Nicolas Massu im Interview: „Der beste Moment in meinem Leben”
Mit zwei Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen hat Nicolas Massu Heldenstatus in Chile erreicht. Wir haben mit ihm über seine besondere Olympia-Reise gesprochen.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 4/2020
Athen, 22. August 2004. Um 2:39 Uhr in der Nacht schreibt Nicolas Massu gemeinsam mit seinem Doppelpartner Fernando Gonzalez chilenische Sportgeschichte. Mit dem dramatischen Fünfsatzsieg gegen das deutsche Duo Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler holen die beiden das allererste Olympia-Gold für Chile. Wenige Stunden später kehrt Massu auf den Platz zurück, um das Finale im Einzel gegen Mardy Fish zu bestreiten – und gewinnt seine zweite Goldmedaille. Der Chilene ist der einzige Tennisprofi, der zwei Goldmedaillen bei den gleichen Olympischen Spielen gewann. Als tennis MAGAZIN Massu auf der Anlage bei den Australian Open zum Olympia-Interview trifft, merkt man schnell, wie beliebt er in seinem Heimatland ist. Als seine chilenischen Landsleute ihn entdecken, belagern sie ihn und bitten um ein Selfie.
Herr Massu, mit welchen Erwartungen sind Sie zu Olympia 2004 gefahren?
Meine ersten Olympischen Spiele 2000 in Sydney waren eine gute Lernerfahrung für mich, auch weil ich bei der Eröffnungsfeier die chilenische Flagge getragen habe. In Athen war ich 24 Jahre alt. Zu dieser Zeit stand ich kurz vor den Top Ten. Einen Monat vor Olympia gewann ich das Turnier in Kitzbühel. Auch im Doppel hatte ich mit Fernando Gonzalez gute Ergebnisse erzielt. Ich habe immer gedacht, dass ich eines Tages die Chance haben werde, eine Medaille zu gewinnen.
Sie haben in Athen gemeinsam mit Fernando Gonzalez ein emotionales Doppelfinale gegen Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler gewonnen und dabei vier Matchbälle am Stück abgewehrt. Welche Erinnerungen haben Sie an das Match?
Fernando und ich waren Kämpfer. Das Finale war nicht leicht, da Fernando und ich in dieser Woche sehr viele Stunden gespielt hatten. Wir haben die Anlage morgens sehr früh betreten und sind später als Letzte gegangen. Fernando hat vor dem Doppel noch das Match um die Bronzemedaille im Einzel gespielt. Er stand dreieinhalb Stunden auf dem Court, gewann 16:14 im dritten Satz und hatte nur 45 Minuten Pause, bis wir zum Doppelfinale antraten. Damals ging das Endspiel noch über drei Gewinnsätze. Es war umso wichtiger, dass Fernando die Bronzemedaille gewonnen hatte. Das hat uns mental sehr geholfen. Als ich ihn in der Umkleide sah, sagte er nur: „Ich bin bereit, zu kämpfen.“ Wir waren immer ein Team, vom ersten bis zum letzten Ballwechsel. Wir haben immer an uns geglaubt, nicht nur in diesem Match, auch in unseren Karrieren. Diese Mentalität braucht man.
Wenige Stunden nach dem Doppelfinale mussten Sie wieder auf den Platz. Sie haben das Einzelfinale in fünf Sätzen gewonnen. Wie haben Sie das geschafft?
Ich war darauf vorbereitet, da ich unfassbar viele Stunden in meinem Leben trainiert habe. Ich wusste, seitdem ich ein Kind war, dass ich alles in meinem Leben nach diesem Sport ausrichten muss, wenn ich auf einem guten Level spielen möchte. Vom ersten bis zum letzten Ball habe ich auf dem Platz mein Bestes gegeben. Manchmal hat man das Glück auf seiner Seite, aber manchmal auch nicht. Manchmal erwartet man viel und spielt schwach. Manchmal erwartet man gar nichts und spielt unglaublich. So ist Tennis. Das muss man akzeptieren. Wir waren so spät mit unserem Doppel fertig, dass ich nur sehr kurz schlafen konnte, weil ich noch eine Dopingkontrolle und Presseaufgaben hatte. Das habe ich gespürt. Ich bin morgens aufgewacht und war alles andere als frisch und erholt.
Und dennoch haben Sie nach einem 1:2-Satzrückstand gewonnen.
