Brief an Angie Kerber: Was ist bloß aus dir geworden?
Liebe Angie,
jetzt bist du also zweifache Grand Slam-Siegerin, Weltranglistenerste, Sportstar, Vorbild, Inspirationsquelle und noch viel, viel mehr. Du hast es geschafft, Tennis zurück in die Köpfe der Menschen zu bringen, die sich jahrelang nicht dafür interessiert haben und die immer nur gesagt haben: „Ach, so gut wie Steffi oder Boris wird sowieso niemand mehr.“ Du hast Tennis zurück auf die ersten Seiten der Tagespresse gebracht, zurück in die Top-Teaser der Websites. Gut, ins öffentlich-rechtliche TV-Programm hast du deinen Sport noch nicht wieder geführt. Aber mach dir nichts daraus: Das ist nicht deine Schuld, die Verantwortlichen von ARD und ZDF sind einfach ziemliche Betonköpfe. Nur: Lange können sie sich ihre Ignoranz, Sturheit und Fußballbesessenheit nicht mehr leisten – dafür bist du zu stark, zu präsent und zu erfolgreich.
Beide Kleider und beide Trophäen stehen ihr verdammt gut! Glückwunsch, Angie! #USOpenchamp #WorldNo1 #USOpen pic.twitter.com/31tS81rYvw
— tennis MAGAZIN (@tennismagazin) September 11, 2016
Vielleicht geht es den Entscheidern der großen Sender aber auch so ähnlich wie vielen anderen: Wir alle haben nicht so recht daran geglaubt, dass du zur besten Tennisspielerin des Planeten aufsteigen und Fans in aller Welt haben wirst. Dass du die über allen schwebende Serena Williams tatsächlich vom Tennisthron stoßen kannst. Und dass du nun bei der Wahl zur „Sportlerin des Jahres 2016“ komplett konkurrenzlos bist. Nimm uns das nicht allzu übel, liebe Angie. Denn du musst schon zugeben, dass das alles so nicht vorhersehbar war. Ja, ja, du hast immer davon geträumt, die Nummer 1 zu werden und Grand Slam-Titel zu gewinnen. Das hast du ja auch Samstagnacht nach deinem Triumph in New York mit wässrigen Augen und zittriger Stimme mehrfach in die TV-Kameras gesprochen. Nur: Welches tennisverrückte Mädchen hat solche Träume nicht?
Im Februar 2010, an einem kalten Wintertag, hattest du deinen ersten Interview-Termin mit dem tennis MAGAZIN. Du bist damals zu Fuß zum Kieler Bahnhof gekommen, um den Reporter aus Hamburg abzuholen. In einem Eiscafe gab es Latte Macchiato, du hattest unendlich viel Zeit, niemand schaute hinter deinem Rücken mahnend auf die Uhr. Kurz zuvor hattest du es als Qualifikantin bei den Australian Open in die dritte Runde geschafft – ein toller Erfolg war das damals für dich. Durch ihn standest du wieder in den Top 100 und das machte dich damals ziemlich glücklich. Das Gespräch war, nun ja, nett und ungezwungen. Du warst zuvorkommend, freundlich, höflich. Aber – und das blieb damals einfach haften: Du hast vor sechseinhalb Jahren keinen ungebremsten Ehrgeiz versprüht, kein Feuer, keinen unstillbaren Siegeshunger. Im Zug zurück nach Hamburg verfestigte sich ein Gedanke: Ja, ein liebes Mädchen, diese Angelique Kerber, Top 50 wird sie vielleicht erreichen – mehr aber auch nicht.
Es war der erste große Irrtum.
Anderthalb Jahre später. Wie aus dem Nichts hattest du das Halbfinale in New York erreicht. „Angie im Wunderland“, fabulierten wir im September 2011. Kurz nach deinem Traumlauf gab es ein erneutes Treffen in Kiel. Dieses Mal war es schon schwieriger, ein Manager koordinierte den Termin. Im Studentencafe war es dir zu laut und später, im edlen Maritim-Hotel mit Blick auf die Kieler Förde, in das dich unser Fotograf lotste, stauntest du: „Boar, echt hübsch, bin noch nie hier gewesen.“ Wir drückten Dir unser neues Cover in die Hand: Es zeigte dich in Aktion bei einem Match in New York. Du warst mächtig stolz. „Wow, ich bin auf dem Cover“, freutest du dich. Im Gespräch kamst Du angriffslustig rüber. Man merkte sofort: Da hat jemand kräftig Selbstvertrauen getankt. Du sprachst davon, nun mit den Besten der Welt mithalten zu können, mehr Anerkennung von den Kolleginnen zu bekommen und nun endlich den ganz großen Durchbruch schaffen zu wollen. Was man eben so sagt, wenn sich der erste richtig große Erfolg eingestellt hat. Ach Angie, dachten viele, war New York 2011 nicht einfach nur ein positiver Ausrutscher, ein – pardon – glücklicher Zufall?
Es war der zweite große Irrtum.