Jannik Sinner im Porträt: Sein Weg zu Italiens Tennisstar
Mit zwei Grand Slam-Trophäen und dem letztjährigen Davis Cup-Triumph ist Jannik Sinner Italiens populärster Sportler. Sein Biograf Stefano Semeraro beschreibt exklusiv, wie der Junge aus Südtirol zum aktuell besten Tennisspieler der Welt wurde.
Text: Stefano Semeraro (Erschienen in tennis MAGAZIN-Ausgabe 4/2024)
Fast 50 Jahre, nachdem Adriano Panatta bei den French Open 1976 siegte, hat Italien wieder einen Grand Slam-Sieger. Gleichzeitig ist wahrscheinlich ein Champion im Skifahren verloren gegangen. Oder vielleicht ein Fußballspieler für die italienische Nationalmannschaft. Jannik Sinner wurde in Innichen geboren. Er wuchs im Sextener Pustertal auf, in Südtirol – auf Italienisch „Alto Adige“. Es ist eine Region, die viele Talente im Wintersport hervorgebracht hat, aber nicht nur. Von Gustav Thöni (Ski alpin) bis Carolina Kostner (Eiskunstlauf), von Klaus Dibiasi (Turmspringen) über Armin Zöggeler (Rodeln) bis zum Tennisprofi Andreas Seppi. Als Jugendlicher war auch Jannik sehr stark im Skifahren, einer der Besten bei den unter Zwölfjährigen im ganzen Land. Aber sein Weg sollte ein anderer werden.
Sein erster Lehrer, Andreas Schönegger, folgte ihm im Winter auf die verschneiten Pisten und im Sommer auf die Tennisplätze. Dort zeigte der kleine Jannik mit seinem langen roten Haarschopf und dem für seine wenigen Muskeln zu schweren Schläger bereits sein Talent – und seine Besessenheit vom Tennis. „Seine Mutter flehte mich an, ihn aus dem Haus zu holen, denn im Haus machte er alles kaputt, indem er versuchte, das Licht ein- und auszuschalten, indem er den Schalter mit dem Ball traf“, erzählt Schönegger. Der junge Jannik war aber auch ein Talent im Fußball, wo er einen ausgeprägten Hang zum Dribbeln hatte. So sehr, dass ihn sein Vater Hanspeter, von Beruf Koch auf der Talschlusshütte im Fischleintal und in seiner Freizeit Trainer vom Fußballverein in Sexten, einmal während eines Spiels auswechseln musste. Er rief dem Filus zu: „Hier spielt man nicht allein!“
Die Familie als Schlüssel zum Erfolg
Die Familie ist der Schlüssel, um die Erfolge von Sinner zu verstehen. Vater Hanspeter und Mutter Sieglinde, die auf der Talschlusshütte als Kellnerin arbeitete, vermittelten ihm eine große Arbeitsmoral und ein frühes Gefühl für Verantwortung und Selbständigkeit. „Wenn ich von der Schule nach Hause kam, waren meine Mutter und mein Vater bei der Arbeit“, sagt Sinner. „Ich hatte Tennis- oder Skitraining und musste für mich selbst sorgen.“ Sein älterer Bruder Marc, geboren in Rostov (Russland), der adoptiert wurde, als die Sinners dachten, sie könnten keine Kinder bekommen, sowie der geliebte Großvater Josef, spielten eine wichtige Rolle. Opa Josef war es, der mit dem kleinen Jannik lange Waldspaziergänge unternahm oder ihn zum Tennisunterricht begleitete.
Später besuchte Sinner das Walther-Institut in Bozen, was bedeutete, um fünf Uhr morgens aufzustehen, zwei Busse und einen Zug zu nehmen und insgesamt zwei Stunden zu fahren. „Jannik hat sich aber nie beschwert“, erinnert sich sein damaliger Tischnachbar Raphael Mahlknecht, heute Mitglied der Ski-Telemark-Nationalmannschaft, „und er war einer der Fleißigsten.“
Jannik Sinner said some beautiful words about his parents after winning the Australian Open:
“Everyone who’s watching from home, especially my family.. I wish everyone could have my parents. They always let me choose whatever I wanted to. Even when I was younger, I played some… pic.twitter.com/4Uw3bKGjCJ
— The Tennis Letter (@TheTennisLetter) January 28, 2024
Trainerkarussell bei Jannik Sinner
Nach Schönegger als Tennislehrer hatte Sinner Heribert „Hebi“ Mayr, den „Guru“ in Südtirol, als Coach. Zu Hebi hatte ihn Alex Vittur gebracht, der bis heute der wichtigste Mann in seinem Team ist, wenn es um das Management geht. Vittur, der zusammen mit Andreas Seppi und Simone Vagnozzi beim TC Caldaro aufwuchs, ist ein Freund der Familie und die ehemalige Nummer 605 der Weltrangliste.
