Herrentennis in den USA: Amerikanischer Aufschwung
Das Herrentennis in den USA steht mit vier Top-20-Spielern sowie zwei Top-10-Spielern so gut da wie lange nicht. Über die Gründe für den Aufstieg.
Brave New World (Schöne neue Welt). So heißt nicht nur ein zeitloser Roman aus dem Jahr 1932 vom Autor Aldous Huxley. Brave New World war auch ein Slogan einer Marketingkampagne der ATP im Jahre 2007 für die Umstrukturierungspläne auf der Herren-Tour. Schaut man sich die Entwicklung im US-Herrentennis in den letzten Jahren an, dann passt der Claim „Brave New World“ ebenfalls gut. Rundum die US-Boys ist tatsächlich eine schöne neue Welt entstanden.
Rückblick: Ende 1990 sind 24 (!) US- Amerikaner in den Top 100 platziert, acht davon in den Top 20, vier in den Top 10. Die USA sind in den Neunzigerjahren das Maß aller Dinge im Herrentennis. Verantwortlich dafür ist nicht nur die Goldene Generation um Pete Sampras, Andre Agassi, Jim Courier und Michael Chang, sondern auch die enorme Breite im US-Tennis. In den 2010er-Jahren wird aus dem Riesen ein Zwerg. Eine Negativmeldung jagt die nächste. Im August 2010 steht erstmals seit Einführung des ATP-Rankings im Jahr 1973 kein US-Amerikaner in den Top 10. Es kommt noch schlimmer. Drei Jahre später steht kein Ami in den Top 20. Bei den US Open 2013 erreicht niemand beim „Home Slam“ das Achtelfinale – ein Novum in der Turniergeschichte.
Wer wird der nächste Grand-Slam-Sieger aus den USA?
Seit den US Open 2003, als Andy Roddick in New York triumphierte, wartet die große Tennisnation auf einen Coup – mittlerweile sind es fast 22 Jahre. Eine gefühlte Ewigkeit. Kein Land gewann in der Profiära mehr Grand-Slam-Titel im Herreneinzel als die USA: 52 Triumphe von 13 Spielern. „Ich glaube, dass wir Amerikaner meilenweit zurückliegen, und ich weiß keine Antwort darauf. Die anderen sind besser geworden – durch das Internet, weltweites TV. Es wird Tennis in Ländern gespielt, in denen vor zehn, fünfzehn Jahren kein Mensch Bälle geschlagen hat. In einem Land wie Serbien wäre Novak Djokovic vielleicht ein Fußballstar geworden, aber plötzlich wurde Tennis populär“, sagte Pete Sampras 2013 im Interview mit tennis MAGAZIN.
Spätstarter: Ben Shelton spielte mit zehn Jahren das erste Mal Tennis. Mit zwölf begann er dann regelmäßig zu trainieren. ©Imago/James Ross
Der Wind im US-Herrentennis hat sich inzwischen gedreht. Während die USA bei den Damen mit derzeit 17 Top-100 Spielern, vier davon in den Top 10, die führende Nation ist, läuft die Entwicklung bei den Herren in eine ähnliche Richtung. Derzeit stehen sieben US-Amerikaner in den Top 50, allesamt im besten Tennisalter. Hinzukommen einige junge talentierte Nachwuchsspieler. Es scheint längst nicht mehr die Frage zu sein, ob ein Ami in den nächsten Jahren ein Grand-Slam-Turnier gewinnt, sondern es stellt sich nur noch die Frage, wann und durch wen: Taylor Fritz, Ben Shelton, Tommy Paul oder doch Frances Tiafoe? Sie alle waren schon dicht dran an einem Grand-Slam-Triumph. „Ich glaube, dass der nächste US-Grand-Slam-Sieger aus unserer aktuellen Gruppe von Spitzenspielern kommen wird. Wir alle haben das Potenzial und die Entschlossenheit, diesen Meilenstein zu erreichen“, sagte Ben Shelton gegenüber tennis MAGAZIN.
Herrentennis: USA soll wieder führende Nation sein
Womit lässt sich der amerikanische Aufschwung begründen? tennis MAGAZIN sprach mit einem Insider, der großen Anteil daran hat: Martin Blackman. Der 54-Jährige, ehemals Nummer 158 der Welt, war zwischen 2009 und 2012 als Senior Director für Talententwicklung im US-Verband (USTA) tätig, von 2015 bis 2024 arbeitete er als General Manager in der Spielerentwicklung. „In all den Jahren haben wir gemeinsam ein starkes Fundament aufgebaut. Ich war zunächst für das Juniorenprogramm der USTA zuständig und arbeitete für Patrick McEnroe. Wir haben eine Partnerschaft mit dem Privatsektor und unseren USTA-Sektionen aufgebaut. Die USTA besteht aus 17 geografischen Sektionen. Wir präsentierten ihnen die Philosophie, die Josè Higueras mit uns entwickelt hatte“, sagt Blackman.
