Jasmine Paolini – Die Tennis-Frau des Jahres
Jasmine Paolini hat die Tenniswelt mit ihrem Aufstieg überrascht und ein Stückchen fröhlicher gemacht. Was steckt hinter ihrem tollen Tennisjahr – und ist ihr Erfolg nachhaltig?
Text: Florian Goosmann, Stefano Semeraro
Von der britisch-vornehmen Zurückhaltung früherer Jahre ist immer weniger zu spüren in Wimbledon. Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer auf dem Centre Court jemanden ins Herz geschlossen haben (und genügend Schampus und Pimm’s intus), ist die Zuneigung fast grenzenlos. Roger Federer weiß das. Carlos Alcaraz weiß das. Und seit diesem Jahr weiß es auch Jasmine Paolini.
Zwei Stunden und 52 Minuten dauerte das längste, für einige das beste Wimbledon-Halbfinale, das es je gab, zwischen ihr und Donna Vekic, und die Diskrepanz hätte größer kaum sein können. Auf der einen Seite die Italienerin Paolini, die kämpfte, antizipierte, wirbelte und spektakulär punktete. Auf der anderen Seite die kühl agierende Kroatin, schmerzerfüllt und schon vor dem Matchende mit Tränen in den Augen. Vekic wollte diesen Sieg so sehr, dass es einem fast leid tat, wenn das Publikum wieder mal deutlich enthusiastischer für Paolini jubelte. Denn Vekic machte nichts falsch – aber sie spielte scheinbar gegen Windmühlen. Gegen eine, der die Herzen mühelos zufliegen.
Viele positive Vibes
Jasmine Paolini hat diesen Zauber, diese positive Kraft, auch in kritischen Phasen. Wie im Match gegen Vekic, in dem sie lange einem Rückstand hinterherlief. Andere schmeißen dann den Schläger und wüten gegen ihr Team. Paolini aber erinnert an Carlos Alcaraz, das Gute-Laune-Pendant bei den Herren: Sie gibt sich die Faust, verbreitet positive Vibes und lacht, auch wenn mal etwas misslingt. „Ich versuche, viel zu lachen. Wenn ich das nicht tue, bedeutet es, dass ich mich nicht gut fühle“, sagt sie. „Mein Coach ist immer besorgt, wenn ich im Training oder Match nicht lache. Er weiß, dass es wichtig für mich ist. Und ich bin froh, dass ich so bin.“
In diesem Jahr hatte Paolini viele Gründe zum Lachen. Sie spielt aktuell das Tennis ihres Lebens, mit immerhin schon 28 Jahren. Das kommt überraschend. Paolini war keine, die man für die Weltspitze auf dem Zettel hatte, selbst vor wenigen Monaten noch nicht. Im Juniorinnen-Bereich war Platz 70 das Höchste der Gefühle, bei den Erwachsenen gelang ihr erst Anfang 2020 der Sprung unter die Top 100. Das Jahr 2024 startete sie auf Rang 29. Dass sie es als Nummer 4 der Welt abschließen würde, garniert mit einem 1000er-Titel in Dubai, als Finalistin bei den French Open und in Wimbledon, als Doppel-Olympiasiegerin und entscheidende Frau zum Sieg Italiens beim Billie Jean King Cup: Für diese Wette hätte man mehr abgeräumt, als man bei einem Sommertrip in die Toskana ausgeben könnte.
Jasmine Paolini: Viel Biss, Emotionen und ein einnehmendes Lachen
Paolini kam dort in der Gemeinde Castelnuovo di Garfagnana auf die Welt, knapp 80 Kilometer nordöstlich von Florenz. Papa Ugo ist Italiener, Mama Jaqueline hat polnische und ghanaische Wurzeln. Mit fünf Jahren stand sie dank ihres Vaters und des tennisbegeisterten Onkels erstmals auf dem Court, im naheliegenden Mirafiume Tennis Club in Bagni di Lucca. Und Paolini hatte, so erinnert sich Mama Jaqueline (und wie könnte man sich es anders denken): einen Riesenspaß. Sie komme ganz nach ihr, sagt Jaqueline: ein starker Charakter mit viel Biss und Emotionen. Warum sie die Menschen so für sich einnehme, wie in Wimbledon? Jasmines Lachen sei der Grund. Fröhlichen Menschen schaue man eben lieber beim Tennisspielen zu als traurigen. Noch dazu, wenn sie engagiert bei der Sache sind. „Wenn Jasmine etwas erreichen will, gibt sie alles dafür“, sagt Papa Ugo.
