RECORD DATE NOT STATED 3rd July 2024; All England Lawn Tennis and Croquet Club, London, England; Wimbledon Tennis Tourna

Schreck lass! Jannik Sinner wurde 2024 zweimal positiv getestet, durfte aber stets weiterspielen und ist mittlerweile freigesprochen. ©Imago

Dopingfall Jannik Sinner: Was wir bislang zu dem Fall wissen

Der Dopingfall Jannik Sinner mischt die Tennisszene auf. tennis MAGAZIN beantwortet die wichtigsten Fragen zu einem bemerkenswerten Vorgang.

Die Nachricht erschütterte gestern die Tennisszene: Jannik Sinner, aktuelle Nummer eins der Herren-Weltrangliste, hatte im März 2024 bei Turnier in Indian Wells zwei positive Dopingtests. Doch damit nicht genug: Sinner wurde weder länger suspendiert, noch erhielt eine größere Strafe – bis auf die aberkannten 400 Weltranglistenpunkte und das Preisgeld über 300.000 Dollar, das er zurückzahlen muss.

Es sei ihm nichts vorzuwerfen, hieß es nun gestern in einem Statement der International Tennis Ingerity Agency (ITIA). Ein Freispruch auf ganzer Linie, weil die bei den positiven Dopingtests festgestellte unerlaubte Substanz unwissentlich in Sinners Körper gelangt sei – durch die Hände seines Physiotherapeuten. Die WADA (Welt-Doping-Agentur) und die italienische Anti-Doping-Behörde können noch Einspruch gegen das Urteil einlegen.

Der Dopingfall Jannik Sinner wirft nun eine Menge Fragen auf. tennis MAGAZIN beantwortet diese und hält sich dabei vor allem an die offizielle Urteilsbegründung der ITIA sowie an öffentliche Statements und Einschätzungen von Experten.

Wann wurde Jannik Sinner positiv getestet?

Die Tests wurden am 10. und 18. März 2024 beim Turnier in Indian Wells durchgeführt. In beiden Fällen wurde in Sinners Urinproben das verbotene Steroid Clostebol gefunden. Die erste Probe wies einen Wert von 76pg (Pikogramm) pro Milliliter auf. Die zweite wurde mit 86pg pro Milliliter gemessen. Ein Pikogramm entspricht dem Billionstel eines Gramms.

Die Ergebnisse der Tests erhielt Sinner jeweils knapp einen Monat später. Damit einhergingen jeweils „vorläufige Spielsperren“: Das erste Mal vom 4. bis 5. April 2024, also vier Tage nachdem Sinner das Masters-Turnier in Miami gewonnen hatte. Ein zweites Mal war Sinner vom 17. bis 20. April 2024 gesperrt.

Dopingfall Jannik Sinner

Jannik Sinner mit seinem Team nach dem Triumph Ende März 2024 in Miami. Kurz danach wurde er über seinen ersten positiven Dopingtest informiert.Bild: Imago

Die erste Kurz-Suspendierung war vor dem Masters-Turnier in Monte Carlo, bei dem Sinner im Halbfinale gegen Stefanos Tsitsipas verlor. Die zweite Mini-Sperre erfolgte unmittelbar vor dem Masters-Turnier in Madrid, wo es – zumindest im Nachhinein – zu bizarren Szenen gekommen ist: Er nahm an der Auslosung teil und sprach vor dem Turnier mit der Presse, während er suspendiert war, und die Sperre wurde während des Turniers rechtzeitig aufgehoben, damit er spielen konnte. Zum Viertelfinale gegen Felix Auger-Aliassime trat er wegen Hüftproblemen nicht mehr an.

Warum waren die Suspendierungen von Sinner so kurz?

Weil er gegen die vorläufigen Spielsperren juristisch vorgegangen ist und mit seinen Klagen erfolgreich war. Folgender Grundsatz der ITIA ist dabei wichtig: „Wenn ein Spieler erfolgreich gegen eine vorläufige Sperre Berufung einlegt, bleibt diese anonym.“ Damit nutzte Sinners Team eine Hintertür in den Anti-Doping-Regeln im Tennis. Denn eigentlich – so wurde es zumindest 2016 offiziell vereinbart – sollen Sperren nach positiven Dopingtests öffentlich gemacht werden. Das Ziel der ITIA: mehr Transparenz in den Anti-Doping-Kampf zu bringen. Zehn Tage, nachdem die vorläufige Suspendierung in Folge eines positiven Dopingtests angelaufen ist, wird sie von den ITIA öffentlich gemacht.

