Es war kurz nach halb acht am Samstag abend. Philipp Kohlschreiber saß keine 20 Minuten nach seiner bitteren Fünfsatz-Niederlage (6:2, 3:6, 3:6, 7:6 (1), 4:6) im kleinen Interviewraum im Stade Roland Garros. Zu passiv sei er am Ende gewesen. Nicht aggressiv genug. Schlecht aufgeschlagen habe er. „Ich habe nicht so gespielt, wie ich wollte.“ Knappe zehn Minuten bot Kohlschreiber einem Dutzend Zuhörern Einblicke in seine Gefühlslage. Kohlschreiber mag sich in der Vergangenheit manches Mal im Ton vergriffen haben. Einige seiner Aussagen wurden ihm als arrogant ausgelegt, respektlos gegenüber den Topspielern.
Diesmal zündete seine Analyse in jedem Satz. Sie war präzise formuliert und treffend. Etwa als er die Situation im fünften Satz beschrieb. Fünf Minuten habe Verdasco Schwäche gezeigt. Mehr nicht. In dieser Phase sei er selbst müde gewesen. Habe nur reagiert, statt agiert. „Es tut doppelt weh, wenn man die Chancen sieht“, sagte Kohlschreiber. Aber: „Meine Bälle haben an Wirkung verloren.“ – „Mir hat die letzte Kraft gefehlt.“ Warum? Weil er sich „die letzten Tage“ nach eigener Aussage „nicht gut gefühlt“ hat. Leicht erkältet ging Kohlschreiber in die Partie.
Okay, aber Verdasco war auch nicht fit, wie jeder auf dem Platz sehen konnte. Schon im ersten Satz pumpte er nach kurzen Ballwechseln. Den Satz gewann Kohlschreiber 6:2. Dann wurde Verdasco stärker, und das Match drehte sich. Wie das bei Fünf-Satz-Matches zwischen etwa gleich guten Gegnern immer so ist. Der eine lässt etwas nach, der andere wird etwas besser. Schon ist die Wende da.
Kohlschreibers große Chance
Ungemütlich war es draußen, als Verdasco mit 2:1 Sätzen führte. Nass-kalt. Der Wind wehte zum Teil so stark, dass der Ballwurf vor dem Aufschlag vom Winde verwehte. Es passte zu dem kuriosen Wetter im Pariser Frühling, dass Kohlschreiber im vierten Satz auf 4:0 davoneilte. Aber ebenso schnell, wie er in Führung ging, war er sie auch wieder los – 4:5. Verdasco hatte fünf Spiele in Folge geholt.
Kohlschreiber glich aus – 5:5. Das nächste Aufschlagspiel Verdascos war so kurios wie das ganze Match. Bei 30:15 serviert der Spanier zwei Doppelfehler. Dann winkt er ab. Er kann nicht mehr. Humpelt auf einem Bein zur Bank. Es ist eine Schwäche der ATP-Regelung, dass ein Spieler in so einer Phase eine Verletzungspause nehmen darf. Mitten im Spiel.
Verdasco lässt sich minutenlang behandeln. Eine Blase? Man kann es von der Tribüne auf dem Court Suzanne Lenglen nicht genau erkennen. Später stellte sich heraus, Verdasco hatte ein Problem mit seinem Zeh, der Zehnagel war abgebrochen. Die Fernsehaufnahmen zeigen, wie er mit der Pinzette an seinem großen Zeh hantierte. Dann zog er sich drei Socken an und es ging weiter – Break für Kohlschreiber. Verdasco schluckt beim Seitenwechsel drei Tabletten. Und dann folgte das schwächste Aufschlagspiel des Deutschen im ganzen Match. Es ging in den Tiebreak, den Kohlschreiber wieder klar beherrschte.
Verdasco ein Schauspieler?
Ist das Match zu Ende? Gibt Verdasco auf? Er humpelte wieder zur Bank, zog den linken Fuß nach. Dann hüllte er das Gesicht ins Handtuch. Später erzählte Verdasco, dass er unglaubliche Schmerzen gehabt habe. Mats Wilander analysierte später treffend: „Es war mir bei ihm zu viel Drama“. Was stimmt. Denn im fünften Satz war Verdasco nicht viel von einer Behinderung anzumerken. Vielleicht wirkten die Schmerzmittel. Vielleicht war alles nicht so schlimm.
Zu viel Drama. Bei Kohlschreiber war es zu wenig. Zu wenig die Faust zeigen, zu wenig absoluter Siegeswillen. Er spürte die Chance Anfang des fünften Satzes, aber er nutzte sie nicht. Verdasco feuerte sich nach gewonnenen Punkten an, als ginge es um sein Leben. Bei verlorenen lamentierte er. Ein Schauspieler, ja, aber kein unfairer. Es war keine Show, auch wenn man den Eindruck gewinnen konnte, weil Verdasco Mitte des fünften Satzes wieder Gas gab, zum 4:3 das entscheidende Break machte.
Kohlschreiber verpasste die große Chance Anfang des fünften Satzes. Er hätte mehr tun müssen, auch wenn auch er platt war. Damit kein falscher Eindruck: Kohlschreiber ist ein guter Sportsmann, seine Rückhand gehört zu den besten der Welt (sein Aufschlag leider nicht), aber die letzte Entschlossenheit, der Killer-Instinkt fehlt oft. Und so muss man am Ende attestieren: Paris 2010 offenbarte die alten Leiden des Philipp K.
Mit dem Auto nach Hause
Wie es weitergeht? Philipp Kohlschreiber fuhr gestern erst einmal nach Hause – mit dem Auto. Die Planung habe er getroffen, weil noch nicht klar war, ob es Behinderungen durch die Aschewolke geben würde.
Die Aschewolke ist längst Geschichte – und die Deutschen in diesem Jahr in Paris auch.