Michael Stich

Hat viel zu erzählen: Michael Stich verfolgt das Geschehen auf der ATP-Tour weiterhin intensiv. ©Imago/Christoph Hardt

Michael Stich im Interview: „Die Saison war gefühlt schon immer zu lang“

Michael Stich spricht im ausführlichen Interview über die derzeitige Situation auf der ATP-Tour, vergangene Zeiten und das allmähliche Aussterben der einhändigen Rückhand.

Herr Stich, die „Big Three“ – Federer, Nadal und Djokovic – dominieren nicht mehr. Jannik Sinner und Carlos Alcaraz haben 2024 die Grand Slam-Turniere unter sich aufgeteilt. In welcher Phase befindet sich das Herrentennis?

Es gab immer Umbrüche. Wenn man zurückdenkt, hat Sampras das Herrentennis dominiert. Dann gab es dieses Match gegen Federer in Wimbledon, wo man nicht erahnen konnte, was daraus entsteht. Es ist ein steter Prozess. Die Phase mit den Big Three, oder wenn man Andy Murray dazu nimmt den Big Four, ist außergewöhnlich, weil es viele andere talentierte Spieler gab, die es aber nicht geschafft haben, in diese Phalanx einzubrechen. Diese Generation dominierte, bis sie Mitte oder Ende 30 Jahre alt war und erst dann kam die junge Generation. Ich glaube, Tennis ist aktuell gut aufgestellt. Es sind sehr, sehr gute Spieler da.

Ist der Lauf der Dinge diesmal nicht überraschend? Nach Pete Sampras und Andre Agassi entstand ein Loch. Es gab Zwischenlösungen mit Kafelnikov, Moya, Rafter, die die Nummer eins waren, aber nicht diese Konstanz hatten. Aber jetzt haben wir sofort Spieler mit Konstanz.

Es ist anders. Alle sagen immer, ihre Zeit war die beste Zeit. Das ist normal.  Zu unserer Zeit war Sampras sehr dominierend, aber trotzdem gab es Edberg und Becker. Wir durften noch gegen Lendl und McEnroe spielen. Mit Jim Courier, Goran Ivanisevic und Petr Korda hattest du viele Spieler, die immer wieder an die Tür geklopft haben, die auch Grand Slams gewonnen haben. Einige mehr, einige weniger. Das hat halt in den letzten 20 Jahren gefehlt. Es gab keine Überraschungen. Bei uns hat ein Thomas Johansson die Australian Open gewonnen. Das konnten wir gar nicht vorhersehen. Aber er hat es geschafft, über zwei Wochen das Tennis seines Lebens zu spielen.

Michael Stich: „Früher war die Konkurrenz größer“

Also war es früher doch besser.

Ich glaube, dass die Konkurrenz insgesamt größer war. Bei Goran Ivanisevic dachten wir, er hätte auch fünf Grand Slams gewinnen müssen. Bei mir wahrscheinlich auch. Nicht, weil wir bessere Tennisspieler waren, sondern weil wir von der Mentalität her vielleicht eher in der Lage waren, in einem Grand Slam über zwei Wochen fünf Sätze zu spielen. Das war lange etwas, das fehlte. Wir haben im Davis Cup Best of Five gespielt. Fast jedes größere Turnier war im Finale Best of Five. Wir haben dieses Training, Best-of-Five-Matches unter Wettkampfbedingungen, viel öfter gehabt. Jetzt kommen die Spieler auf die Tour, spielen immer nur Best of Three und plötzlich sind sie beim Grand Slam und müssen über 14 Tage Best of Five spielen.

Leuchtet ein.

Wir haben ja taktisch gelernt, wenn du 2:0-Sätze führst, dann lässt du bei einem kleinen Durchhänger vielleicht mal den dritten Satz laufen. Oder du wusstest: ‘Ne, bleib dran, jetzt häng’ dich noch mal die nächste Stunde rein‘, weil du in drei Sätzen vom Platz sein willst. Du wusstest: Sieben Matches über vier oder fünf Sätze funktionieren nicht. Diese Erfahrung fehlt vielen jungen Spielern heute, weil sie es nicht lernen. Wie willst du es nachstellen? Im Training kannst du es, aber es ist halt was anderes. Ich glaube, das spielt eine große Rolle. Dann kommt die Erfahrung viel mehr zum Tragen, weil Djokovic, Federer, Nadal und Murray so viele Best of Fives gespielt haben, dass sie irgendwann wussten, wie es geht.

