Freitag abend, 21.30 Ortszeit. Daniel Brands sitzt in dem kleinen Interviewraum im Bauch des Millenium-Gebäudes. Er trägt eine Brille. Sonst auf dem Court benutzt er Kontaktlinsen. Brands fehlen ein bisschen die Worte. Er kann noch nicht fassen, was gerade passiert ist. Nicht fassen, dass er jetzt als Nummer 98 der Welt zu den besten 16 Spielern von Wimbledon gehört. Nicht fassen, wie sein Drittrunden-Match am Freitag abend gegen Victor Hanescu endete. Nicht fassen, dass er überhaupt gewonnen hatte. Zwei Sätze (6:7, 6:7) lag der 22-Jährige zurück. Dazu kam noch ein Break im dritten Satz (3:5). „Da dachte ich, das war’s“, sagt Brand.
Doch es passierte etwas, womit niemand gerechnet hätte. Brands gelingt das Rebreak, er wehrt insgesamt vier Matchbälle ab, gewinnt den dritten Satz im Tiebreak. Im vierten Satz beginnt das Match zu einem Drama zu werden. Bei 3:4 gegen Victor Hanescu lässt sich der Rumäne behandeln. Er hat offensichtlich Probleme mit seinem Oberschenkel. Es ist die spielentscheidende Szene. Denn von da gewinnt Hanescu kein Spiel mehr.
Drama gegen Hanescu
Es ist inzwischen 20:16 Uhr Ortszeit. Es beginnt, dunkel zu werden. Nach dem Satzverlust und dem 2:2-Ausgleich versucht Hanescu einen Abbruch zu erzwingen. Doch Schiedsrichter und Supervisor durchschauen, dass der Rumäne nicht wegen der etwas schlechteren Lichtverhältnisse, sondern wegen seiner Behinderung am Bein nicht weiterspielen will.
Der fünfte Satz: ein einziges Verzögern von Hanescu. Er ist schwer angeschlagen, Brands spielt klug in die Ecken, Hanescu läuft gar nicht mehr hin. Brands führt 2:0 – und es kommt zum Eklat, der anderentags sogar in den britischen Zeitungen groß thematisiert wird. Ein Zuschauer ruft: „Los Victor, spiel weiter“. Der Rumäne geht zu ihm und beleidigt ihn wüst – Verwarnung. Dann Fußfehler Hanescu, beim ersten Aufschlag, beim zweiten. Es steht 0:30. Es erfolgen erneut Fußfehler. Diesmal sieht es nach Absicht aus. Bis das Match verloren ist, Hanescu zum Schiedsrichterstuhl geht und dem Umpire die Hand gibt. Das Spiel ist vorbei.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Kühnen beim Verlassen des Platzes. Brands‘ Coach Markus Wislsperger grinst: „Mir ist das egal, Hauptsache gewonnen.“ Brands sagt: „Es war nicht schön, dass er es abgeschenkt hat. Ich hätte lieber den Satz zu Ende gespielt.“ Egal – die Überraschung, um das inflationäre Wort Sensation zu vermeiden, war perfekt. Brands sagt: „Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, ich komme in die zweite Woche – ich hätte ihn für verrückt erklärt.“
Zu Fuß zum Flughafen nach München
Daniel Brands – den Namen muss man sich jetzt merken: 22 Jahre als aus Niederbayern, ein Gewächs der Tennis Base in Oberhaching, mit einem Aufschlag wie ein Dampfhammer, einer peitschenden Vorhand und dem auf Rasen so wirkungsvollen Slice. Bislang hieß sein prominentestes Opfer in Wimbledon: Nicolay Davydenko. Den Russen schlug er in Runde zwei in vier Sätzen. Thomas Högstedt, sein früherer Coach in der Base, hat einmal gesagt: „Wenn er nicht weit nach oben kommt, gehe ich zu Fuß zum Flughafen nach München.“ Jetzt kommt die nächste Chance für Brands. Gegen Berdych hat er nichts zu verlieren. Warum soll zu diesem komplett verrückten Wimbledon nicht auch ein Deutscher seinen Teil beitragen?