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Am Westende der Tenniswelt

Fast hätte sie gewonnen. Aber eben nur fast. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern schlurft Irina Tregub aus Russland zum Netz. Küsschen links, Küsschen rechts das Match ist zu Ende. Für Irina ist alles vorbei: die lange Reise nach Belgien, der Wunsch, ein paar Runden auf diesem Einstiegsturnier ins Profitennis zu überstehen, die Hoffnung, nicht immer erst die Qualifikation spielen zu müssen. Ein letzter Blick Richtung Tribüne dort sitzt ihr Vater und packt bereits zusammen. Auf der Terrasse über dem Centre Court wird geplaudert und gelacht, Irinas Schicksal berührt dort niemanden. Denn hier oben sind die Tennismatches Unterhaltung bei einer Tasse Kaffee, beim Bummel durch die Geschäfte, auf dem Weg zum Strand. Zwei blaue Hartplatzcourts sind mitten in die Fußgängerzone von Westende eingelassen, besser als hier kann man Tennis nicht ins Stadtleben integrieren. Der Ladies Cup, der alljährlich im August in dem Ferienort an der Nordeeküste stattfindet, ist für die Stadt und für Turniersupervisor Romain Martens ein Touristenmagnet. Und für die Spielerinnen eines der Tore, die in die große, weite Tenniswelt führen. Die 10000 Dollar Preisgeld-Turniere sind der Einstieg und der vielleicht härteste Schritt in den Tenniszirkus, der Startschuss für die Grand Slam-Sieger von morgen. Vor diesem Turnier der untersten Preisgeldkategorie im Damentennis steht noch die Qualifikation. Manchmal fünf Runden sind vorab zu überstehen, bevor die 14- bis 20-jährigen Mädchen überhaupt im Hauptfeld starten dürfen. Hier in Westende sind es nur zwei. Wer sie schafft, bekommt 98 Dollar Preisgeld. Dreimal müssen sich die Jungprofis ins Hauptfeld eines WTA-Turniers spielen, erst dann werden sie auf der Weltrangliste geführt. Für dieses erste Ziel reisen die Teenager durch die ganze Welt. Alleine, mit ihren Müttern, Vätern oder Geschwistern, selten mit einem Coach. Auch Justine Henin-Hardenne und Kim Clijsters haben so angefangen. Mit 15 haben sie den Ladies Cup an der belgischen Nordseeküste gewonnen.

Wildcard für Wimbledon
Die Spielertypen, ihr Leistungsniveau und ihr Auftreten sind so unterschiedlich wie die Gründe, warum die Mädchen den Kampf durch die Quali der Zehntausender auf sich nehmen. Ich hätte auch in Deutschland spielen können, aber Belgien ist nicht so stark besetzt. Allerdings spiele ich heute gegen die an Nummer sieben Gesetzte, verrät die junge Deutsche, während sie das belgische Weißbrot mit Nusscreme zum Frühstück verzehrt. Angela Werschel reist alleine. Wie ihre Gegnerin heißt, weiß sie nicht. Es ist sieben Uhr morgens, gleich geht es mit dem kleinen Spielershuttle auf die Anlage. Romania Sceats aus Großbritannien ist die Unbekannte. Die blasse Engländerin tingelt mit ihrer Mutter und ihrem weißen Pudel von Turnier zu Turnier. Ich reise am liebsten mit meiner Mutter und nicht mit anderen Spielerinnen. Ich habe keine Lust auf Zickenalarm. Die 22-Jährige ist eigentlich schon zu alt, aber sie hat ein sehr spezielles Ziel: Ich möchte nächstes Jahr in den Top 400 stehen. Dann bekomme ich vom britischen Verband eine Wildcard für Wimbledon. Schließlich gibt es in England gerade keine Top-Spielerinnen. Romania Sceats gehört mit ihren 22 Jahren zu den Oldies der Tour. Das weiß sie und studiert deshalb nebenbei Mathematik Fernuni, versteht sich.