Carlos Alcaraz

Überflieger: Carlos Alcaraz fehlt im Alter von 21 Jahren nur noch der Triumph bei den Australian Open zum Karriere-Grand Slam.

Djokovic und Nadal spielen beide noch. Was kann man von ihnen von erwarten?

Bei Rafael deutet vieles darauf hin, dass die Karriere vorbei ist. Man kann in niemanden reingucken, aber selbst wenn er noch mal kommt, wird er nie wieder das Leistungsniveau erreichen, das er hatte. Dafür sind die Pausen und die Zeit, die du brauchst, um wieder anzufangen, zu lang. Du musst viel mehr und härter arbeiten, was schwierig ist. Bei Novak ist es etwas anders. Er hat einen immer wieder überrascht. Sie haben uns alle immer wieder überrascht zu gewissen Zeiten ihrer Karrieren. Aber ich hätte mir bei Rafael gewünscht, dass er nach dem 14. French Open-Sieg sagt ‘Ich hör auf’. Ich hätte mir für Novak nach dem Goldmedaillen-Gewinn auch gewünscht, dass er Schluss macht. Was soll denn noch kommen? Der elfte Australian-Open-Sieg? Wenn ihn das antreibt, alles gut. Aber irgendwann, so ging es mir ja, willst du nicht gegen die Nummer 30, 40 oder 50 der Welt verlieren und dich so sehr anstrengen müssen. Den Absprung zu finden, ist immer schwer.

Michael Stich: „Sinners Entwicklung ist außergewöhnlich“

Zurück in die aktuelle Phase. Werden Sinner und Alcaraz die alles überragenden Spieler sein?

Ich gebe zu, ich war früher kein Freund von Sinners Art Tennis zu spielen, bin jetzt aber sehr begeistert. Die Entwicklung, die er in den letzten zwölf Monaten mit Darren Cahill gemacht hat, das ist schon echt außergewöhnlich.

Sieht man eine Handschrift von Cahill?

Nein, er hat ein ganz anderes Spiel gespielt. Cahill war ein ganz klassischer Serve-and-Volley-Spieler und nicht gerade bekannt dafür, eine starke Rückhand oder Vorhand zu spielen. Es geht mehr um das Mindset. Darum zu vermitteln, was du brauchst, um bei den großen Matches ganz vorne zu sein. Cahill hat selbst nie ein Grand Slam-Turnier gewonnen, aber er hat viele Spieler trainiert, die sehr erfolgreich waren. Es ist auch ein australisches Mindset. Ich habe mit Wally Masur gearbeitet und das war noch mal wieder anders, weil es um Work Ethics geht. Da geht es um Fleiß, um Training und um mentale Disziplin, die du haben musst. Und Sinners Spiel ist ja, wie das vieler junger Spieler heute, ein bisschen eindimensional.

Im Gegensatz zu dem von Alcaraz?

Ihn muss man herausheben, auch die Italiener, die wieder eine andere Facette ins Spiel mit reinbringen. Aber Sinner hat es trotzdem geschafft, auch taktisch, unglaublich dazuzulernen und das ist etwas, was vielen dieser Spieler aus der neuen Generation fehlt: die taktische Anpassung an den Gegner, an Gegebenheiten, an Spielsituationen. Wenn mein Spiel nicht läuft, was ist mein Plan B? Wie kann ich mich darauf einstellen und trotzdem gewinnen? Das ist etwas, was ein Darren Cahill absolut vermitteln kann, weil er nie eindimensional war. Er wusste, auf Sand musste er ganz anders spielen als auf Rasen, weil er von seiner Spielart her keine Alternative hatte.

Jannik Sinner

Der Zweifel spielt mit: Das herausragende Jahr von Jannik Sinner wird von einem Dopingfall überschattet. ©Imago

Alcaraz kann hinten spielen, vorne spielen. Er fabriziert Stopps, schlägt gut auf. Ist er der modernste Typ Tennisspieler, den man haben könnte?

