Monsieur 100.000 Volt
Wenn es eine perfekte Welt gäbe, wäre Jo-Wilfried Tsonga Juan Martin del Potro. Nein, nicht der Größe wegen. Selbst einer wie Andy Murray wäre für sein Leben gerne Juan Martin del Potro. Der Grund dafür ist einfach. Der Argentinier hat etwas erreicht, was sowohl Murray als auch Tsonga bisher verwehrt geblieben ist: ein Sieg bei einem Grand Slam-Turnier. Mit seinem Triumph im Jahr 2009 bei den US Open ist del Potro der Einzige, dem dies seit Ewigkeiten gelungen ist sieht man einmal von Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic ab.
Verrückter kann eine Ära kaum sein, als jene, die das Tennis zur Zeit erlebt. Nur drei Spieler haben die letzten 27 von 28 möglichen Grand Slam-Titeln gewonnen (seit den Aus-tralian Open 2005). Kein Wunder also, dass sich Tsonga in seinen Träumen in del Potro verwandelt. Ein Rollentausch, für den er einen hohen Preis zahlen würde. Für den Fall, dass es nie dazu kommen wird, dürfte JWT sein Australian Open-Finale von 2008 bedauern. Damals verlor er gegen Djokovic und damals war Djokovic noch nicht The Machine
In Frankreich teilt sich die Bevölkerung in Optimisten und Pessimisten, wobei letztere zunehmend mehr geworden sind. Ihnen, so hört man, wird bald der Geduldsfaden reißen. Sie sind es leid, auf einen Nachfolger von Yannick Noah zu warten, den letzten Franzosen, der ein Grand Slam-Turnier gewann (Roland Garros 1983). Sie zweifeln daran, dass einer der vier Musketiere jemals ein Major holen wird. Fragt man sie aber, wer aus der Gruppe von Tsonga, Monfils, Gasquet und Simon ihr Favorit sei, so ist es fast immer Tsonga. Verwunderlich ist das nicht. Tsonga ist der Mann, der ein Stückchen anders ist, der dieses gewisse Etwas hat, das manchmal dafür sorgt, dass man besonders weit kommt, herausragende Resultate erreicht. Nur deshalb ist er der Einzige aus dem Quartett, der Federer, Nadal, Djokovic und Murray bei Grand Slam-Turnieren geschlagen hat. Nur deshalb ist er der Einzige, der einen Masters-Titel gewinnen konnte (Paris-Bercy 2008). Nur deshalb ist er der Einzige, der bereits richtig große Endspiele bestritten hat (Melbourne 2008 und das ATP World Final 2011). Und nur deshalb ist er der Einzige, der Lord Federer bezwang, nachdem er zwei Sätze zurück lag ( Wimbledon 2011).
Wo also liegt der Unterschied zwischen Tsonga und anderen Spielern, die man durchaus als solide bezeichnen würde? Er spielt furchtlos, sagt die ehemalige Nummer eins Mats Wilander. Fühlt er sich stark, drückt
er jeden an die Wand. Selbst den besten
Spielern ist dieser Umstand bewusst.
Tsonga selbst liebt es gegen die dicken
Fische anzutreten. Je größer das Match, desto
besser wird er, weil er Adrenalin braucht, um
gut zu spielen. Federer? Nadal? Djokovic?
Keine Frage, sie sind fantastisch, aber einen Minderwertigkeitskomplex hat Tsonga bei der Nennung dieser Namen nicht. Sein Ego ist stark, er ist wild entschlossen, sich ganz nach oben durchzuackern. Man könnte auch fast von zu viel Selbstvertrauen sprechen. So charismatisch und physisch furchteinflößend Big Jo auch ist, seine Ambitionen hat er nie verborgen: Wenn mein Saisonziel darin bestehen würde, die Nummer sechs der Welt zu bleiben und ein oder zwei ATP 250er-Turniere zu gewinnen, dann wäre das übel. Ich habe keine Lust tief zu stapeln. Die Jungs, die die großen Titel gewinnen, sind jene, die mit jeder Faser an sich glauben. Ich bin 26, stehe am Anfang der zweiten Hälfte meiner Karriere. Ich fühle einfach, dass ich in diesem Jahr einen großen Titel holen muss. Dieses Jahr muss ein Grand Slam her. Inzwischen habe ich bei diesen großen Veranstaltungen ausreichend Erfahrung gesammelt. Mit Novak und Rafa als Konkurrenten wird das Ganze natürlich schwierig. Ich jedenfalls kann keine sechs Stunden ohne Krämpfe spielen (eine Anspielung auf das Australian Open-Finale).
