlerinnen und Sportler psychologisch.