Er ist der Spieler, der viele Spielstile am ehesten vereint. Der auch mal Serve-and-Volley beim Breakball down spielt. Wer macht das heute sonst noch? Die meisten Spieler bleiben lieber hinten, versuchen, den Ball im Spiel zu halten und den Punkt nicht zu verlieren. Alcaraz ist einer, der sagt ‘Ne, ich will den Punkt gewinnen’. Das ist der große Unterschied, warum jemand ganz nach vorne kommt oder es nicht schafft. Um ganz nach vorn zu kommen, musst du in den entscheidenden Phasen auf Sieg spielen, auch mit dem Risiko, dass du verlierst. Das gehört immer dazu und Alcaraz verkörpert schon sehr vieles. Wenn ich ihn sehe, habe ich trotzdem das Gefühl, dass er sein Spiel immer noch nicht final gefunden hat. Dass er in manchen Situationen immer noch ein bisschen verspielt ist, was schön anzusehen ist, weil er auch mal Dinge macht, bei denen man von außen oder als Kommentator sagt ‘Warum machst du das jetzt?’. Aber dann denkt man ‘Eigentlich geil, dass er es versucht, weil es ihm gerade in den Kopf kam’.

Michael Stich: „Du musst magische Momente produzieren“

Ist das vergleichbar mit dem jungen Federer, bei dem es immer hieß, er hat so viele Optionen, dass er sich da auch mal verheddert?

Ja, unbedingt. Und ich kann das sogar ein Stück weit auch auf mich selbst beziehen. Am Ende geht es irgendwann darum, das Talent, das du hast, zu entfalten. Mark Lewis, mein ehemaliger Coach, sagte mir, dass ich sehr viele Möglichkeiten hätte. Trotzdem habe ich auch irgendwann gelernt, Prozent-Tennis zu spielen. Aber wenn du in die Endphase eines Grand Slams kommst, musst du diesen einen Geistesblitz haben. Du musst in der Lage sein, zu improvisieren und kreativ zu sein, weil du weißt, der auf der anderen Seite hat genau mein Niveau. Das Prozent-Tennis kannst du immer spielen, wenn du gegen Spieler spielst, von denen du weißt, wenn ich meine 90 Prozent abrufe, dann reicht das. Aber wenn Alcaraz gegen Sinner spielt, weiß er, er muss diesen einen magischen Moment produzieren. Er braucht ihn. Und das geht nur, wenn du auch frei bist und das Risiko eingehst.

Es gibt die Generation mit Zverev, Medvedev, Tsitsipas. Sind die überholt worden von den beiden?

Offensichtlich ja (lacht). Was die Erfolge angeht, muss man das sagen. Alcaraz und Sinner bringen für diese Spieler aber auch wieder eine neue Herausforderung, denn sie (Zverev, Medvedev, Tsitsipas; d. Red.) haben sich bisher immer an Federer, Nadal, Djokovic orientiert und versucht, einen Weg zu finden. Jetzt haben sie plötzlich Spieler vor sich, die fünf Jahre jünger sind, die wieder eine andere Facette des Spiels reinbringen. Das heißt, sie müssen sich jetzt eigentlich wieder neu finden und sagen ’Okay, jetzt ist das nicht mehr mein bisheriger Maßstab, sondern ich muss ein anderes Spiel adaptieren, um erfolgreich zu sein‘. Und wir reden nicht über die breite Masse der Spieler, wo diese Jungs meistens als Sieger hervorgehen. Sondern wir reden immer über die großen Matches. Und ja, das ist so, das ist die nächste Generation. Musetti ist auch ein Spieler mit vielen Möglichkeiten. Ihm fehlt sicherlich noch die mentale Fähigkeit, das, was er kann, umzusetzen und auf den Platz zu bringen. Und es kommt schon wieder die nächste Generation. In zwei Jahren haben wir wieder neue Spieler, wer immer das sein wird. Es wird nicht leichter.

Lorenzo Musetti spielt eine einhändige Rückhand. Haben die Einhänder den Kampf gegen die Beidhänder endgültig verloren?

Ich verstehe es nicht. Natürlich sind alle Vorbilder der letzten 20, 25 Jahre Beidhänder, außer Federer. Viele denken ja, die beidhändige Rückhand ist einfacher. Ich glaube das nicht. Da kann man sich jetzt wahrscheinlich kräftig drüber streiten und technisch viel diskutieren. Fakt ist, du musst als Beidhänder mehr laufen und die Rückhand ist eh der leichteste Schlag im Tennis, einmal technisch gesehen.