Taylor Fritz und Tommy Paul gewannen bei Olympia 2024 in Paris die Bronzemedaille im Doppel. ©Imago
Das Ziel: Die USA im Herrentennis wieder zur führenden Nation zu machen. „Wir haben in allen 17 Sektionen Trainerausschüsse sowie Trainingslager eingerichtet und Wege gefunden, die Spieler zu unterstützen, damit sie zu Hause bleiben konnten, bis sie 14 oder 15 Jahre alt sind. Wir glaubten nicht daran, dass wir eine ganzjährige Internatsakademie für jüngere Spieler brauchen. Wir glauben, dass es für sie besser ist, zu Hause in der Nähe ihrer Familie zu sein und ihr Programm und ihrem privaten Trainer durchzuziehen. Im Alter von 15 oder 16 Jahren laden wir die Talente dann dazu ein, an unserem Vollzeitprogramm teilzunehmen“, führt Blackman weiter aus.
Das „Home of American Tennis”
Ein wichtiger Faktor auf dem Weg zur Rückkehr zur führenden Tennisnation war der Bau des USTA National Campus in Orlando. Anfang 2017 öffnete das Herzstück des US-Tennis mit 98 Plätzen und einer Fläche von circa 259.000 Quadratmetern. Es ist das „Home of American Tennis“. „Der USTA National Campus hat uns die Möglichkeit gegeben, Ja zu sagen. Zuvor waren wir sehr eingeschränkt im Trainingscenter von Boca Raton. Wir hatten nur Zugang zu acht Plätzen und mussten alles auf diesen Plätzen umsetzen. Manchmal mussten wir schon um sechs Uhr morgens anfangen. Wir mussten auch einigen Spielern, die nicht zu den besten in ihrer Altersgruppe zählten, absagen. Der Wechsel nach Orlando, gab uns nicht nur die Möglichkeit, Ja zu mehr Spielern zu sagen, sondern auch Ja zu mehr Trainern. Das hat unsere Kultur enorm verändert“, schildert Blackman.
Für den amerikanischen Aufschwung sieht er vier Bereiche verantwortlich. „Als ich die Position in der USTA übernahm, habe ich vier Bereiche identifiziert, in denen wir uns wirklich verbessern und unsere Fortschritte beschleunigen konnten. Der erste war die College-Struktur. Wir haben in diesen Bereich investiert, zwei weitere Nationaltrainer eingestellt und eine starke College-Struktur geschaffen. Das hat sich ausgezahlt“, sagt Blackman. In der Tat: Viele erfolgreiche US-Spieler haben zuvor College-Tennis gespielt, darunter Danielle Collins, Emma Navarro, Peyton Stearns bei den Damen sowie Christopher Eubanks oder Mackenzie McDonald bei den Herren. Den Weg vom US-College zum Profi sind inzwischen auch immer mehr internationale Spieler gegangen, zum Beispiel die deutschen Doppelspieler Tim Pütz und Andreas Mies.
USTA National Campus in Orlando offen für alle
„Die zweite Sache, die wir erkannt haben, war, dass wir allen unseren Topspielern helfen müssen, unabhängig davon, ob sie in unserem Programm sind oder nicht. Es spielt keine Rolle, ob man mit uns trainieren möchte oder nicht. Wenn man gute Ergebnisse erzielt, haben wir Spieler auf dieselbe Weise unterstützt. Das hat die Mauern zu unseren Spielern eingerissen. Unser Verhältnis zu unseren Spielern und Trainern wurde dadurch viel besser als zuvor. Zudem haben wir unseren Campus für alle geöffnet. Die Spieler konnten mit ihrem eigenen Trainer und ihren eigenen Teams kommen. Sie mussten nicht mit unseren Trainern zusammenarbeiten. Das hat viele Topspieler dazu ermutigt, zu uns zu kommen. Seitdem fühlt es sich an, dass wir ein vereintes Team sind“, doziert Blackman.
Showman: Frances Tiafoe erreichte zweimal das Halbfinale bei den US Open (2022 und 2024). ©Imago/Paul Zimmer
Der dritte Baustein im erfolgreichen US-System, so berichtet es der 54-Jährige, ist die Unterstützung der Spieler vor Ort bei den Turnieren, vor allem bei Challenger-Turnieren. „Team USA Pro Support“ hat der Verband dies getauft. Spieler, die zwischen 100 und 300 in der Weltrangliste stehen und nicht das Geld haben, um ein komplettes Team auf ihren Reisen zu haben, werden entweder finanziell unterstützt oder durch Hilfe vor Ort bei den Turnieren. „Als letztes haben wir uns gefragt, wie wir besser werden können. Wir fordern Trainer und Spieler jeden Tag heraus, ihr Talent zu maximieren. Wir wollen sicherstellen, dass unsere Ausbildung die beste der Welt ist. Wir haben viel getan, um uns selbst zur Rechenschaft zu ziehen und besser zu werden. Wir haben uns die besten Praktiken angeschaut. Diese vier Dinge sind keine Raketenwissenschaft, aber sie haben einen massiven Unterschied in den Entwicklungssystemen gemacht, die wir in der Struktur, in der Kultur und dann letztendlich in den Leistungen haben, die wir derzeit sehen“, sagt Blackman.