Warum nun Sinner mit seinen Berufungsklagen gegen die Suspendierungen Erfolg hatte, erklärte Richard Ings dem italienischen Tennis-Portal Ubitennis. Ings, der von 2001 bis 2005 Leiter des Anti-Doping-Programms der ATP und von 2005 bis 2010 CEO das australischen Anti Doping-Behörde war, gilt als anerkannter Experte auf dem Gebiet „Doping im Tennis.“ Seiner Meinung nach wurden die Regeln „genau eingehalten.“ Sinners Anwälte hätten jeweils noch am Tag der Suspendierung „einen Antrag auf dringende Aufhebung“ gestellt – mit der Begründung, ihr Klient hätte „kein Verschulden“ an den positiven Dopingtests. Ings: „Eine beschleunigte Anhörung in solchen Fällen ist ein Bestandteil des Regelwerks.“ Ein unabhängiges Gericht, das von Sport Resolutions, einer privaten Firma, die häufig Dopingfälle überwacht, eingesetzt wurde, stimmte der Aufhebung beider Suspendierungen zu.

Im Fall von Simona Halep lief das 2022/2023 anders: Sie hatte keinen Erfolg mit ihren Klagen gegen eine vorläufige Suspendierung. Deswegen wurde ihr Dopingfall bekannt, bevor es ein finales Urteil eines unabhängigen Gerichts gab.

Welche verbotene Substanz wurde bei Sinner gefunden?

Es wurde das anabole Steroid Clostebol gefunden, das auf der schwarzen Liste der weltweiten Anti-Doping-Agentur steht und in die Kategorie der verbotenen anabolen Wirkstoffe fällt. Es ist eine dem Testosteron ähnliche Substanz, die für ihre leistungssteigernden Effekte bekannt ist. Clostebol steht seit mindestens 30 Jahren im Mittelpunkt zahlreicher Dopingfälle. Insbesondere stimuliert die Substanz die Proteinsynthese, fördert also die Zunahme von Muskelmasse und kann dazu beitragen, die Erholungszeit der Muskeln nach einer intensiven Trainingseinheit zu verkürzen.

Clostebol war eine der Schlüsselsubstanzen, die in der DDR im Skandal des „Staatsdopings“ verwendet wurden. Die Athleten waren jahrelang dazu gezwungen, einen Mix aus Substanzen, darunter dieses Steroid, einzunehmen. Von „Wunderspritzen“ war damals die Rede. Viele von ihnen, insbesondere Frauen, erlitten schwere Nebenwirkungen aufgrund der langfristigen Einnahme des Steroids. Die ARD-Doku „Tod für Olympia – Der Fall Birgit Dressel“ beleuchtet dieses traurige Kapitel der deutschen Sportgeschichte auf eindrückliche Weise.

Für den Fall Sinner ist es wichtig zu wissen, dass der Wirkstoff Clostebol in verschiedenen therapeutischen Cremes und Sprays enthalten ist, die in einigen Ländern rezeptfrei erhältlich sind – zum Beispiel in Italien. In Deutschland dagegen sind Sprays und Salben mit Clostebol gar nicht erst zugelassen. In Italien wurden allein zwischen 2019 und 2023 insgesamt 38 Athletinnen und Athleten positiv auf Clostebol getestet, berichtete der auf Dopingthemen spezialisierte Journalist Edmund Willison in seinem Newsletter „Honest Sport“ bereist im Mai 2024. Unter ihnen waren zwei Tennis-Junioren: Matilde Paoletti und Mariano Tammaro. Auch in ihren Fällen waren angeblich unbeabsichtigte Kontaminationen der Auslöser für die positiven Dopingbefunde.

Wie gelangte nun das Clostebol in den Körper von Sinner?

Die ITIA-Untersuchung ergab, dass Sinners Athletiktrainer Umberto Ferrara ein rezeptfreies Heilspray mit Clostebol nach Indian Wells mitbrachte. Ferrara hatte das Spray, das unter dem Markennamen „Trofodermin“ vertrieben wird, im Februar 2024 in Bologna gekauft. Dem unabhängigen Gericht liegt die Quittung für den Kauf dieses Sprays vor.

Nun kommt Giacomo Naldi ins Spiel, der Physiotherapeut von Sinner, der ebenfalls in Indian Wells war. Er schnitt sich am 3. März 2024 beim Griff in seinen Kulturbeutel mit einem Skalpell in den kleinen Finger seiner linken Hand. Das Skalpell hat Naldi eigenen Angaben zufolge stets dabei, um damit die Schwielen an den Füßen von Sinner während zu behandeln. Nach dem Schnitt verband Naldi zunächst seine Wunde für zwei Tage.