Wie bitte?

Am Ende musst du nur nach vorne schwingen, bei der Vorhand musst du immer den ganzen Körper aus dem Weg bringen. Deswegen spielen die Profis heute alle offen, weil sie es klassisch gar nicht mehr lernen. Du musst einem Kind auch die Chance geben, die Rückhand einhändig zu spielen. Der Slice ist viel einfacher, ein Volley ist viel einfacher. Das sind schon zwei Gründe, warum es eigentlich sinnvoller wäre, einhändig zu spielen. Okay, Beidhänder haben vielleicht mehr Kontrolle, mehr Stabilität, klar. Aber ich würde heute einem Spieler immer sagen ‘Spiel einhändig’. Ich verstehe nicht, warum die einhändige Rückhand so ein bisschen in Verruf geraten ist.

Michael Stich: „Die meisten Beidhänder haben einen schlechten Rückhand-Slice“

Der Erfolg gibt den Beidhändern Recht, oder?

Nein, wenn es 50 Einhänder und 50 Beidhänder geben würde, dann könntest du den Vergleich anstellen. Wenn es aber nur drei Einhänder und 97 Beidhänder gibt, dann ist es schwierig. Ein Schlag, der für mich taktisch und technisch ein ganz wichtiger ist, ist ein Rückhand Slice Longline. Das ist ein unglaublich effektiver und wichtiger Schlag, um den Platz zu öffnen und den Rhythmus des Gegners zu brechen. Den lernst du nicht, wenn du Beidhänder bist, weil du beidhändig eh primär Rückhand Cross spielst. Die meisten Beidhänder haben einen schlechten Slice. Das ist einfach so, weil sie ihn nicht beigebracht bekommen oder ihn technisch nicht gut umsetzen können. Deswegen würde ich immer sagen, selbst wenn du beidhändig spielst, lerne einen guten einhändigen Slice. Das eine steht zum anderen nicht im Widerspruch.

Es heißt, Zverev hat die vielleicht beste beidhändige Rückhand. Er ist die Nummer zwei der Welt, aber ein Grand Slam-Turnier hat er noch nicht gewonnen. Wie sehen Sie seine Entwicklung?

Das trifft ja auf viele in der Generation zu, auch auf Tsitsipas. Es gibt viel Potenzial, aber am Ende geht es darum, zu spielen, um zu gewinnen und nicht zu spielen, um nicht zu verlieren. Und gerade bei diesen Big Matches geht es darum, Risiken einzugehen und zu sagen ‘Ich gewinne und habe keinen Zweifel daran’. Ich weiß, dass es immer einfach ist, das von außen zu bewerten. Wenn ich manche alte Matches von mir sehe, frage ich mich heute manchmal, was ich da um Gottes Willen überhaupt gemacht habe. Aber Alexander ist extrem stabil. Er ist auch jemand, von dem du denkst, wenn er 0:2- Sätze hinten liegt, kann er trotzdem in fünf gewinnen. Er hat ja eine große mentale Stärke im Sinne, dass er niemals aufgibt und Punkt für Punkt spielt. Aber das reicht auf dem Niveau irgendwann nicht mehr, wenn du die ganz großen Titel gewinnen willst und wir reden über die Grand Slams. Dann musst du halt spielen, um zu gewinnen. Und du musst in der Lage sein, zu akzeptieren, den Punkt zu verlieren. Das ist bei Tsitsipas schwierig. Das ist bei Alexander schwierig, über die letzten Jahre immer knapp davor zu sein. In unserer Zeit war Cédric Pioline ein sehr talentierter Spieler, was die Technik und alles anging. Er hat seine ersten neun Finals auf der ATP-Tour verloren. Er war zweimal im Grand Slam-Finale, hat zweimal ganz glatt verloren. Weil da genau dieses Gen fehlte. Weil er auf der anderen Seite einen hatte, der gesagt hat, es gibt keinen Zweifel, ich gewinne. Fertig. Es gibt keine Diskussion darüber.

