mcenroe1.jpg

Die Weltranglistenersten: Mythos Nr. 1

Wenn Mitte November im Qi Zhong Stadium in Shanghai der rote Teppich ausgerollt wird und Etienne de Villiers vor das Mikrofon tritt, ist es wieder so weit: Dann wird die Nummer 1 geehrt, der Weltranglisten-Erste, der beste Tennisspieler auf dem Globus. Der ATP-Boss wird ein paar nette Worte sagen, zur herausragenden Leistung gratulieren und eine gläserne Trophäe mit einer überdimensionalen 1 übergeben.
Jedes Jahr findet die kleine Einlage beim Masters Cup, dem Abschlussturnier des Jahres, statt. Nach ein paar Minuten ist sie vorbei. Die große, die eigentliche Zeremonie findet am Ende der Veranstaltung statt. Dann, wenn der Masters Cup-Sieger geehrt wird, der ja nicht zwangsläufig Weltranglisten-Erster sein muss.

Traum vom Gipfel

Wird die Nummer 1 nicht entsprechend gewürdigt? Vielleicht. Hatte sie früher, zu Zeiten von Jimmy Connors und Björn Borg, eine größere Bedeutung? Mag sein. Aber es kann auch daran liegen, dass man die Dinge, die weit in der Vergangenheit liegen, verklärt. Und selbst bei Borg denkt man eher an Wimbledon, an Momente, in denen er auf dem heiligen Rasen kniet, den Pokal küsst, als an die Zahl, um die sich im Tennis und im Sport generell alles dreht. Wahrscheinlich, weil sie, wie jede andere Ziffer, abstrakt ist. Man kann die 1 nicht fühlen, riechen, schmecken.
Und doch verbirgt sie eine Magie. Die Nummer 1 ist ein Mythos. Der amerikanische Tennisjournalist Christopher Clarey hat sie einmal als höchste mathematische Form der Schmeichelei bezeichnet. Und so träumt jeder Tennisprofi von ihr, wie jeder Bergsteiger von der Besteigung des Mount Everests träumt. Ob man die Nummer zwei, drei, vier oder fünf ist, ist völlig egal. Es geht darum, die Nummer 1 zu sein, hat Boris Becker einmal gesagt. Und sein Coach Bob Brett, der Becker 1991 an die Spitze der Weltrangliste führte, meinte: Egal, ob einer ein Jahr, einen Monat oder nur eine Woche ganz oben steht die Nummer 1 zu sein, ist ein Erfolg, den man sich verdient hat. Ganz nebenbei brach Brett damit eine Lanze für all die, die zwar den Gipfel erstürmten, aber als Primus blass blieben: die Newcombes und Ferreros, die Moyas und Kafelnikovs.

Die Geburtsstunde der Nummer 1 im Welttennis ist der 23. August 1973. Sicher, früher zu Zeiten von William Tilden oder Donald Budge gab es auch schon Ranglisten, aber an jenem Montag wurden in Ponte Vedra, dem floridianischen Hauptquartier der ATP, zum ersten Mal Zahlenkolonnen von einem Computer ausgespuckt. Ganz oben stand damals Ilie Nastase, der als Clown galt und von dem es hieß, mit seinem Talent hätte er die Szene auf Jahre dominieren können. Der Rumäne, der insgesamt 57 Turniere gewann aber nur zwei Grand Slam-Veranstaltungen war 40 Wochen lang Spitze. Ihm folgten bis heute 22 Spieler: Connors und Borg, McEnroe und Lendl, Sampras und Agassi, um nur einige berühmte zu nennen (siehe auch Liste nächste Seite). Jüngstes Mitglied im erlesenen Club: Roger Federer. Im Februar brach der Schweizer den Rekord von Jimmy Connors, der bis dato die meisten Wochen in Folge auf dem Spitzenplatz verbrachte nämlich 160. Bei Erscheinen dieser Ausgabe ist Federer 189 Wochen top. 