Dabei fehlte Paolini einst der ganz große Glaube. Als Kind habe sie Tennis genossen, ohne viel zu träumen, sagt sie. Auch zu Beginn ihrer Profikarriere habe sie nicht daran gedacht, je die Nummer eins der Welt zu werden oder ein Grand Slam-Turnier zu gewinnen. „Ich habe es gehofft, aber nicht daran geglaubt. Ich habe von naheliegenderen Dingen geträumt.“ Mittlerweile betrachtet sie diesen Ansatz kritisch: „Das war nicht gut. Träumen ist wichtig.“ Paolini überrascht es, Interviews von Novak Djokovic oder Landsmann Jannik Sinner aus deren Kindheit zu sehen, in denen beide davon sprechen, die Weltranglistenspitze erobern zu wollen. „Ich bin wohl ein anderer Typ Mensch.“
Jasmine Paolini: Sinneswandel im Sommer 2023
Paolini fehlte auch als Profi lange Zeit das Selbstvertrauen, ganz oben mitspielen und gegen Spitzenspielerinnen gewinnen zu können. Das hat sich geändert. Sie datiert ihren Sinneswandel auf den Sommer 2023. Damals begann sie, konstanter zu spielen. Ein Prozess sei das gewesen, kein plötzlicher Switch. „Ich gehe inzwischen auf den Platz und sage mir: ‚Okay, das wird schwer, aber ich habe eine Chance.‘ Früher dachte ich, dass ich solche Matches nicht gewinnen kann. Dass es dazu ein Wunder braucht.“ Ein Knackpunkt für ihren Lauf in diesem Jahr: Beim 1000er-Turnier in Dubai lag sie im Auftaktmatch gegen Beatriz Haddad Maia mit 4:6, 2:4 und 15:40 zurück – und gewann am Ende sensationell das Turnier. Durch das Erreichen des Endspiels in Roland-Garros, das sie gegen Überspielerin Iga Swiatek verlor, knackte sie die Top 10. Nach dem Wimbledonfinale stand sie auf Platz fünf. Dabei hatte Paolini auch auf Rasen ihre Zweifel. In diesem Jahr aber spielte sie sich in einen Rausch.
Böse Zungen witzelten: Kein Wunder – der tiefe Ballabsprung auf Gras kommt Paolini mit 1,63 Meter Körpergröße entgegen. Wo andere tief in die Knie müssen, trifft sie den Ball schön auf Hüfthöhe. Mag sein. Andererseits fehlt Paolini der Winkel beim Aufschlag. Zusammen mit Daria Kasatkina gewinnt sie von den Top 20 die wenigsten Punkte nach dem ersten Service. Paolini nimmt es gelassen. „Natürlich wäre ich gerne größer, weil ich dann besser aufschlagen könnte. Aber ich habe akzeptiert, dass ich klein bin. Wir machen kein Problem daraus, sondern versuchen den Aufschlag in anderen Aspekten zu verbessern.“ Paolini hat ohnehin andere Stärken. Sie bewegt sich flink (auch wenn sie ungern rennt, wie sie einst erzählte), sie antizipiert gut, spielt von Natur aus aggressiv. Das muss sie. Im heutigen Tennis reicht es für Spielerinnen mit geringer Körpergröße nicht mehr, alles auszugraben. Sie würden weggedrückt werden. „Weil ich klein bin, darf ich nicht zu weit hinter der Grundlinie stehen“, weiß Paolini. „Ich muss offensiv bleiben.“
Aufschlag mit nur 1,63 Meter Körpergröße
Hinter Paolinis Aufstieg steht vor allem ein Name: Renzo Furlan. Der Italiener, in den 1990er-Jahren ein berüchtigter Sandplatzwühler und die Nummer 19 der Welt, unterstützt sie seit 2015. Furlan stand damals beim serbischen Verband unter Vertrag und reiste nur gelegentlich mit Paolini. Seit 2020 sind die beiden sportlich fest liiert. Coach Furlan macht drei Qualitäten für eine unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit von Tennisspielern aus: Technik, Athletik und Motivation. Bei Paolini drei Volltreffer. „Jasmine war technisch bereits stark ausgebildet, obwohl sie lernen musste, ihr Spiel mehr zu variieren. Körperlich war sie bemerkenswert gut – zierlich, aber belastbar und explosiv. Und sie war hoch motiviert.“ Taktisch habe man ihr Spiel jedoch angepasst. Sie habe immer schon sehr zügig gespielt, so Furlan, sich aber meist parallel der Grundlinie bewegt. Sie habe lernen müssen, sich in den Platz hineinzuschieben, abhängig vom Tempo und Drall der gegnerischen Bälle.