Alexander Zverev

Warten auf den großen Knall: Alexander Zverev erreichte 2024 bei den French Open sein zweites Grand-Slam-Finale. ©Imago/Robert DeutschBild: Imago/Robert Deutsch

Was müsste Zverev tun, um ein Grand Slam-Turnier zu gewinnen?

Das zu sagen finde ich immer schwierig. Ich weiß, man möchte von den Alten immer gern etwas hören, die meinen, sie wissen alles besser. Das tun wir natürlich nicht. Ich finde, es ist heute ganz schwer, sich überhaupt in die Generation hineinzuversetzen, weil es ein anderes Tennis geworden ist. Weil sie anders trainieren. Wenn ich mir heute die Aufwärmphasen im Fernsehen ansehe, was die für ein Programm durchziehen, da wäre ich schon vor Matchbeginn platt gewesen. Wir sind zehn Minuten auf der Stelle gehüpft und haben uns dann eingespielt. Deswegen ist das ganz schwer zu beurteilen. Ich glaube, es geht bei den Spielern, bei denen man denkt, die müssten eigentlich ein Grand Slam-Turnier gewinnen und sie haben es nicht getan, darum, die Risikobereitschaft zu haben. Zu sagen ‘Ich gehe da raus und gewinne’. Es darf nicht eine Sekunde ein Zweifel in deinem Kopf sein, sonst klappt es nicht. Ich habe es erlebt, French Open, US Open, die Finals, die ich verloren habe. Ich hatte halt diese fünf Prozent – Zweifel ist vielleicht das falsche Wort. Aber es fehlten die letzten fünf Prozent der eigenen Überzeugung, dass ich gewinne. Spieler wie Pete, wie Boris, auch wie ein Agassi, wenn sie kurz vorm Match waren, dann gab es keinen Zweifel. Und das ist, glaube ich, das letzte Tickchen, das bei Zverev fehlt. Immer auch mit der Möglichkeit, dass du in drei Sätzen verlierst. Das ist dann halt so.

Michael Stich: „Spieler brauchen ab und zu neuen Input“

Zverev hat ja viel auch mit anderen Trainern ausprobiert. Letztlich kehrte er immer zu seinem Vater als Coach zurück. Kann man an dieser Stellschraube noch drehen?

Jan-Lennard Struff zeigt es ja jetzt nach neun Jahren. Er trennt sich von seinem Trainer, weil er ein Ziel damit verfolgt. Er will noch mal einen Schritt gehen, was immer der nächste Schritt für ihn ist. Und man sieht es bei Tsitsipas, der sich jetzt auch von seinem Vater vermeintlich getrennt hat, aus unterschiedlichsten Gründen wahrscheinlich. Ich glaube schon, dass die Spieler in dieser Phase einfach mal einen anderen Input brauchen. Es muss aber passen. Menschlich, von der Philosophie. Du musst als Spieler offen sein, auch andere Wege anzunehmen, um dich weiterzuentwickeln. Das setzt aber wiederum voraus, dass du dich als Spieler weiterentwickeln kannst. Wenn du den Gedanken nicht hast, dann brauchst du kein neues Umfeld. Du brauchst das Umfeld nur, wenn du sagst ‘Meine Vorhand ist nicht perfekt, ich will meine Vorhand verbessern oder meinen Volley’. Dann hole ich mir Darren Cahill ins Team, weil der mit mir 20 Wochen lang Volleys trainieren kann. Wenn du aber glaubst, dass dein Volley für dein Spiel eigentlich gut genug ist, dann hast du natürlich keine Motivation, das zu tun. Bei Tsitsipas haben alle immer von seiner Rückhand geschwärmt. Seine Rückhand ist im Endeffekt sein schlechtester Schlag. Man kann das technisch verändern und anpassen, damit es ein besserer Schlag wird. Aber du als Spieler musst selber das Risiko eingehen und sagen ‘Ich versuche das und geh den Weg, probiere es aus, was immer dabei rauskommt’. Aber die Bereitschaft musst du haben. Und nur dann macht eine Veränderung auch wirklich Sinn.

Zverev kritisiert die lange Saison. Sie wurden 1993 im November ATP Weltmeister, gewannen danach den Davis Cup spielten noch beim Grand Slam Cup. Ist die Saison heute zu lang?

