Emilio Sanchez: „Du wächst an Niederlagen”
Was macht eigentlich Emilio Sanchez? tennis MAGAZIN traf den früheren Gegner von Boris Becker und heutigen Akademiebetreiber in München.
Es gibt Leute, mit denen fühlt man sich auf Anhieb wohl. Emilio Sanchez ist so einer. Früher, zu aktiven Zeiten von Boris Becker, kannte ihn in Deutschland jedes Kind. Seine Schwester Arantxa war die Dauergegnerin von Steffi Graf. Emilio war die Nummer sieben im Einzel und die Nummer eins im Doppel. Ein Gespräch über Alcaraz, die Rolle eines Coaches, Becker, Borg, Nadal, Sampras, Niederlagen als Triebfeder und seine Liebe für Fivesetter.
Herr Sanchez, was macht einen guten Trainer aus?
Einen Spieler zu trainieren, ist eine Aufgabe fürs Leben. Juan Carlos Ferrero zum Beispiel betreut Carlos Alcaraz, seit er 14 Jahre alt ist. Er ist wie ein Sohn. Er kommt in sein Haus. Sie trainieren, frühstücken, spielen wieder Tennis, essen zu Mittag und danach geht es wieder auf den Platz. Toni Nadal hat 15 Jahre mit seinem Neffen Rafael Nadal zusammengearbeitet. Es gibt Trainer auf der Tour, die ein paar Jahre mit einem Spieler unterwegs sind und danach ein paar Jahre mit einem anderen. Aber einen Spieler zu entwickeln, dauert 15 Jahre. Es ist wie bei einem Auto. Die Ingenieure investieren viel Zeit.
Haben Sie jemanden in Ihrer Akademie, der wie ein Sohn ist?
Wir hatten ein paar richtig gute Spieler. Die Spielerin, die wir am längsten trainiert haben, war Svetlana Kuznetsova. Sie war zehn Jahre bei uns, vom 14. bis zum 24. Lebensjahr. Andy Murray war fast dreieinhalb Jahre bei uns, Grigor Dimitrov zweieinhalb Jahre. Murray hat mit uns die Junior US Open gewonnen, Dimitrov Wimbledon und die US Open bei den Junioren. Dann gingen sie auf die Tour und hatten andere Trainer. Für Marketing-Zwecke ist es sehr gut, einen Top-Spieler zu haben. Aber wahr ist auch: Ferrero ist 30 Wochen im Jahr mit Alcaraz unterwegs und nicht in der Akademie.
Reisen Sie viel?
Zuerst bin ich zwei Jahre mit meiner Schwester gereist, danach mit Kuznetsova. Dann war ich im Davis Cup involviert. 2017 war ich ein bisschen mit Fernando Verdasco unterwegs. Eine Beziehung wie Ferrero mit Alcaraz hatte ich nie.
Sie betreiben Akademien in Barcelona und Naples, Florida. Wie muss man es sich dort vorstellen?
In Barcelona haben wir eine Schule, ein Hotel, drei Restaurants. Es gibt 27 Tenniscourts. In Florida sind es 38. In Barcelona ist aber alles größer als in Florida. Wir haben mehr Betten. Es ist ein großes Unternehmen mit 150 Mitarbeitern: Kellner, Putzkräfte, Security-Leute. In Naples haben wir ungefähr 40 Mitarbeiter, alles ist kleiner.
Gibt es eine Philosophie in Ihren Akademien?
Mein Wunsch ist es, aus Spielern Tennisspieler zu machen. Tennisspieler leben für Tennis. Sie geben 100 Prozent. Sie sind mit Intensität und Leidenschaft dabei. Das Gute am Tennis ist, dass du lernst, wie man verliert. Es gibt viele Momente, in denen du strauchelst, aber dein Mindset ist so, dass du weitermachst, auch wenn du 0:2 in Sätzen zurückliegst. Jeder will wie Murray, Dimitrov oder Kuznetsova sein, aber wir haben jedes Jahr hundert Spieler hier und alle sind verschieden. Ein Spieler aus den USA war vier Jahre bei uns und reinigt jetzt Flüsse in Indonesien. Mit dem Plastik, das er herausfischt, produziert er Kleidung und verkauft sie. Wenn wir telefonieren, sagt er, dass er alles dem Tennis zu verdanken hat. Er hat gelernt, wie man verliert. Tennisspieler verlieren ständig.
