Angelique Kerber braucht mentale Hilfe!
Das letzte große tennis MAGAZIN-Interview mit Angelique Kerber liegt noch kein halbes Jahr zurück. Anfang September, einen Tag nach ihrem Drittrundenaus bei den US Open, traf ich sie in ihrem New Yorker Hotel in Manhattan. Wir plauderten hauptsächlich über das damals anstehende Fed Cup-Finale, aber auch über eine Saison 2014 mit Höhen und Tiefen, ihren Umgang mit Druck und ihre Spielweise. „Ich spiele inzwischen aggressiver als in den letzten Jahren. In vielen Situationen agiere ich mutiger“, analysierte die 27-Jährige damals. Und Kerber kündigte an: „Ich bin überzeugt, dass meine stärkste Zeit noch kommen wird. Ich kann noch besser spielen.“ Man kaufte ihr diese Worte ab. Kerber wirkte gereifter und selbstbewusster als in der Vergangenheit. Über ihre Ziele sagte sie damals: „Natürlich möchte ich mehr erreichen! Ich fahre zu den Grand Slams, um irgendwann auch mal in einem Finale zu stehen.“
Fünf Monte später: Von einem Grand Slam-Finale scheint Kerber derzeit weiter weg als Carsten Arriens von einem Comeback als Davis Cup-Teamchef. Ihre magere Ausbeute 2015: Viertelfinale in Brisbane, Halbfinale in Sydney – allerdings mit Siegen, die mehr von Kampf und Krampf als von spielerischer Klasse geprägt waren. Danach: Erstrundenaus in Melbourne und das Fed Cup-Wochenende, als sie zwar am zweiten Tag mit einem starken Auftritt gegen Sam Stosur ihre Niederlage vom Samstag gegen Jarmila Gajdosova ausbügelte, intern aber ständig jammerte und keineswegs wie eine Führungsspielerin auftrat. Anfang Februar die nächste Etappe in einer Negativspirale: In Antwerpen kassierte sie eine 1:6, 1:6-Klatsche gegen Francesca Schiavone (Nr. 81), deren beste Zeiten gefühlt Jahrzehnte zurückliegen. Kerber stürzte erstmals seit Mai 2012 aus den Top Ten scheiterte danach in Dubai in Runde zwei an Flavia Pennetta und gestern in Doha mit 0:6, 3:6 an Victoria Azarenka. Bilanz in diesem Jahr: Sieben Siege, sieben Niederlagen. Auch wenn sie im Ranking zunächst nicht weiter abstürzen wird (die Punkte aus dem Vorjahr, als Kerber in Doha das Finale erreichte, wurden ihr bereits abgezogen), steht fest: Kerber hat ihren persönlichen Tiefpunkt der letzten Jahre erreicht.
Was in der Partie gegen die Weißrussin wieder einmal deutlich wurde: Kerber scheint ihr mühsam aufgebautes Selbstbewusstsein komplett verloren zu haben. Der Glaube an sich selbst, der sie in den vergangenen Jahren häufig zu grandiosen Dreisatzsiegen beflügelte, ist inzwischen notorischen Selbstzweifeln gewichen. Klar: Kerber hatte immer den Hang zum negativen Denken. Als sie 2013 in der zweiten Runde von Wimbledon verlor, stellte sie als Weltranglisten-Siebte sogar ihre Karriere komplett infrage. Allerdings: Früher schaffte sie es vergleichsweise schnell, mental zurück in die richtige Spur zu finden – diesen Eindruck hat man 2015 nicht. Ihre Körperhaltung am Montag gegen Azarenka sprach Bände: hängende Schultern und gesenkter Kopf bereits in der Anfangsphase. Als sie den ersten Satz nach 23 Minuten ohne Spielgewinn abgab, saß sie wie in Trance vor Coach Benjamin Ebrahimzadeh, der sie beim sogenannten On-Court-Coaching in der Vergangenheit schon häufig mit harschen und motivierenden Worten von ihrer Lethargie befreite. „Spiel dein Spiel“, raunte er ihr zu. „Was ist denn meines?“, fragte Kerber ratlos.
(Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels unterlief uns bezüglich des künftigen Rankings von Angelique Kerber ein Fehler. Sie wird nicht nächste Woche aus den Top 15 rutschen, wie fälschlichweise von uns behauptet wurde. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.)