Die Saison war gefühlt schon immer zu lang. Aber sie ist, wie sie ist. Punkt. Das ist der Job. Es geht um Belastungssteuerung. Bei den Spielern der heutigen Generation kommt dazu, durch die Art, wie sie Tennis spielen, dass sie eine höhere Belastung haben. Wenn man sich heute Matches anguckt, die 6:4, 7:5 in der Halle ausgehen, wird das deutlich. So ein Match hätte bei uns wahrscheinlich eine Stunde und fünfzehn Minuten gedauert. Heute dauert das Match zwei Stunden und zehn Minuten. Dazu bist du mental ausgelaugt und das ist ein großer Faktor. Diese mentale Komponente hat ja sehr viel mit der körperlichen zu tun. Es ist ja nicht nur Alexander, der das kritisiert, auch ein Sinner und ein Alcaraz, alle kritisieren das. Dann sollen sie sich mit der ATP hinsetzen und drüber reden. Auf der anderen Seite gibt es die Turnierveranstalter, die diesen Spielern überhaupt die Möglichkeit geben, ihren Job zu machen, die damit Geld verdienen müssen, damit es kein Zusatzgeschäft wird. Du machst ein Turnier, weil du damit Geld verdienen willst und dafür brauchst du wiederum die Spieler. Also da beißt sich die Katze in den Schwanz. Und alle haben Lizenzen, alle haben viel Geld investiert und wollen auch ihren Return on Invest haben.

Die Masters 1000-Turniere laufen jetzt, gefühlt mit viel Leerlauf, über zwei Wochen. Ist das vernünftig?

Es ist ein Weg, der glaube ich, nicht aufzuhalten ist, weil es die Spitze der Pyramide ist. Es gibt die meisten Punkte und das größte Preisgeld, diese Turniere verdienen mit Abstand am allermeisten Geld. Eigentlich haben die Spieler nicht mehr vier Grand Slams im Jahr, sondern sie haben mittlerweile 13 Grand Slams im Jahr, weil sie zusätzlich bei neun Turnieren zwei Wochen vor Ort an einer Stelle sind. Ist das schön? Ich hätte keine Lust dazu gehabt. Ich fand es schön, wie es war. Eine intensive Woche 64er Feld und wieder abreisen. Ich glaube, es schafft mental eine große Belastung, dass man auch bei einem Masters 1000 bis zu 14, 15 oder 16 Tagen vor Ort sein muss.

Michael Stich: „Wäre schöner, wenn die Finals noch Weltmeisterschaft heißen würden“

Haben die ATP Finals und auch der Davis Cup noch die Bedeutung von früher?

Die Finals auf jeden Fall. Da würde ich keine Abstriche machen. Wäre schöner, wenn sie immer noch ATP-Weltmeisterschaft heißen würden. Dann hätte es gefühlt noch mal eine andere Bedeutung. Der Davis Cup hat mit Sicherheit nicht die Bedeutung von früher. Zumindest von außen betrachtet. Für die Spieler kann ich es nicht beurteilen. Dass die Deutschen nach China fliegen müssen und eine Heimmannschaft gar nicht spielt, ist völlig gaga. Ich wüsste nicht, ob ich beim Davis Cup in seiner heutigen Form noch spielen würde. Ich kann auch mit dem United Cup nichts anfangen. Wir haben damals die ATP-Team-Weltmeisterschaft im Rochusclub in einer Woche gespielt. Heute wird das Ganze aufgebläht auf drei Orte. Warum nicht klein, kompakt und fein und den Spielern auch ein bisschen Belastung ersparen? Ob ich jetzt in sieben Tagen zwei Matches oder drei Matches spiele, das ist völlig egal.

Michael Stich

1993 war sein Jahr: Michael Stich gewann 1993 sechs Titel, darunter die ATP-WM in Frankfurt, den Davis Cup und schloss die Saison auf Platz zwei im ATP-Ranking ab. ©Imago

Es gibt weitere Turniere, die offensichtlich beliebt sind, der Laver Cup beispielsweise. Wie muss man das bewerten auch vor dem Hintergrund einer langen Saison?