Da geht Es lang: Ein Credo von Emilio Sanchez lautet, dass man durch Niederlagen stark wird.Bild: Emilio Sanchez Academy
Und das macht sie stark?
Ja. In Roland Garros gehen 128 Spieler an den Start und nur einer gewinnt. Selbst die Nummer eins der Welt gewinnt nur 55 Prozent der Punkte. Federer, Nadal, Djokovic verlieren 45 Prozent ihrer Punkte. Die Besten der Welt verlieren fast jeden zweiten Punkt. Aber sie sind so gut, weil sie im Vergleich zu den anderen diese drei bis vier Prozent mehr gewinnen. Sie sind so gut darin, Niederlagen zu akzeptieren, weiter hart zu arbeiten, öfter die Vorhand zu schlagen. Ich bin mir sicher, Ihr habt mehr gearbeitet als die anderen Magazine, deshalb besteht das tennis MAGAZIN seit 50 Jahren.
Vielen Dank, aber ein Jahr dauert es noch bis zum Jubiläum. Ihr Punkt ist, dass Tennis eine Schule fürs Leben ist?
Es gibt eine Untersuchung, dass von den besten 1.000 Händlern an der Wall Street 500 Tennisspieler sind. Beim Handeln ist es nicht wichtig, den besten Kunden zu finden, um Geld zu verdienen. Das macht 20 oder 30 Prozent aus. Das meiste Geld verdienen sie, wenn sie verlieren und weitermachen. Tennisspieler haben den Willen, nach Niederlagen weiterzumachen. Du musst die Vergangenheit vergessen und manchmal ist die Vergangenheit nur zwei Sekunden alt.
Welche Erfahrungen machen Sie mit jungen Spielern, von denen es heißt, sie können sich nicht mehr so konzentrieren?
Viele haben Angst vor der Zukunft, weil die Erwartungen so hoch sind. Daraus folgt Frustration. Wir müssen die Erwartungen senken, um die Frustration zu verringern. Frustration ist heutzutage das größte Hindernis für die Entwicklung junger Spieler. Die Erwartung ist viel größer als zu meiner aktiven Zeit, als ich gegen Boris Becker spielte. Wir haben nicht drüber nachgedacht, ob wir die Nummer eins werden, sondern nur darüber, dass wir 100 Prozent geben. Du denkst nicht, dass du gewinnen musst, sondern dass du alles geben musst. Und dann kommen die Siege von ganz allein.
Und bei den Kids heute?
Da gibt es viele mentale Probleme. Die Sozialen Medien sind schuld. Was in der virtuellen Welt passiert, ist nicht die Realität. Viele posten schöne Bilder und gaukeln sich vor, dass alles einfach ist. Erwartungen und Realität passen nicht zusammen.
Carlos Alcaraz, ein Kind der heutigen Generation, hat es geschafft. Was ist Ihre Erklärung?
Sein Geheimnis ist, dass er dieses Mindset hat. Er spielt Weltklasse, aber er hört nicht auf, sich weiter zu verbessern. Er hat eines der besten Spiele, die es jemals im Tennis gab. Er kann schnell und langsam spielen, hoch und tief, kurz und lang, Grundlinie und Netz. Er kann alles. Und er ist 21 Jahre alt, also kann er sich noch weiter verbessern. Das gilt auch für Jannik Sinner.
Sehen Sie zwischen den beiden eine jahrzehntelange Rivalität wie zwischen Roger Federer und Rafael Nadal?
Ja. Eine Rivalität ist gut, weil sich die Spieler gegenseitig besser machen. Du musst immer besser werden wollen als der andere. In dem Moment, wo du nicht mehr glaubst, der Beste sein zu können, wirst du schlechter. Das war bei Björn Borg und John McEnroe so. Borg war der Beste und dann kam McEnroe. Sie trieben sich gegenseitig zu immer höheren Leistungen an. Als McEnroe anfing, ihn zu besiegen, fand Borg keine Motivation mehr und gab auf. Aber das war die spezielle Denkweise von Borg. Als Federer 2008 die Nummer eins war und Nadal gegen ihn immer öfter gewann, fand Federer den Willen, härter zu trainieren, den Schläger zu wechseln, sein Spiel zu ändern, um ihn wieder zu besiegen. Als Rafa erstmals gegen Djokovic verloren hatte, musste er etwas ändern, um wieder der Beste zu sein. Diese Spieler finden einen Weg, immer weiterzumachen. Normale Menschen treffen auf Hindernisse und geben auf. Aber die Champions machen immer weiter.