Wer Tsonga und Noah kennt, stellt Ähnlichkeiten zwischen den beiden schnell fest. Beide erbten ihr Wettkampf-Gen von den Vätern. Zacharie Noah stammte aus Kamerun und war ein Fußballprofi in Sedan. Didier Tsonga kam aus dem Kongo, um Handball in Frankreich zu spielen. Und: Genau wie Noah in den 80ern mit Henri Leconte oder Thierry Tulasne übt auch JWT eine gewisse Autorität auf die anderen französischen Spieler aus. Beim Davis Cup jedenfalls hat seine Meinung bei allen entscheidenden Fragen wie der Wahl des Bodenbelags oder des Austragungsortes Gewicht. Er ist der Boss, niemals würde er sich verstecken. Kaum geht es um Tennis, wird er zum Leittier im Rudel. Als Chef akzeptiert ihn auch sein engster Freund Gaël Monfils. Der ist in der Schweiz immerhin sein Nachbar und verbrachte seinen letzten Winterurlaub mit ihm. So ist Jo einfach, bestätigt Guy Forget, er ist eine Führungspersönlichkeit. Als der Davis Cup-Kapitän im September 2011 nach einem Doppelsieg gegen Spanien im Halbfinale gefragt wurde, wer im vierten Match gegen Nadal antreten sollte (zu dem Zeitpunkt führte Spanien 2:1), antwortete zuerst Tsonga, nicht Forget: Es wäre super, wenn Guy mich gegen Nadal aufstellen würde. Ich würde auf jeden Fall mit den drei Cs antreten, wie man hier in Spanien sagt: Cabeza, corazon y cojones (auf Deutsch: Köpfchen, Herz und Mumm).
Ein Match gegen Nadal auf Sand, in der Arena von Cordoba, in einem Match auf drei Gewinnsätze ist eine Situation, um die sich eigentlich niemand reißt. Tsonga ist nicht der Schnellste, er hat auch nicht am meisten Talent. Aber er hat Eier, sagte Boris Becker letzten September gegenüber der französischen Sporttageszeitung LEquipe.
Neu hinzugekommen ist in letzter Zeit ein anderes Thema: Inwieweit ist Tsonga fähig sich mit einem Coach zu arrangieren? Im März 2011 trennte er sich von seinem alten Trainer Eric Winogradsky, nachdem er sieben Jahre mit ihm und dem französischen Verband gearbeitet hatte. Auf dem Papier jedenfalls sprechen die Ergebnisse erst einmal für ihn. 44 seiner letzten 58 Matches hat Tsonga gewonnen. Berücksichtigt man nur die zweite Hälfte des Jahres 2011 mit den beiden Finalteilnahmen in Paris Bercy und beim Londoner ATP-Finale, so ist er ganz klar die Nummer fünf der Welt.