Ich war einen Tag in Berlin, habe mir das angeguckt und es war schon toll gemacht. Die Halle war großartig, das Setup war toll. Es ist ja so ein bisschen eine Roger Federer-Vermarktungsveranstaltung, mit all seinen Firmen und Brands, die er damit verkauft und vertreibt. Aber es ist super smart gemacht. Es ist auch eine tolle Anerkennung für Rod Laver. Braucht es das Event im ATP Turnierkalender? Aus meiner Sicht nicht. Und jeder Spieler, der dort spielt und sich vermeintlich verletzt, sollte sich definitiv nicht über einen zu engen Turnierkalender beschweren, weil er sich die Woche freinehmen könnte. Wenn es die Spieler, auch das kann ich nicht beurteilen, als so wertvoll empfinden, weil ein Mannschaftssport im Tennis immer schön ist, ist das okay. Aber ein Exhibition-Turnier wie den Laver Cup hätte es zu unseren Zeiten im klassischen ATP-Turnierkalender niemals gegeben.

Nein?

Nein. Und noch einmal zum Thema lange Saison: Als ich in meiner Funktion als Turnierdirektor von Hamburg mit ATP-Chef Adam Helfant in den Gremien saß, im National Board und European Board, sagte er, es gäbe diverse Gutachten von Ärzten, die sagten, die Saison wäre zu lang. Da habe ich gesagt, ‘Adam gib mir eine Woche, ich besorge dir Gutachten von Ärzten, die das Gegenteil behaupten’. Es ist ja okay, wenn man die Saison verkürzen wollte. Aber zum gleichen Zeitpunkt gehen Federer und Nadal nach Südamerika und spielen zwei Wochen Exhibitions. Ich verstehe, dass sie damit super viel Geld verdienen und das machen. Das ist ihre freie Zeit und ihre Entscheidung. Aber ich glaube, die Spieler sollten nie vergessen, dass die Turnierveranstalter diejenigen sind, die ihnen ihre Jobs garantieren. Und da rede ich nicht nur von den Topleuten, weil das ist ja eine ganz kleine Gruppe, sondern es geht auch um die Nummer 20 bis Nummer 100, die davon leben, deren Beruf das ist, die sich ja auch nicht beschweren. Ich habe jedenfalls selten gehört, dass sich irgendeiner von denen beschwert. Das ist die Basis des Sports. Natürlich brauchst du die Superstars, aber wenn du Nummer 20 bis 100 nicht hättest, würde es den Sport nicht geben.

Sind Formate wie der Ultimate Tennis Showdown gut für Tennis? Sind es richtige Schritte, wenn man neue Fans gewinnen will oder konterkariert es eine Traditionssportart?

Ganz schwierig zu sagen, da ich ja nicht mehr zu der jungen Generation gehöre, die jetzt für Tennis begeistert werden muss. Ich finde die Formate witzig. Sie haben eine Kurzweiligkeit. Sie werden über vier Tage, glaube ich, gespielt und es passiert immer irgendwas. Am Ende ist es ein reines Showevent, wo man Menschen Tennis ein bisschen anders nahe bringt. Es gibt ein paar Regeländerungen, die ich auch auf der Tour begrüßen würde. Ich würde die Shotclock auf 20 Sekunden verkürzen. Ich würde die Zeit zwischen den Seitenwechseln von anderthalb Minuten auf eine Minute verkürzen. Ich würde durchsetzen, dass nach dem ersten Spiel ein echter „Change of Ends“ stattfindet. Das heißt nämlich nicht, zur Bank gehen, die Flasche aus der Tasche nehmen, einen Schluck trinken, sich abwischen, sondern wirklich Seitenwechsel. Der einzige, der durchgeht, ist Alexander, auch im Tiebreak. Das ist die Regel, ich verstehe auch die Schiedsrichter nicht, die es nicht ahnden. Es würde zu einer Beschleunigung des Spiels führen. Ich würde bei Netzaufschlägen weiterspielen. Das macht das Spiel spannender und bringt einen Glücksfaktor mit rein. Die Zeit der Matches ist durch verschiedene Faktoren so viel länger geworden und es wird immer schwieriger, den Fernsehzuschauer am Fernseher zu halten.

Michael Stich: „Schade, dass so wenig Spieler auf der Tour eine klare Meinung haben“

Saudi-Arabien ist ein großes Thema. Im Oktober gab es das Six Kings-Event mit 7,5 Millionen Gage nur für den Sieger. Ist das pervers?