Sie hatten viele Duelle mit Boris Becker. Wie war das?
Boris war ein Supertalent. Er war unglaublich selbstbewusst. Wir haben gemeinsam das Finale beim Sunshine Cup (Juniorenturnier in Florida; Anm. d. Red.) gespielt. Boris ist zwei Jahre jünger als ich. Ich habe sofort realisiert, wie viel Potenzial er hat. Später auf der Tour hat er immer versucht, mich mit meinem eigenen Spiel zu besiegen. Er hatte seine Stärken, aber er wollte den Gegner mit dessen Stärken besiegen. Ich habe viel Rückhand-Slice gespielt, bin ans Netz gegangen. Er hat dann genauso gespielt. Er wollte allen zeigen: Egal, was du spielst, ich bin besser als du.
Sie und die anderen Spieler aus dieser Generation wurden damals durch Becker prominent in Deutschland. Haben Sie das auch so empfunden?
Aber ja. Die Deutschen liebten Tennis. Alle wollten sein wie Boris. Die Tribünen waren voll. Der Davis Cup war unglaublich. Es war für alle sehr gut. Du brauchst Spieler mit so einem Charakter, die andere Menschen inspirieren. Boris hat so viele Menschen inspiriert, nicht nur die Leute, die bereits in der Tennisindustrie waren.
Erinnern Sie sich an besondere Matches gegen ihn?
Ich habe ihn ein paar Mal geschlagen, in Rom oder Monte Carlo. Wir haben ein Finale in Indian Wells gespielt und er hat mich in vier Sätzen besiegt. Als wir 1986 in Roland Garros gespielt haben, schlug er mich in fünf Sätzen, was für mich enttäuschend war. Ich habe nicht gut gespielt, aber er hat mich auch nicht gut spielen lassen. Er hat besser aufgeschlagen als sonst. Wir hatten ein sehr hartes Match im Davis Cup in Barcelona über fünf Sätze. Ich hatte meine Chancen, ihn zu schlagen, aber ich habe verloren. Aber danach war er kaputt und Sergio Casal besiegte ihn im entscheidenden Match. Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona trafen wir im Viertelfinale auf Becker und Michel Stich. Wir waren die Favoriten und lagen 2:1 in Führung. Sie haben nicht miteinander gesprochen, aber sie waren so gut, schlugen sehr gut auf. Wir haben das Match in fünf Sätzen verloren.
Lassen Sie uns in die Gegenwart zurückkehren. Was halten Sie von Alexander Zverev?
Ich bewundere ihn sehr, weil er ein harter Arbeiter ist. Er hat einen Vorteil durch seinen Aufschlag. Für mich spielt er auf der Vorhandseite zu weit hinten. Er müsste näher an der Grundlinie stehen und mehr Druck mit der Vorhand machen. Er verliert zu viele Punkte auf der Vorhandseite. Wenn er aufschlägt, ist er aggressiver, weil er einfachere Bälle hat. Aber das zählt nicht, weil er seinen Aufschlag eh gewinnt. Der Schlüssel ist es, aggressiv zu sein, wenn der Gegner aufschlägt. Zverev hat viele große Matches verloren, weil er zu defensiv war. Die Spieler, die Grand Slam-Turniere gewinnen, sind Meister darin, das zu tun, was sie gut können. Wenn sie in einer Phase nicht gut spielen, finden sie über fünf Sätze einen Weg, es wieder gut zu machen. Das ist ihr Charakter. Sie finden immer einen Weg, um zurückzukommen. Wenn man sich die großen Rivalitäten anschaut – Nadal gegen Djokovic, Nadal gegen Federer, Sampras gegen Agassi –, dann sieht man diesen unglaublichen Kampf. In einem Punkt wechselt vier-, fünfmal die Initiative. In einem Punkt!
Training bei einer Legende: Emilio Sanchez gibt Kurse für alle Leistungs- und Altersklassen. Von Ende Juni bis Anfang September finden wöchentlich Sommercamps statt.Bild: Emilio Sanchez Academy
Es gibt seit Jahren die Diskussion, Matches zu verkürzen, weil das dem Zeitgeist entspricht. Eine gute Idee?