Der Beste der Besten

Wird Federer der Beste der Besten? Ein Ende seiner Regentschaft ist jedenfalls nicht in Sicht. Er selbst sagt: Ich bin gerne die Frontfigur. Und er sagt auch: Wenn du die Rangliste anführst, wird es dir nie langweilig. Schließlich hast du die ganze Welt an den Fersen. Jeder ist hinter dir her, jeder will dich schlagen. Seit dem 2. Februar 2004 steht Federer ganz oben eine Ewigkeit. Er führt mit über 2000 Punkten Vorsprung.
In dieser Spielzeit schien er nur einmal ernsthaft zu wackeln, nämlich als er in Indian Wells, Miami und Rom frühzeitig Niederlagen kassierte. Aber als es wirklich wichtig wurde, war der 26-Jährige topfit. Die Dominanz frus-triert die Konkurrenz: Ich bin die Nummer zwei. Aber ich habe mehr Punkte auf meinem Konto als so mancher Weltranglisten-Erste, sagt etwa Rafael Nadal. Und sie sorgt bei den Fans für Langeweile.

Überflieger & Denkmal

Das genau ist das Dilemma der Institution Nummer 1: Auf der einen Seite sehnt man sich nach dem Überflieger, einem Denkmal wie Connors, der 268 Wochen lang Spitzenreiter war, oder Lendl, der sogar noch zwei Wochen länger auf dem imaginären Thron saß. Der Tscheche wurde zwar nicht geliebt Der Champion, für den sich niemand interessiert, schrieb das US-Magazin Sports Illustrated Mitte der 80er Jahre , aber respektiert für seine
Leistung wurde Lendl, der dank Robert Haas-Diät und eisenhartem Training seinen Verfolgern enteilte.
Andererseits: Wenn die Herausforderer zu schwach oder, wie bei Federer, die Führenden zu stark sind, wenn es also nicht zum Kampf um die Pole Position kommt, fehlt die Spannung. Ich war die Nummer zwei hinter Pete Sampras. Ich hätte ihn erschießen müssen, um seinen Platz einzunehmen, beschrieb Goran Ivanisevic einmal seinen vergeblichen Versuch, der Beste zu werden. Was die Nummer 1 angeht, ist Sampras immer noch das Maß aller Dinge. 286 Wochen führte er die Weltrangliste an. Sechsmal in Folge (1993 bis 1998) schloss er ein Jahr als Primus ab. Und doch: In seiner Ära drehte sich das Nummer 1-Karussel so munter wie selten. Andre Agassi, Thomas Muster, Michael Chang, Boris Becker, Michael Stich und Goran Ivanisevic versuchten, Sampras zu stürzen. Muster und Agassi gelang dies sogar zwischenzeitlich. Und gestritten wurde längst nicht mehr nur auf dem Platz: Niemand sollte die Nummer 1 sein, der wie ein Affe aussieht, der sich von Baum zu Baum schwingt, ätzte Agassi über Landsmann Sampras (einen Satz, für den sich Agassi später entschuldigte). Er ist zwar auf Asche der beste Spieler der Welt, aber eben nur auf Asche. Er hat Glück gehabt, die Nummer 1 zu werden, urteilte Sampras über Muster. Der Österreicher, der immerhin sechs Wochen seinen Platz verteidigte, returnierte den Vorwurf cool: Der Sieger hat immer Recht. Basta!

Ironie der Rangliste

Weil die Konkurrenz groß war und der Punkteabstand zwischen den Rivalen klein, kam es in dieser Zeit auch zu merkwürdigen Konstellationen. Als Sampras Agassi im Finale von Wimbledon schlug,  tauschten die Amerikaner die Plätze. Plötzlich war der Unterlegene die Nummer 1 und der Sieger die zwei. Eine Ironie Kritiker schimpften Perversion der Rangliste, die nicht selten war. In Wimbledon 1991 beispielsweise schlug Stich Becker. Am folgenden Montag kehrte der gedemütigte Becker zurück an die Spitze der Weltrangliste.
Doch bevor das Konzept der Weltranglis-te geändert wurde, sollten Jahre verstreichen. Nach der Epoche Sampras folgte die Phase der Zwischenlösungen, der Interims-Nummer-einsen. Auf
Muster folgten Marcelo Rios, Carlos Moya, Yevgeny Kafelnikov und Patrick Rafter. So unterschiedlich deren Charaktere waren, als Leitfigur einer weltumspannenden Sportart taugten sie nicht. Der Chilene Rios konnte zwar mit dem Ball zaubern, hatte aber nicht einmal einen Grand Slam-Sieg vorzuweisen. Kafelnikov, der French Open-Sieger von 1996 und Australian Open-Champion von 1999, war noch unbeliebter als Lendl. Dagegen wurde Rafter gemocht vor allem von den Damen wegen seines blendenden Aussehens. In puncto Weltrangliste reichte es nur zum Minusrekord: nur eine Woche war der Australier spitze, weniger geht nicht.

Das Champions Race

Die Bedeutung der Nummer 1 schwand, weil bis auf Andre Agassi, der Ende der 90er Jahre ein fantastisches Comeback gefeiert hatte, die Persönlichkeiten fehlten. Exakt in diesen Zeitraum fiel auch die Reform der Weltrangliste. Champions Race hieß das neue Zauberwort. Die Idee: Zu Beginn jeder Saison starten alle Spieler mit null Punkten. Abgerechnet wird am Jahresende, und wer dann vorne steht, ist die Nummer 1.
Man wolle sich künftig an der Formel-1 orientieren, erklärte der damalige ATP-Chef Mark Miles. Warum sollte das, was bei Schumi und Co. klappte, nicht auch im Tennis funktionieren? Es funktionierte nicht. Vor allem, weil plötzlich niemand mehr wusste, wer die Nummer 1 ist. Jede Woche wechselten die Namen an der Spitze. Zwar kristallisierten sich im Lauf der Spielzeit die Besten heraus, doch da hatte man längst das Interesse verloren. Dass Lleyton Hewitt als Weltranglisten-Erster wahrgenommen wurde, lag eher daran, dass der Australier mit 20 Jahren, neun Monaten und 25 Tagen die jüngste Nummer 1 aller Zeiten war, und am Come on!, das er durch die Arenen brüllte.
Anfang 2006 wurde das unsägliche Race abgeschafft und kommt seitdem nur noch gegen Ende der Saison zum Einsatz, wenn es um die acht Plätze für den Masters Cup geht. Kommuniziert wurde der Wechsel zur alten Rangliste übrigens nicht der ATP war es zu peinlich, öffentlich einzugestehen, dass das Champions Race eine Dummheit war.

Biss der Alphatiere

Den wahren Alphatieren wie Connors, Lendl, Sampras oder Federer ist das System, in das sie gepresst werden, allerdings egal sie setzen sich wegen ihrer Stärke durch, ihrer spielerischen, ihrer athletischen und ihrer mentalen. Für die, die nicht diesen Biss haben, blieb es oft nur ein kurzes Vergnügen. Ich kann mir nicht vorstellen, fünf Jahre lang die Nummer 1 zu sein, philosohierte Becker unmittelbar nach seinem Sprung an die Spitze am 27. Januar 1991 bei den Australian Open. Nur zwölf Wochen blieb er oben. Jim Courier, der Mann mit der Baseball-Rückhand, verweilte zwar länger an  der Spitze (58 Wochen), aber auch seine Motivation hielt sich in Grenzen: Es ist so, als wenn man einer Frau hinterherjagt. Die Jagd macht Spaß, aber wenn man sie hat, ist es mit dem Spaß oft vorbei. Und auch für Mats Wilander, der 1988 drei von vier Grand Slam-Turnieren gewann, schien nur der Weg das Ziel. Also nun bin ich die Nummer 1. Und was soll ich jetzt tun?, fragte sich der Schwede und dankte nach 20-wöchiger Regentschaft ab.
Bevor man jetzt alle Illusionen verliert, sollte man den großen Pete Sampras noch einmal zu Wort kommen lassen: Wenn die Leute nur wüssten, wie hart ich arbeite, damit es so leicht aussieht
Andrej Antic
zapatillas air jordan 1 outlet | air jordan 1 mid black gym red release date