Unterstützt werden Paolini und Furlan von Danilo Pizzorno, Videoanalyst für den italienischen Tennis- und Padelverband. „Er hat ein unfassbares Wissen, was Technik angeht“, lobt Furlan. So sei Paolini immer davon ausgegangen, dass Tempo das Geheimnis sei, um Punkte zu gewinnen. Entsprechend oft habe sie überdreht. Vor allem an der langen Vorhand habe man gefeilt, denn früher habe sie zu flach gespielt. Die Bälle seien tief im Netz oder zu kurz im Feld gelandet. Pizzorno habe ihr gezeigt, wie man auch mit viel Spin tolle Gewinnschläge anbringen könne, aber mit weniger Risiko behaftet. Auch in Sachen Aufschlag hat man die Palette erweitert: Paolini kann mit Slice oder Kick servieren und ebenso flach, wenn sie auf ein (seltenes) Ass geht. Fitnesscoach Andrea Bracaglia, mit dem sie seit dem Frühjahr 2023 zusammenarbeitet, hat sie körperlich auf ein höheres Level gehievt.
Ein weiteres bekanntes Gesicht in Paolinis Box ist Sara Errani. Die ehemalige Nummer 5 der Welt, French-Open-Finalistin 2012 und fünffache Grand-Slam-Siegerin im Doppel, ist mittlerweile eng mit Paolini verbandelt. Errani hatte Paolini als Partnerin auserkoren, um die Olympischen Spiele in Paris zu bestreiten. Paolini habe sofort eingeschlagen, berichtet Furlan, trotz einer gewissen Angst vorm Doppelspiel. Sie habe nicht gewusst, wie man wirklich agiere. Errani habe ihr geholfen, dank ihr habe sie Aufschlag, Return und das gesamte Netzspiel verbessert. „Ich fühle mich am Netz mittlerweile deutlich entspannter“, sagt Paolini.
Durch das Doppel die Einzel-Taktik lernen
Und weiter: „Sara hilft mir sehr, die Doppel mit ihr bringen mich enorm weiter. Ich frage sie viel, schaue mir ab, wie sie das Spiel liest und versteht. Sie spielt taktischer als ich, wohl auch schlauer. Mit ihr Doppel zu spielen, hilft mir, Tennis zu verstehen.“ Erranis Olympiaplan ging auf: In Paris gewannen die beiden Olympisches Gold, zum Ende der Saison den Billie Jean King Cup. „Über das Doppel habe ich mich auch im Einzel verbessert“, sagt Paolini. Paolinis Lernbereitschaft sei ihre beste Qualität, sagt Renzo Furlan. „Wenn sie spürt, was ihr helfen kann, investiert sie viel Zeit und saugt so viel wie möglich auf.“ Dazu komme ihre sonnige, fröhliche, energetische Art. „Wenn sie eine Vorhand in die Prärie schießt, wird sie nicht wütend oder schmeißt ihr Racket. Sie ist die Erste, die darüber lacht. Und dieses Lachen ist viel wert.“ Natürlich habe auch sie schwierige Momente. „Aber Jasmine ist immer so, wie man sie erlebt. Sie ist erfolgreich, weil sich nicht verstellt, wie andere es tun.“
Ob Paolini sich dauerhaft in der absoluten Weltspitze halten kann? Ob in diesem Jahr einfach alles zusammengepasst hat? Und ob die Chance auf einen Grand-Slam-Titel noch mal kommt oder speziell das Wimbledonfinale gegen Barbora Krejcikova die große Chance darauf war? Das fragen sich einige. Denn diese eine hervorstechende Superkraft – die Power einer Aryna Sabalenka, die Intensität einer Iga Swiatek oder die Athletik einer Coco Gauff: Die fehlt Paolini dann doch. Ihre Lockerheit, ihr Lächeln, ihre Energie haben sie weit getragen. Ob sie das alles beibehalten kann, wenn erste Rückschläge und Zweifel kommen? Man mag es ihr wünschen. Denn Jasmine Paolini und ihr Spaß am Spiel: Es tut dem Tennis wahnsinnig gut.