Das Wichtigste ist, dass dein Geist vorbereitet ist. Ich habe so viele Stunden trainiert, um daran zu glauben, dass mein Körper akzeptiert, dass ich weitere Stunden spielen muss. Ich habe auf dem Weg ins Finale starke Spieler bezwungen und war selbstbewusst. Es war wie im Doppelfinale. Ein Auf und Ab der Gefühle. Beide Finals hätten auch anders ausgehen können. Ich bin noch immer unglaublich glücklich, dass ich beide Matches gewonnen habe. Es sind bis heute die einzigen Goldmedaillen für Chile bei Olympia. Als Marcelo Rios die Nummer eins wurde, habe ich mir gedacht: Okay, er kommt aus Chile, ist 22 Jahre alt und die Nummer eins der Welt. Wenn er das schafft, kann auch ich das gleiche erreichen. Sich für Olympia zu qualifizieren, ist schwer genug. Und dann zwei Goldmedaillen zu gewinnen, war der beste Moment in meiner Karriere und in meinem Leben.
Sind Sie ein Superstar in Chile?
Das ist immer noch eine große Sache. Die Chilenen werden sich immer an mich erinnern. Manchmal steht meine Karriere nur hinter meinen olympischen Erfolgen. Zunächst bin ich der Olympiasieger , erst danach wird meine weitere Karriere gesehen. Die Leute, die sich mit Tennis auskennen, sehen mich auch als Top Ten-Spieler und nehmen meine gute Karriere wahr. Ich sage meinen jungen Spielern in meiner Akademie in Chile immer, dass sie Großes erreichen können. Sie müssen nur daran glauben, dass es möglich ist. Ich war auch einmal elf Jahre alt und habe Tennis im Fernsehen verfolgt. Ich hatte auch Probleme, am Anfang meiner Karriere Sponsoren zu finden, um zu Turnieren zu reisen. Aber das ist Teil des Lebens. Wenn man kämpft und motiviert bleibt, dann zahlt sich das eines Tages aus. Wenn man das Talent hat, wird man irgendwann genau dort ankommen, wo man hinmöchte. Das ist genau das, was ich weitergeben möchte. Ich möchte ein gutes Beispiel für die Kinder sein.
Was ist in den Tagen passiert, nachdem Sie die zwei Goldmedaillen gewonnen haben?
Ich war erst drei Wochen später in Chile. In Miami haben Fernando und ich viele Interviews gegeben. Dann ging es weiter nach New York zu den US Open. Erst danach sind wir nach Chile zurückgeflogen. Wir haben zu Hause im Davis Cup in der Relegation gegen Japan gespielt. Chile war damals mehr als 20 Jahre lang nicht in der Weltgruppe. Wir haben Japan 5:0 geschlagen und anschließend eine große Party gefeiert.
Was haben Sie mit den beiden Goldmedaillen gemacht?
Sie sind in Chile an einem sicheren Ort. Ich habe sie nur einmal herausgenommen. Das war 2013, als ich meine Karriere beendet habe. Damals gab es eine große Presseveranstaltung, um meinen Rücktritt zu verkünden. Olympia hat eine sehr starke Bedeutung für mich. Eine Medaille zu gewinnen – egal, ob Gold, Silber oder Bronze – ist so bedeutend. Man weiß nie, wann diese Dinge passieren, aber man muss immer darauf vorbereitet sein. Ich hatte viele Träume als Spieler, diesen einen habe ich verwirklicht. Ich würde es für nichts in der Welt ändern wollen.
Waren Sie jemals wieder in Athen nach dem Gewinn der beiden Goldmedaillen?
2014 für fünf Tage, es war unglaublich. 2004 habe ich die Stadt nicht gesehen. Ich war nur im olympischen Dorf. Deshalb wollte ich für einige Tage zurück. Ich war am Finalort, am Meer und in der Stadt. Ich liebe dieses Land und hoffe, dass ich wieder dorthin reisen kann, um Urlaub zu machen und auf der Senioren-Tour oder bei Schaukämpfen zu spielen.
Vita Nicolas Massu
Geboren 1979 in Vina del Mar gehörte Massu neben Marcelo Rios und Fernando Gonzalez zur goldenen Generation im chilenischen Tennis. Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen gewann er sowohl die Goldmedaille im Einzel als auch im Doppel. Im Einzel holte er insgesamt sechs ATP-Titel und schaffte es bis auf Platz neun in der Weltrangliste. Mit Chile siegte er 2003 und 2004 beim World Team Cup in Düsseldorf.