Das Geld nicht. Wenn es da ist und die Spieler es gewinnen können. Das wäre so, als wenn du die LIV-Tour im Golf infrage stellen würdest. Warum kriegt ein Jon Rahm 300 Millionen für zehn Jahre, wenn er da spielt? Das ist die Summe, die kolportiert wurde. Du kannst den Spielern keinen Vorwurf machen, aber auch da wieder: Wenn sie es tun, sollten sie nicht darüber reden, dass der Job zu anstrengend ist. Es sind alles Entscheidungen, die sie völlig frei treffen. Sie sind selbstständige Unternehmer und sie müssen überlegen, was für sie richtig ist. Gefühlt sind die Spieler heute mehr verletzt als sie es zu unserer Zeit waren. Und das hat ja auch einen Hintergrund und es liegt nicht nur daran – das ist aber meine ganz persönliche, unwissenschaftliche Meinung – , dass sie mehr spielen, sondern daran, dass sie wesentlich länger spielen, also die Matches wesentlich länger dauern. Mit allem, was danach noch kommt. Es sind immer die gleichen Routinen. Sie kommen vom Match, dann geht es aufs Fahrrad, dann geht es in die Dusche, Eistonne, Dusche, Physiotherapie. Immer das Gleiche. Bei uns hat man vielleicht Massage gemacht, ein bisschen Stretching. Du hast viel mehr auf deinen Körper selber gehört. Das ist aber eine ganz subjektive eigene Meinung. Ich glaube, heute hören die Spieler weniger auf ihren Körper, sondern mehr auf das Umfeld, was natürlich viel wissenschaftlicher geworden ist, Stichwort Trainingssteuerung. Ich habe keine Ahnung, wie Trainingssteuerung heute gemanagt wird. Wenn ich schlecht drauf war und die Rückhand kam nicht, habe ich zu meinem Trainer gesagt ‘Lass uns heute nur Vorhand spielen’.

Zurück zu Saudi-Arabien. Die WTA Finals werden dort statt, ein Masters 1000 soll 2026 dort veranstaltet werden. Ist das eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist?

Ich glaube, das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Die Golftour, die LIV Tour, ist ein vergleichbares Beispiel. Ein Rory McIlroy hat eine ganz klare Einstellung dazu und er könnte mit Sicherheit noch wesentlich mehr Geld verdienen als ein Jon Rahm oder viele andere, die da mitspielen. Aber er hat eine Grundsatzeinstellung, auch eine moralische Einstellung und sagt Nein. Da ist für mich eine Grenze, für meinen Sport zum einen, aber auch für mich als Mensch und es geht nicht immer nur ums Geld. Ich kenne die Konzepte nicht, aber am Ende kannst du dir Saudi Arabien nicht schönreden. Die leben ihr Leben, das ist deren Gesellschaft, das ist deren Struktur. Ich finde, wir haben auch nicht immer das Recht von außen zu sagen, was richtig, was falsch ist. Aber es gibt Dinge, die sind einfach nicht richtig und ich halte nichts von dem Argument ‘Wir gehen dahin und helfen damit, Dinge zu ändern’. Wenn mir damals jemand mit Millionen vor der Nase herumgewedelt hätte, glaube ich, dass ich es nicht gemacht hätte. Aber das ist wirklich eine so fiktive Frage, die sich schwer beantworten lässt.

Aber bei vielen scheint die Devise zu lauten: Wir nehmen die Kohle mit.

Ja, auch ein Rafael Nadal, der jetzt ja sogar, soweit ich weiß, Tennis-Botschafter für Saudi-Arabien ist. Es wäre wirklich interessant, mal eine ehrliche Antwort zu bekommen. Und die ehrliche Antwort kann ja sein, ich nehme das Geld mit, weil die zahlen mir zig Millionen dafür. Das ist ja nicht mal verwerflich. Da kann man ja nicht mal sagen, das darfst du aber nicht. Der kann machen, was er will. Aber er muss natürlich auch mit der anderen Seite des Blickwinkels leben können, dass jemand sagt, das ist nicht in Ordnung, weil Geld nicht alles ist. Wie viel Geld willst du noch haben? Ich finde es schade, dass es auf der Tour nicht mehr Spieler gibt, die eine klare Meinung dazu haben. Für oder wider. Egal.