Trotzdem sind viele Puristen der Meinung, dass Tsonga einen Coach braucht. Irgendwann jedenfalls. Ich glaube nicht, lautet dessen Antwort, in dieser Saison werde ich wahrscheinlich zwei oder drei Spezialisten jeweils für einen kurzen Zeitraum anheuern, mit denen ich an ein paar technischen Themen arbeiten werde, meinem Volley zum Beispiel, dem Return oder meinem zweiten Aufschlag. Seit Tsonga 19 war, trainierte er mit Winogradsky. Er war die Vaterfigur im ersten Teil der Karriere des schillernden Franzosen. Für Tsonga war es schwierig, diese Zusammenarbeit zu beenden. Aber irgendwann war für ihn der Zeitpunkt da, an dem er die Karriere zum eigenen Projekt machen, mehr Verantwortung übernehmen und sein eigener Boss sein wollte. Rückblickend kann ich mein Verhalten auf dem Platz vor zwei Jahren einfach nicht gut finden. Damals habe ich mich zu schnell beschwert, über alles gemault. An einem Tag war der Fotograf schuld, am nächsten Tag irgendein Mädchen, das seine Chips zu laut aß lächerlich! Die vergangenen zwei Jahre habe ich hauptsächlich gespielt, um die Wünsche meiner Familie zu erfüllen, um soziale Anerkennung zu bekommen. Ich war schließlich der kleine Junge des Lehrers aus dem Kaff Le Mans. Inzwischen bin ich finanziell abgesichert und will vor allem mein Spiel verbessern. Wissen Sie was? Genau genommen habe ich jetzt, mit fast 27 Jahren festgestellt, dass ich meinen Job mit großer Leidenschaft verfolge, sagt Tsonga.
Fest steht: Wenn JWT aus voller Kraft feuert, ist sein Spiel gut genug, sein Selbstvertrauen groß genug, um jeden zu schlagen. Tsonga La Bomba hat eine großartige Vorhand und einen bestechend guten Aufschlag. 2011 führte er die Ass-Statistik der ATP Tour an. Langsam und allmählich wird auch sein Volley konstanter. Vor dem Saisonfinale habe ich meine Saite gewechselt und mich damit so gut wie nie zuvor gefühlt, stellt er fest.
Der Schwachpunkt bleibt seine Rückhand, und auch am Return gäbe es einiges zu verbessern. Zu laut darüber sprechen sollte man allerdings nicht. JWT ist bei Kritik eher zart besaitet. Die Frage nach seiner Fitness etwa sollte man nicht zu oft stellen. Tsonga ist all diese medizinischen Fragen der letzten Zeit leid. Die Leute denken ich wäre schwächlich. Dabei bin ich der einzige auf der Tour, der nach einem Bandscheibenvorfall zurückgekommen ist. Das hat mich fünf Jahre gekostet. Wegen seiner Rückenprobleme musste er von November 2004 (nach einem überraschenden Sieg gegen Carlos Moya in Peking) bis März 2005 aussetzen. Tsonga fiel aus den Top 300 der Weltrangliste und musste sich durch die Niederungen der Future- und Challenger-Turniere arbeiten, bis er Mitte 2007 wieder Hoffnung schöpfte. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass er mit seinem Körper ausgesprochen vorsichtig umgeht. Seine Leidenschaft für Kuchen und Schokolade hat er einer vernünftigen Ernährung geopfert. Die Arbeit mit seinem Physio-Coach Michel Franco, der schon Amelie Mauresmo betreute, hilft ohnehin. Neulich habe ich mir meine besten Matches aus dem Jahr 2008 noch einmal auf Video angesehen, erzählt Tsonga, ich war so schnell, voller Energie. Mein Spiel kannte keine Grenzen. Genau so will ich wieder spielen. Ich will diese Winner-Schläge produzieren. Mir gefällt die mentale Einstellung des Skifahrers Jean-Baptiste Grange. Alles was für ihn zählt, ist der Sieg. Nicht irgendein vierter Platz.
Der 26-jährige Franzose zählt zu den attraktivsten Spielern auf der Tour. Als Junior war er die Nummer zwei der Welt, gewann die Junior US Open. Seinen Durchbruch bei den Herren schaffte er 2008, als er sensationell das Finale der Australian Open erreichte (Niederlage gegen Novak Djokovic). Im gleichen Jahr qualifizierte er sich erstmals für das Saisonfinale in Shanghai. Der 91-Kilogramm-Mann konnte in seiner siebenjährigen Karriere bislang acht Turniere gewinnen (2008: Paris-Bercy, Bangkok; 2009: Tokio, Marseille, Johannesburg; 2011: Wien, Metz; 2012: Doha). Sein höchstes Ranking, Platz 6, erreichte er erstmals im November 2008. Sein Preisgeld: rund 8,6 Millionen Dollar. Tsonga lebt in La Rippe, Schweiz. Seit 2011 engagiert er sich mit eigener Stiftung für notleidende Kinder im Kongo.
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