US-Tennis: Fokus mehr auf Technik, Beinarbeit und Spielaufbau
José Higueras, von Blackman bereits erwähnt, ist zudem ein wichtiger Garant für den Aufschwung im US-Herrentennis. Der Ex-Profi aus Spanien führte nach seiner Karriere Michael Chang und Jim Courier zu Grand-Slam-Titeln und betreute zwischenzeitlich Roger Federer. Higueras warnte bereits früh, dass die Ausbildung im US-Tennis zu eindimensional sei und zu wenig auf Sand gespielt wird. 2008 heuerte Higueras bei der USTA an und krempelte mit seiner Philosophie das Ausbildungsprogramm um. Fortan wurde der Fokus mehr auf Technik, Beinarbeit und Spielaufbau gelegt als auf den schnellen Punktgewinn. „Ich hatte das Privileg, von ihm lernen zu können“, sagt Blackman und setzte die Philosophie in seiner Zeit als General Manager in der Spielerentwicklung fort.
Starke Entwicklung: Tommy Paul zog Ende Januar 2025 erstmals in die Top 10 im ATP-Ranking ein. ©Imago/Lukas Coch
„Die Philosophie basiert auf fünf Prinzipien, welche die Entwicklung beschleunigt. Es identifiziert die Schlüsselkomponenten, die man maximieren muss, um sein Potential auszuschöpfen. Es wurden Parameter festgelegt, die es für eine Weltklasseleistung braucht, sei es Technik, Taktik oder Bewegung. Es zeigt auf, wie wichtig der Planungsprozess ist, wie man Trainingspläne erstellt und wie man ein Leistungsteam einsetzt und dieses Team um den Spieler herum aufbaut, damit diese Entwicklungspläne ganzheitlich sind und sich nicht nur auf das konzentrieren, was auf dem Platz passiert. Das Ziel ist es auch, dass unsere Spieler immer unabhängiger werden, je älter sie werden. Es geht um Problemlösung. Je älter sie werden, desto eher liegt die Entwicklung ihrer Karriere in den eigenen Händen. Das ist ein großer Teil der Philosophie. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, was wir Prozess oder Geduld nennen. Es geht um das Verständnis eines langfristigen Entwicklungsmodells. Dass man sich nicht davon abbringt, Ergebnissen nachzujagen. Es geht wirklich darum, jeden Tag besser zu werden. Was ich in meiner Amtszeit hinzugefügt habe, ist das Grundprinzip ‚Person first‘, dass die Rolle eines Coaches oder Trainers auch immer teilweise die eines Mentors für den Spieler ist, der im Zentrum steht“, sagt Blackman.
Indian-Wells-Titel von Taylor Fritz eine Initialzündung
Ein großes Problem im US-Tennis stellt immer noch dar, dass es zu wenig Sandplätze, vor allem rote Asche, gibt. Blackman verweist auf das Beispiel Spanien, wo in den 70er-Jahren mehr als 50 Vereine mit roten Sandplätzen aufgebaut wurden. „Diese Clubs waren über Jahrzehnte hinweg die Grundlage des spanischen Erfolgs. Sie sind zu Zentren der Gemeinschaft geworden. Sie wurden zu einem Ort, an dem Kinder aus allen Teilen Spaniens ein gutes Training erhalten, auf dem Sand spielen und sich entwickeln können. Diese Infrastruktur war massiv für Spanien, für uns ist es immer noch eine Schwäche.“
Initialzündung: Seit dem Sieg von Taylor Fritz in Indian Wells im Jahr 2022 geht es aufwärts bei den US-Boys. ©Imago/Antoine Couvercelle
Der Turniersieg von Taylor Fritz im Jahr 2022 beim Masters-1000-Turnier in Indian Wells war so etwas wie die Initialzündung im US-Herrentennis. Es folgten Halbfinalteilnahmen von Frances Tiafoe, Tommy Paul und Ben Shelton bei den Grand Slams. Fritz selbst erreichte vergangenes Jahr bei den US Open als erster US-Amerikaner seit 2009 ein Grand-Slam-Finale. „Als Taylor Indian Wells gewann, haben sich die anderen Spieler, die ihn schon Jahre kannten, gesagt: ‚Das kann ich auch. Das nächste Mal bin ich es.‘ Dieser Moment hat so viel Glauben freigesetzt“, sagt Blackman.
Welcher Spieler wird also der nächste Grand-Slam-Sieger aus den USA? „Ich komme in Schwierigkeiten, wenn ich das sage. Ich habe keine Kristallkugel, aber ich spüre in meinem Bauch, dass dieses oder nächstes Jahr einer unserer Jungs ein Grand Slam-Turnier gewinnt“, prophezeit Blackman. Es soll erst der Anfang sein vom amerikanischen Aufschwung.