Dem Profitennis zog er bald das Familienunternehmen vor, studierte an der Harvard Divinity School in Boston und der London School of Economics. Doch als er das erste Mal mit Jannik spielte, bemerkte er bald, dass der Junge nicht nur Kanonenkugeln auf dem Platz abfeuerte, sondern dies auch mit einer riesigen Begeisterung tat. Auch Mayr erkannte schnell das Potenzial des rothaarigen Jungen und wies ihn seinerseits auf Andrea Spizzica hin. Ein ehemaliger Tennisspieler, der der Liebe wegen ins Südtiroler Pustertal nach Bruneck gezogen war, wo er mit seinem Partner eine Tennisschule eröffnet hatte.
„Man konnte sofort sehen, dass er gut war, obwohl er erst sieben Jahre alt war. Dass er sich gut bewegte, dass er sich mitreißen ließ. Er sprach kein Wort Italienisch, und ich sprach null Deutsch, aber auf dem Platz konnten wir uns verstehen. Gespielt hat er nur sehr wenig, ein- oder zweimal pro Woche im Sommer, einmal im Winter. Besser war er auf der Skipiste. Um zu uns zu kommen, fuhr er sehr früh morgens mit seinem Großvater von Sexten los, spielte um sieben Uhr morgens mit mir, dann noch eine Stunde mit ‚Hebi‘. Er lernte schnell, er konnte sein Niveau halten, er machte fast nie einen Fehler. Und vor allem hat er alles mit einem Lächeln getan“, sagt Spizzica.
In den meisten Karrieren gibt es immer ein Element des Zufalls und Sinner bildet da keine Ausnahme. „Es gab nur zwei Vereine in der Gegend“, fährt Spizzica fort. „In dem anderen gab es einen Lehrer, der im Winter auch Skilehrer war. Mit zehn Jahren war Jannik die Nummer zwei in Italien im Slalom. Wäre das mit dem anderen Lehrer passiert, hätte er vielleicht mit Slalom weitergemacht!“
Sinner fokussiert sich auf Tennis
Jannik hatte jedoch allmählich keine Lust mehr auf Skifahren und Mutter Sieglinde machte sich Sorgen, dass er sich verletzen könnte. Der erste richtige Durchbruch gelang dem Tennisspieler Jannik Sinner im Alter von elf Jahren, als er als völlig Unbekannter das Halbfinale des prestigeträchtigen Lambertenghi-Cups erreichte. „Die anderen Trainer“, erzählt Spizzica, „kamen und fragten mich: Wer ist dieser Sinner, wie trainiert er? Ich erklärte ihnen, dass wir zwei Tage in der Woche spielten, keine Fitness. Und sie lächelten dabei: ‚Der kann doch gar nichts werden.‘ Aber innerlich dachte ich, dass es einen Grund geben musste, wenn Jannik sogar mit denen mithielt, die sechs Tage pro Woche trainierten.“
Für Sinners nächste Station müssen wir nach Ortisei springen, zum 8. November 2014, als Sinner den Weg von Massimo Sartori, dem langjährigen Trainer von Andreas Seppi, kreuzte. „Alex Vittur hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht. Andreas Seppi sollte an diesem Tag dort spielen, musste aber in letzter Minute absagen. Also ging ich mit Jannik auf den Platz.
Am Ende war ich tot, zwei Dinge hatten mich beeindruckt. Das sehr rote und sehr lange Haar und die Harmonie, mit der er die Rückhand schlug – die Vorhand war weniger eindrucksvoll. Die Bewegung des Aufschlags war im Stil von Andy Roddick oder Gael Monfils, mit dem einfüßigen Start. Nach dem Training blieben wir eine Weile stehen, um uns zu unterhalten, und ich begann zu verstehen, was für ein Typ er war“, schildert Sartori.