Wer mit 20 Jahren noch Zehner spielt, ist fehl am Platz, umschreibt Gerald Mild, ehemaliger Trainer von Anke Huber, die Zielvorgaben. Denn der Weg nach oben ist weit und dauert. Nach den 10ern, den 10000 Dollar-Turnieren, folgen die 25er, die 50er, die 75er und die 125er. Erst dann ist die eigentliche Stufe des Profi-Sports erreicht. Mild ist jetzt Trainer bei der MLP Base in München. Beim Nachwuchsteam des Bayerischen Tennisverbandes lässt man die jungen Spielerinnen nicht unbegleitet zu den Turnieren. Milds Schützling Nina Zander, 16 Jahre, schlägt sich vor dem ersten Match ein. Ziel für dieses Turnier? Gut spielen, kämpfen, lernen, sagt Mild. Das reicht. Begleitende Eltern nehmen ihren Kindern meist zu viel ab, erklärt er, die Mädchen lernen nicht, ihre Probleme selbst zu lösen und sind dann auch auf dem Platz oft hilflos. Er sieht sich nicht als Mädchen für alles, sondern als Coach und jemand, der da ist, wenn etwas schief läuft.
Während sich die Mädchen einspielen, werden die letzten Werbeplakate an den Zäunen befestigt. Die Gemeinde Middelkerke organisiert und sponsert einen großen Teil des Turniers. Wir versuchen, alles sehr professionell durchzuführen. Es gibt sogar einen Spielershuttle zum Hotel und zum Bahnhof, sagt Fabienne Segaert, die sonst im Touristenbüro arbeitet. Inzwischen hat Supervisor Martens die Ansetzungen des Tages festgelegt und macht seine Ansagen durchs Mikrofon. Die Lautsprecheranlage fängt an zu fiepen und zu dröhnen, die Namen der Spielerinnen versteht keiner. Niemand kümmert sich darum. Morgens um neun ist die Tribüne noch leer. Nur ein einzelner Herr sitzt im Café, vertieft in die Morgenzeitung. Nur kurz schaut er auf, als die ersten Spielerinnen mit den Bags auf dem Rücken auf den Platz schlendern. Gegen Mittag werden die Tribünen voll sein, sagt Martens, und zum Ende des Turniers kommen 500, 600 Zuschauer. Ich liebe diese Location. Sie ist universal, einmalig. Die Zuschauer sind keine gewöhnlichen Tennisfans, die Eintritt zahlen und brav sitzen es sind Urlauber, die an der Promenade spazierengehen, einen Kaffee trinken und nebenbei Tennis schauen. Die Mahnung der Schiedrichter: Ruhe bitte, existiert in Westende nicht. Im Urlaub ist eben alles anders: Kinder turnen auf den Tribünen herum und lassen Drachen steigen, Jugendliche balancieren auf ihren Skateboards, Erwachsene rufen ihren Hunden nach. Und die Jung-Profis servieren Aufschläge. Der Wind weht steif heute, und es ist kalt. Die Matches machen keinen rechten Spaß, und manch einer Spielerin schlägt das nasskalte Wetter aufs Gemüt. Sie beklagen sich über das Wetter, die Schiedsrichter, die Zuschauer und über das Glück der Gegnerin, bilanziert Martens den Tag. Mit einem Mal wirkt alles hilflos. Vor allem  die Einstellung der Spielerinnen: Ich hab keinen Bock mehr, Wie soll man bei dem Wind spielen?, Ist doch das letzte Loch hier, lauten die frustrierten Kommentare. Die Mütter sitzen am Spielfeldrand, nicken ihren Töchtern von den Tribünen aufmunternd zu und übernehmen den Job des Coaches doch eigentlich können sie nur eines: Hoffen auf ein glückliches Ende in Westende. Es geht hier teilweise zu wie im Kindergarten. Es ist ja auch eine Teenagerveranstaltung, beschreibt Mild das Auftreten einiger Spielerinnen. Dazu gehören auch Starallüren, wo sie nicht hingehören. Klar ist: Der Komfort ist längst nicht zu vergleichen mit dem großer Turniere. Das Clubhaus ist eine einfache Baracke, die Umkleidekabine hat weder Bänke noch Schränke, nur Duschen. Am Tresen kann man Baguette kaufen und an einem der Holztische Platz nehmen. Das angekündigte Spielerhotel ist eine Jugendherberge. Einige Spielerinnen finden das entsetzlich, würden lieber gleich nach Hause fahren. Der Weg in die Glamourwelt des Profisports erscheint in dieser Umgebung unerträglich weit.
Nur die Mädchen, die über genug Willen und Talent verfügen, verlieren ihr Ziel nicht aus den Augen. Die 16-jährige Belgierin Yanina Wickmayer ist eine von ihnen. Sie ist die große Hoffnung Belgiens, soll in die Fußstapfen von Clijsters und Henin-Hardenne treten. Das nötige Selbstvertrauen hat die schlanke Belgierin bereits: Ich weiß, ich bin schon jetzt interessant, erklärt sie, doch der erste Schritt ist die Top 100. Das Turnier letzte Woche im benachbarten Koksijde hat sie gewonnen, in Westende kommt sie ins Viertelfinale   so kann es weitergehen.