Nein, ich bin eine romantische Person. Die Magie des Tennis liegt in den Partien über fünf Sätze. Ich denke, der größte Fehler, den das Tennis gemacht hat, war es, der ITF zu erlauben, den Davis Cup zu zerstören und in drei Sätzen spielen zu lassen. In der Geschichte des Tennis geht es darum, unter diesen schwierigen Bedingungen zu performen. Das ist die ultimative Challenge. Fünf Sätze auf Sand, im Finale von Paris, zeigen, dass man der ultimative Kämpfer ist. Sand ist der einzige Court, der dir nicht hilft. Wenn du auf Rasen oder auf Hartplatz spielst, hilft dir der Platz. Ich kann mich nicht an ein Finale aus der letzten Masters-1000-Saison über Best-of-three erinnern. Und ich bin jemand, der sich das ganze Jahr mit Tennis beschäftigt.
Würden Sie die Finals der Masters-Events über fünf Sätze spielen lassen?
Ja. Selbst die Finals in Kitzbühel und in Hamburg wurden früher über fünf Sätze gespielt. Das sind die Matches, an die sich die Leute erinnern. Ich mag auch diese Masters-Turniere über zwei Wochen überhaupt nicht. Das wird ein großes Problem. Der Aufwand für die Top-Spieler, bei jedem Masters eine Woche länger zu spielen, beeinflusst sie mental extrem. Selbst, wenn du einen Tag spielst und den nächsten nicht, musst du bereit sein zu performen. Wie bei den Grand Slams. Die Tage, an denen du nicht spielst, stehst du trotzdem im Wettbewerb.
Aber es geht um viel Geld.
Genau. Wenn du eine Woche hast, kommen 100.000 Zuschauer, wenn du zwei Wochen hast, kommen 200.000 Zuschauer. TV-Rechte und Streaming-Rechte sind besser über zwei Wochen. Aber wenn du irgendwann zwölf Turniere über zwei Wochen veranstaltest, sind es 24 Wochen. Dazu kommen die vier Grand Slams mit jeweils drei Wochen, weil du eine Woche zur Vorbereitung brauchst. Das sind 36 Wochen. Spieler brauchen Zeit, sich zu regenerieren. Turniere wie Hamburg, Barcelona oder München werden Probleme bekommen. Und es gibt noch etwas, das mich ärgert.
Verraten Sie es uns.
Wir Europäer haben einen schlechten Job gemacht, unsere Ressourcen zu beschützen. Vor Paris gibt es weniger Turniere auf europäischer Asche, wir haben Estoril verloren. Nach Wimbledon müssen europäische Spieler auf Hartplatz wechseln, weil die Hardcourt-Saison mit Washington schon im Juli beginnt. Es liegt daran, dass wir Europäer nicht so stark in die Entscheidungen der ATP involviert werden. Das ist verrückt! Die meisten Spieler kommen aus Europa und wir verlieren wichtige Turnierwochen. Monte Carlo droht aus dem Kalender zu fallen, weil es direkt nach Miami ist. Aber die Wochen auf Sand sind wichtig. Wenn Spieler wie Becker oder Federer voll auf die Sandplatzsaison gesetzt haben, waren sie fitter und haben besser in Wimbledon gespielt. Andy Murray hat oft gesagt, dass die Sandsaison zu hart ist. Aber in den Jahren, wo er auf Sand gespielt hat, war er ein besserer Spieler. Die ATP sollte diese Wochen schützen. Für Leute, die aus anderen Branchen kommen, wollen sie neue Wege finden, aber die europäischen Sandplatzturniere sind die Essenz und Historie unseres Sports.
Engagierter Talk: Emilio Sanchez im Gespräch mit tennis MAGAZIN-Chefredakteur Andrej Antic im Infinity Hotel & Conference Resort in München.Bild: Datenbank
Info Emilio Sanchez Academy
Emilio Sanchez, 59, zählte Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre zu den weltbesten Profis. 1998 gründete er seine eigene Tennisakademie (zunächst mit Doppelpartner Sergio Casal) in Barcelona (Flughafennähe). Später kam die Akademie in Naples, Florida, dazu. Standort Barcelona: 27 Tennisplätze (13 Sand, 6 Australian Hardcourt, 6 Greenset und 2 Rasenplätze), einen Fußball, Basketball- und Volleyballplatz, Fitnessbereich sowie acht Padelplätze, Außenpool und eine Spielerlounge. Eine internationale Schule befindet sich direkt auf dem Campus. Standort Naples: 38 Courts (Sand und Hardcourt), Tennisclub mit Restaurant, Schule, Olympischer Pool. Mehr infos unter: www.emiliosancheztennisacademy.com