Erste Stationen auf der Reise zum Profi
Zwei Monate später war Jannik wieder in Bozen, dieses Mal zum Training mit Seppi. „Das Erstaunliche“, sagt Sartori, „war, dass er, wenn Andreas hart schlug, ihn überpowern wollte. Und das ist ihm gelungen. “Der nächste Schritt bestand darin, Janniks Eltern davon zu überzeugen, dass ihr Sohn weit von zu Hause wegziehen müsse, um ein Tennis-Champion zu werden. In das Piatti Tennis Center in Bordighera, Ligurien. „Sie hörten mir aufmerksam zu, schließlich fragte der Vater mich: ‚Warum willst du Jannik nach Bordighera bringen?‘ Ich antwortete: ‚Weil, wenn ich ihn nicht nach Bordighera bringe, bedeutet das, dass ich meinen Job nicht richtig machen würde.‘ ‚Okay‘, sagten die Eltern, ‚wir werden Jannik fragen. Wenn es für ihn in Ordnung ist, ist es für uns auch in Ordnung.‘“
Von da an begann der eigentliche Aufstieg zum Erfolg. Die ersten Wochen waren nicht leicht für Jannik, der schon im Auto, das ihn von Ost nach West quer durch Italien, von den Bergen bis zum Meer, brachte, ein paar Tränen unterdrückt hatte. „Ich wollte nicht, dass sich meine Eltern Sorgen machen“, so Sinner. Der Eindruck an der Akademie von Riccardo Piatti war für Sinner ein Kulturschock: „Ich war es gewohnt, ein- oder zweimal pro Woche zu trainieren, während ich jetzt den ganzen Tag damit beschäftigt war und selbst im Fitnessstudio wurde täglich gearbeitet“, sagt er.
Holprige Anfänge & Zeit bei Familie Cvjetkovics
Viel Tennis, etwas Heimweh. „Ab und zu“, erzählte Sinner vor ein paar Jahren, „bekam ich eine Nachricht von meinem Vater: ‚Hallo, ist alles in Ordnung?‘ Sie sind glücklich, wenn ich Spaß habe, das war schon immer so. Wenn wir alle zusammen sind, sind wir glücklicher, weil wir uns so wenig sehen. Aber sie haben verstanden, dass das genau das ist, was ich machen will. “In Bordighera reift Jannik noch schneller, unterstützt von Luka Cvjetkovic, dem kroatischen Lehrer, den Riccardo Piatti für Sinner vorgesehen hatte. „Am Anfang hat er schlecht Italienisch gesprochen, mit einem sehr starken deutschen Akzent. Er hatte vor allem mit Verben zu kämpfen, aber wir haben uns verstanden und mit ihm in unserer Familie ging alles von Anfang an gut“, erzählt Cvjetkovic.
Die Cvjetkovics waren bereits zu fünft: Luka, seine Frau Helen, die Kinder Jana und Frano und der Hund Jalta, ein großer Schäferhund. „Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen. Wir beschlossen, dass wir, da wir bereits zwei Kinder hatten, es auch mit drei schaffen könnten. Anfangs schaute Jannik noch etwas Skifahren im Fernsehen, nach sieben oder acht Monaten dann nurnoch Tennis.“
„Er war den ganzen Tag eigenständig und abends, nach dem Essen, saß er in seinem Zimmer und sah sich die Spiele auf YouTube an. Er half im Haus mit, wie alle anderen auch. Ab und zu gab es mit allen zusammen eine Pizza, einen Film oder einen Hamburger. Sein Vater ist Koch, und er kann auch gut kochen. Er hat uns Knödel mit jeder Menge Strudel und Gulasch mit viel Speck gemacht, die Spezialitäten von seinem Zuhause. Das Problem waren die Nudeln: Wenn meine Frau sie zu lange kochte, drehte er durch“, erinnert sich Cvjetkovic.
Der Durchbruch eines Furchtlosen
Die Tenniseinheiten bei Riccardo Piatti, der bald wie ein zweiter Vater für Jannik wurde, und das Training mit Novak Djokovic und Maria Sharapova waren das Sprungbrett für Sinner, der 2019 mit 17 Jahren die Saison mit dem Sieg beim Challenger-Turnier in Bergamo begann und sie als Nummer 78 der Welt beendete, indem er Alex de Minaur im Finale der ATP NextGen Finals in Mailand besiegte. „Für mich verkörpert Jannik die Kunst der Einfachheit“, erklärt Cvjetkovic. „Als Kind hat er alles schnell gelernt, er nahm wie ein Schwamm alles auf, er hatte eine höhere Leistungsfähigkeit als andere in seinem Alter.
Er hatte nie Angst, Rennen zu fahren, weder auf dem Fahrrad noch auf dem Roller, er hat immer Vollgas gegeben. Er fragte sich nicht: ‚Was ist, wenn ich stürze?‘, er schloss die Möglichkeit eines Sturzes aus. Aber er machte sich große Sorgen um andere. Als unser Sohn Frano einmal mit seinem Roller einen Unfall hatte, wurde er weiß wie eine Wand und war noch verzweifelter als wir. “Sensibilität, Verantwortung und eine gehörige Portion Selbstvertrauen. „Er hat mir immer gesagt: ‚Luka, ich muss die Schläge gut lernen, aber ich habe keine Zweifel: Wenn mir die Dinge klar werden, schlage ich sie alle.‘“ Sein Weg in die Spitze hat nicht lange gedauert. Zu schade für den Skisport und den Fußball.