Auf dem Weg nach oben sieht sich auch die Französin Eleonor Picot. Sie ist gerade 15 Jahre alt geworden. Auf die Frage, ob sie noch zur Schule geht, antwortet sie schüchtern: Nein, ich mache alles per Post. Ihr Vater hilft ihr bei den Prüfungen auf den Turnieren. Monsieur Picot ist nicht nur Lehrer seiner Tochter, er ist auch Coach, und ein fröhlicher Mensch. Sie muss sich noch entwickeln. Sie spielt sehr kraftaufwändig, analysiert der Franzose das Spiel seiner zarten Tochter. Sie spielt aggressives Tennis, weicht kaum von der Grundlinie. Nach jedem Ball schaut die Piccolo Picot zur Tribüne, wartet auf das bestätigende Nicken ihres Vaters. Monsieur Picot schreibt jeden einzelnen Punkt mit auf einem weißen Blatt Papier entsteht ein Fehler- und Punkte-Diagramm. So können wir gemeinsam das Spiel analysieren. Im zweiten Satz hat Eleonor keine Kraft mehr. Der Vater schüttelt den Kopf. Er weiß, woran es liegt: Sie isst einfach zu schlecht. Nur bei McDonalds. Sie übersteht die zweite Quali-Runde nicht. Die Chance, als Lucky Loser dennoch ins Hauptfeld zu rutschen, interessiert sie nicht. Da es kein sign-in gibt, müsste sie darauf warten, bis das letzte Einzel der ersten Runde gespielt ist zu lange für die kleine Diva, sie möchte so schnell wie möglich abreisen.

Fünf Punkte für den Sieg
Courtney Gulihur aus den USA hat ein ganz anderes Problem: Courtney findet keine Trainingspartner. Sie ist zu schlecht, erklärt ihre amerikanische Trainerin Janice Combs. Niemand  hier möchte mit ihr trainieren. Ich bin mit Courtney in einen Nachbarclub gefahren. Dort hat sie mit 12-jährigen Jungs gespielt. Janice Combs wirkt alles andere als motiviert, eher frustriert. Auch ihre zweite Spielerin ist ein Problemfall. Die wiegt 15 Kilo zuviel. Warum sie mit den beiden dennoch den weiten Weg aus Kalifornien nach Europa auf sich genommen hat, erklärt sie nüchtern: Die Eltern haben das Geld bezahlt, und ich muss Geld verdienen. Dabei schaut sie, als ob sie mehr verdient hätte in ihrem Trainerdasein. Ja, ich hatte mal eine, die sehr talentiert war, erinnert sie sich, doch die hat einfach geheiratet, und mit Tennis war es vorbei. Auch mit Combs Hoffnung, jemals einen Star herauszubringen. Wenn die Turnierreise zu Ende ist, sollen die jungen Spielerinnen aus ihrem Leben verschwinden.
Der Regen hat inzwischen nachgelassen, vielleicht wird ja heute noch gespielt. Freiwillige Helfer, auch der Vater der kleinen Picot, schrubben das Wasser von den Plätzen, im Clubhaus lümmeln sich die Spielerinnen. Hektisch streichen sie auf dem Plan für die Trainingsplätze herum, bis keine Zeit mehr frei und kein Name mehr zu erkennen ist. Es gibt Streit. Andere haben sich zurückgezogen, lesen, spielen Karten oder rechnen ihre Punktzahl in der Weltrangliste aus. Für das Erreichen des Hauptfeldes gibt es gerade einmal 0,75 Punkte. Nicht viel, aber gezählt, gerechnet und gesammelt wird schließlich das ganze Jahr über. Nächste Woche ist wieder ein Turnier.
Für den Turniersieg in Westende gibt es immerhin fünf Punkte. Die 20-jährige Claire de Gubernatis aus Frankreich bekommt sie schließlich gutgeschrieben. Während sich die meisten ihrer Kolleginnen schon durch das Haifischbecken der Qualifikation kämpfen, hält die Französin am Sonntag die Trophäe von Westende in die Höhe. Außerdem gibt es 1598 Dollar Preisgeld. Für sie war Westende ein Anfang. Sie hat sich durch die Quali gekämpft und das Turnier gewonnen. Aber nicht nur das. Für Gubernatis heißt es: Nie wieder Quali bei den 10ern spielen zu müssen. Den härtesten Schritt hat sie geschafft.
Esther-Skadi Brunn
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