Im Netz tauchte nun ein Foto auf, das ihn während des Turniers in Indian Wells auf der Tribüne sitzend zeigt. Darauf ist zu erkennen, dass er einen verbundenen kleinen Finger hat. Als Sinner übrigens den Verband bei seinem Physiotherapeuten sieht, fragt er ihn, ob ein Mittel zur Versorgung der Wunde nutzen würde. Die Antwort von Naldi lautete: „Nein.“

Auf Anraten von Athletiktrainer Ferrara benutzte Naldi aber zwei Tage später das „Trofodermin“-Spray, um die Schnittwunde doch zu behandeln. Wie in der vollständigen Entscheidung des Gerichts nachzulesen ist, befand sich das Spray nicht mehr in seiner Originalverpackung und Naldi „überprüfte weder den Inhalt des Sprays noch sah er, dass auf dem Etikett des Behälters ‚Clostebol‘ stand“. Naldi sprühte nun täglich seine Wunde ein und führte zwischen dem 5. und 13. März Massagen und Behandlungen an Sinner durch.

In der Erklärung des Teams von Sinner heißt es: „Der Physiotherapeut hat Jannik behandelt, und seine mangelnde Sorgfalt in Verbindung mit verschiedenen offenen Wunden an Janniks Körper hat die Kontamination verursacht.“ Diese offenen Wunden insbesondere am Rücken und den Füßen von Sinner sind auf eine „Psoriasiforme Dermatitis“ zurückzuführen. Dabei handelt es sich um eine an Schuppenflechte ähnelnde Hautkrankheit, die mit großem Juckreiz insbesondere an Füßen und Rücken bei Sinner auftritt. Durch die zum Teil aufgekratzten Stellen soll die verbotene Substanz in seinen Körper gelangt sein.

Naldi, der Physiotherapeut, nutzte bei seinen Behandlungen keine Handschuhe. Und ob er sich nach der Verwendung des „Trofodermin“-Spray die Hände wusch, bevor er Sinner durchmassierte, wisse er nicht mehr. Die ITIA spricht deswegen in ihrem Freispruch von einer „unwissentlichen transdermalen Kontamination“.

Wie kam es nun zu Sinners Freispruch in dem Dopingfall?

In der von der ITIA veröffentlichten vollständigen Entscheidung äußerte sich Professor David Cowan, ein wissenschaftlicher Experte, der mit der Überprüfung von Sinners Erklärung beauftragt wurde, zu den in Sinners Proben gefundenen Mengen an Clostebol. Cowan sagt: „Selbst wenn die Verabreichung absichtlich erfolgt wäre, hätten die geringen Mengen, die gefunden wurden, keine relevante Doping- oder leistungssteigernde Wirkung auf den Spieler gehabt.“

Auch die anderen Experten, in dem Fall involviert waren, sehen „keine Schuld oder Fahrlässigkeit“ bei Jannik Sinner. Entsprechend kam es zum Freispruch nach einer abschließenden Anhörung am 15. August.

Jamie Singer, ein Anwalt von Sinner, bezeichnete seinen Klienten in einem abschließenden Statement als den jüngsten Athleten, der den Fehlern seines Teams zum Opfer gefallen ist, und sagte, dass die ITIA seine Unschuldsbehauptung bezüglich der absichtlichen Einnahme einer verbotenen Substanz nicht in Frage gestellt hat.

Warum verliert Sinner trotz Freispruchs Weltranglistenpunkte und Preisgeld?

Die in Indian Wells 2024 erspielten Weltranglistenpunkte (400) und das Preisgeld (300.000 Dollar) darf Sinner nicht behalten. In seinem aktuellen ATP-Profil sind sie bereits gelöscht. Dass Sinner die Punkte und das Preisgeld von Indian Wells verliert, ist so in den ITIA-Regeln festgelegt. „Er verliert automatisch Punkte und Preisgelder bei dem Turnier, bei dem er positiv getestet wurde. Das ist auch dann vorgeschrieben, wenn der positive Befund absolut unverschuldet ist, das ist also alles regelkonform“, erklärt Experte Richard Ings.

Profitierte Sinner von einem „Promi-Bonus“?

Dazu muss man wissen, dass die Urteilsfindung der ITIA größtenteils mit anonymisierten Daten und Fakten abläuft. Heißt: Die unabhängigen Experten, meist hoch dekorierte Wissenschaftler in ihrem jeweiligen Fachbereich, wissen in der Regel nicht, wessen Probe sie untersuchen oder wessen Argumentation gegen eine Strafe sie prüfen. Dennoch ist es für einen Spieler wie Jannik Sinner etwas „einfacher“, sich gegen eine drohende Spielsperre zur Wehr zu setzen, weil er über die nötigen Ressourcen verfügt.

Konkret heiß das: Sinner hat gute Anwälte und vor allem das Geld, diese zu bezahlen. Experte Richard Ings schätzt, dass sich bei Sinner schon jetzt mehr als eine halbe Million Dollar Anwaltskosten angesammelt haben. Bei solchen Summen wird klar: Das kann sich längst nicht jeder Tennisprofi leisten und führt auch im Anti-Doping-Kampf zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft.