Ein Engel für Deutschland: Justin Engel im Porträt
Wenige Tage nach seinem 17. Geburtstag gewann Justin Engel sein erstes Match auf der ATP-Tour. So tickt die große deutsche Nachwuchshoffnung.
Text: Pirmin Clossé
Wäre es nach ihm selbst gegangen, dann wäre das alles wohl nie passiert. Dann wäre er jetzt nicht Deutschlands vielversprechendster Tennis-Teenager seit Alexander Zverev. Dann hätte er jetzt nicht als jüngster Spieler seit Carlos Alcaraz ein Match auf der Profitour gewonnen und würde er jetzt auch nicht vor einem guten Dutzend Journalisten davon berichten, wie das so war. Wenn es nach ihm selbst gegangen wäre, dann hätte Justin Engel wohl zwischen seinem achten und seinem elften Geburtstag mit dem Tennisspielen aufgehört. Ging es aber nicht. Zumindest nicht nur.
Frankfurt, Mitte Oktober, ein kleiner Raum unter den Tribünen der örtlichen „Ballsporthalle“. Justin Engel sitzt in Tennisklamotten auf einem hellgrauen Sofa und erzählt. Davon, wie er als Kind „überhaupt keine Lust auf Tennis“ hatte. Wie er lieber Fußball oder Basketball spielen wollte, „weil es einfach im Team war und man sich nicht immer alleine durchkämpfen muss“. Und er erzählt davon, wie sein Vater Horst – der auch heute noch sein Trainer ist und einst schon Anca Barna in die erweiterte Weltspitze geführt hatte – ihn mit sanftem Druck bei seinem Sport hielt. „Ich bin total dankbar, dass er mich einfach durchgepusht hat“, sagt Engel. „Es macht mir total Spaß! Es gibt wahrscheinlich kein besseres Gefühl, als mit meinem eigenen Vater Erfolge zu haben.“
Justin Engel: Nach Almaty im Rampenlicht
In Frankfurt ist der 17 Jahre alte Engel als Reservespieler beim „Ultimate Tennis Showdown“ dabei, der Schauturnierserie mit den alternativen Regeln. Gerade kommt er von einer Trainingssession mit Lorenzo Musetti, dem Weltranglisten-16. Aus Italien. Mit solchen Hochkarätern zu spielen sei er inzwischen „schon ein bisschen gewöhnt“, sagt er. Was aber offenbar neu für ihn ist, ist die ganze Aufmerksamkeit, die er dabei nun erhält. Worum es denn eigentlich gehen soll, fragt Engel zu Beginn der kleinen Pressekonferenz jedenfalls ganz unschuldig und scheint fast ein wenig überrascht, dass sich alle wirklich nur für ihn interessieren. Wenn er antwortet, wippt er etwas nervös auf dem Sofa hin und her. Manchmal bringt er seine Sätze nicht ganz zu Ende. Oder er sagt, dass er jetzt auch nicht genau weiß, was er jetzt noch sagen solle.
Die große und manchmal glitzernde Welt des Profitennis kann eben am Anfang ein bisschen einschüchternd und überfordernd wirken. Am wohlsten fühlen sich junge Spielerinnen und Spieler deshalb meistens im Wettkampf und auf dem Court. Das gilt offenkundig auch für Engel. Als er vom Turnier in Almaty erzählen soll, scheinen seine Augen plötzlich zu leuchten. Das Turnier sei „unglaublich aufgebaut“, erzählt er, von der Organisation her eines der besten 250er der Tour, das hätten ihm die anderen Profis bestätigt. „Hotel und Organisation und so, das war unfassbar“, berichtet er. „Einfach etwas total anderes als Futures oder Challenger.“
Der „Starboy” darf mit den Großen trainieren
In Villach, Uslar, Trier und Cap d’Agde hatte Engel in diesem Jahr schon vier kleinere Turniere gewonnen, in Villena glückte ihm ein vielbeachteter Sieg gegen Frankreichs Hoffnungsträger Luca van Assche, der schon unter den Top-100 der Welt stand. Engel erhielt daraufhin eine Wildcard für das ATP-Event in Kasachstans Metropole Almaty und besiegte dort prompt in Runde eins Coleman Wong aus Hongkong 7:5, 6:4. Er wurde zum jüngsten Gewinner eines Tourmatches seit Alcaraz 2020, hielt anschließend auch im Achtelfinale gegen den Top-30-Spieler Francisco Cerundolo aus Argentinien bei seiner 4:6, 6:7 (3:7)-Niederlage gut mit. In der Weltrangliste ist Engel nun als Nummer 398 der mit Abstand bestplatzierte Spieler unter 18 Jahren.
Nach dem Turnier erhielt sein Vater dann den Anruf aus Frankfurt, ob er nicht spontan zum UTS reisen wolle. Neben Musetti waren dort mit Ben Shelton, Denis Shapovalov, Gael Monfils, Jan-Lennard Struff, Ugo Humbert, Thanasi Kokkinakis und Dominic Thiem insgesamt acht Spieler aus der engeren und etwas erweiterten Weltspitze vor Ort. Und auch wenn Engel letztlich als Ersatzspieler nicht zum Einsatz kam, konnte er so wertvolle Erfahrung im Training sammeln. Einen Spitznamen, wie das bei dem knallbunten Showevent üblich ist, erhielt er vom Turnierveranstalter trotzdem: „Starboy“ nannten sie ihn. Der Junge, der schon bald die Sterne vom Himmel spielen soll.
Das große Talent des gebürtigen Nürnbergers hatte sich schon länger abgezeichnet. In der Jugend gehörte er in fast allen Altersklassen zu den Besten, war auch in den Rankings meist weit vorne zu finden. Im vergangenen Jahr gewann Engel dann an seinem 16. Geburtstag die U16-Europameisterschaft. Der Erfolg hat ihn mit seiner anfangs ungeliebten Sportart längst versöhnt. Als er anfing, „langsam die ganzen Junioren-Turniere zu gewinnen“, habe er „dann auch richtig Spaß an Tennis gehabt“, erzählt er.
Justin Engel: „Ich fühle mich total bereit”
Zusammen mit seinem Vater trainiert Engel derzeit meist auf der Trainingsanlage des VFL Nürnberg. Dazu fährt er regelmäßig nach Oberhaching zum Bundesstützpunkt des Deutschen Tennis Bundes (DTB). Sein Verhältnis zum Verband scheint dennoch nicht unbelastet. Als er darauf angesprochen wird, wie er die Nachwuchsarbeit im deutschen Tennis bewerte und wie wichtig der DTB für seine eigene Entwicklung war, druckst er plötzlich herum. Dann sagt er nur: „Da sage ich erstmal nichts dazu.“ Und muss dann direkt einmal lernen, dass er damit natürlich alle nur noch neugieriger gemacht hat.
Engel beschreibt sich selbst als einen harten Arbeiter. Pro Tag, so erzählt er es, trainiere er vier Stunden Tennis, außerdem eineinhalb Stunden Fitness, dazu noch etwa eine Dreiviertelstunde zum Beispiel die eigene Beweglichkeit. Dieses Pensum habe er zuletzt auch während Turnierwochen durchgezogen, sogar an Tagen, an denen er Matches bestritt. „Harte Arbeit ist für jeden etwas anderes“, sagt er. „Ich trainiere eben gerne viel.“ Der Erfolg gibt ihm recht.
Wie schnell es zuletzt vorwärts ging, hatte allerdings auch Engel selbst nicht erwartet. „Es kam wirklich überraschend, dass ich so einen Sprung gemacht habe in dieser kurzen Zeit“, sagt er. Allerdings sei er eben einfach drangeblieben, habe sich sogar von einer Knieverletzung nicht bremsen lassen. Jetzt erntet er die Früchte und drängt auf die ATP-Tour. „Ich fühle mich total bereit jetzt bei denen mitzuspielen“, sagt er. „Ich habe die Fitness dafür, dort mitzumachen. Jetzt brauche ich nur noch ein paar Matches, dass ich da mehr Erfahrung habe, mental, mit den Zuschauern, mit den Stadien.“
Spiel überdurchschnittlich entwickelt
Dabei wirkt Engel auf dem Court schon erstaunlich reif für sein Alter. Sein Spiel scheint in allen Bereichen überdurchschnittlich entwickelt. Der Aufschlag ist beachtlich, die Rückhand sicher, die Vorhand spielt er oft mit kräftigem Topspin. Dazu streut er Stopps ein und traut sich auch regelmäßig ans Netz. Das alles kombiniert er mit einem großen Kämpferherz, Rafael Nadal nennt er als sein Vorbild. Engel bewundert, wie dieser „sich auf dem Platz präsentiert, wie er sich pusht, wie er kämpft.“
Es ist schon eine Weile her, dass es zuletzt ein deutsches Tennistalent mit derart vielversprechenden Anlagen gab. Doch gleichzeitig gab es schon viele, die trotz solcher Anlagen auf dem Weg nach ganz oben irgendwann stecken geblieben sind. Eine große Zukunft ist Engel deshalb keineswegs garantiert. Der nächste Schritt, der aus dem Jugendbereich zu den Erwachsenen, ist womöglich der schwerste, den man als Tennisprofi in seiner Karriere zu gehen hat. Wer es gewöhnt ist, zu gewinnen, für den fühlt sich das Verlieren oft besonders hart an.
Der Vorteil: Justin Engel weiß das. „Genau das hat mein Vater auch gerade gesagt“, erzählt er in Frankfurt. „Er sagte: ‚Es ist schwer, dir das zu sagen, aber du musst jetzt wirklich damit klarkommen, dass du wahrscheinlich viele Matches verlieren wirst. Wenn du jetzt die großen Turniere spielst, wirst du wahrscheinlich mehr Spiele verlieren als gewinnen und musst trotzdem weitermachen.‘“ Doch genau das ist eben Engels vielleicht größte Stärke: das Weitermachen. Könnte er das nicht, hätte er wohl schon im Alter zwischen acht und elf mit dem Tennisspielen aufgehört. Dann wäre das alles wohl nicht passiert.
Vita Justin Engel
Geburtsdatum: 1. Oktober 2007
Geburtsort: Nürnberg
Größe: 1,88 Meter
Gewicht: 75 Kilogramm
Erfolge: 4 ITF-Titel, Achtelfinale ATP-Turnier Almaty
Bestes ATP-Ranking: 398 (STand: 21. Oktober 2024)