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Was läuft wo? Angesichts der vielen Tennis-Streams kann man schon mal den Überblick verlieren (Foto: Shutterstock).

„Viele Fans sind in den 90ern hängengeblieben“

Mehr Streaming-Plattformen, höhere Kosten: Der Kommunikationswissenschaftler ­Michael Schaffrath über die Aufsplitterung von Tennis-Übertragungen in Streams und TV, das Ende der Fernsehromantik und die Zukunft des Tennissports als Live-Sportart.

(Das Interview erschien im Original in der Printausgabe 4/2024 und wurde an einigen Stellen aktualisiert)

Herr Professor Schaffrath, als deutscher Tennisfan, der alle Profimatches inklusive der Teamwettbewerbe live sehen will, muss man 2024 Abos bei fünf Streamingdiensten abschließen und zahlt dafür knapp 400 Euro. Wie erklärt sich eine derartige Aufsplitterung?
Der Hauptgrund für diese Entwicklung ist, dass die Vermarkter einer Sportart wie ­Tennis nach Sendern oder ­Plattformen suchen, über die sie den größtmöglichen finanziellen Benefit generieren können. Genauso läuft es beim Fußball oder bei der Formel 1. Diese Spitzensportarten sind von einer gewissen Gier getrieben, mit ihren Rechteverkäufen eine Menge Geld verdienen zu wollen – und auch zu müssen. Die Frage ist dann immer: Wo kommt das Geld her? Augenscheinlich ist es so, dass ein einzelner Anbieter nicht dazu in der Lage ist, die finanziellen Erwartungen einer Sportart allein zu stemmen. Es kommen also mehrere Player ins Spiel, die für sich jeweils entscheiden, ob sie ihr Angebot, dem ein Investment vorausging, so an ihr Publikum bringen können, dass eine Refinanzierung der Kosten garantiert ist. Daraus entsteht dann die Aufsplitterung oder auch Fragmentierung des Sport-Bewegtbild-Marktes, also klassisches Fernsehen plus Streaming-Anbieter.

Heißt das: Je mehr Streaming-Plattformen Tennis übertragen, desto mehr Geld ist für die Tennis-Übertragungsrechte im Umlauf?
Das ist zu vermuten, genau. Das Grund­problem sind die über Jahre gestiegenen Kosten für die Übertragungsrechte – und zwar unabhängig von der Sportart. Das heißt: Die Refinanzierungsmöglichkeiten werden für die Sender oder Plattformen immer schwieriger. Gleichzeitig hat sich der Markt selbst sehr gewandelt. Die vielen neuen Streaming-Anbieter brauchen Inhalte und Alleinstellungsmerkmale, um vom Publikum noch wahrgenommen zu ­werden. Das wissen natürlich auch die Rechte­inhaber und können die Preise in die Höhe ­treiben. Können Sie sich noch an die Zeiten des deutschen Tennis-Booms erinnern?

Ja, ich bin schon so alt.
Gut, dann wissen Sie ja sicher noch, wie sich RTL Anfang der 90er-Jahre die Wim­bledonrechte gekauft hat, die vorher fest in der Hand von ARD und ZDF lagen. Das löste eine riesige Debatte aus. Damals konnten, wenn überhaupt, vier Sender in Deutschland Wimbledon übertragen. Dann entstanden die Sport-Spartensender, danach kamen die Pay TV-Kanäle mit ihren großen Sportpaketen. Und schließlich drängten die reinen Sport-Streaming-Anbieter auf den Markt. Das hat zwei Entwicklungen in Gang gesetzt: Die Segmentierung des Publikums und die Fragmentierung der Anbieter.

Die Streaming-Anbieter ­stehen vor folgender Krux: Sie müssen gute Inhalte einkaufen, gleichzeitig wird aber das potenzielle Publikum kleiner.

Aber das hat doch zur Folge, dass die Fans immer mehr bezahlen müssen, um möglichst viel Tennis live schauen zu können.
So ist es. Die Streaming-Anbieter ­stehen vor folgender Krux: Sie müssen gute Inhalte einkaufen, gleichzeitig wird aber das potenzielle Publikum kleiner, weil die Konkurrenz auch exklusiven Content bereithält und nicht jeder Fan alle Streams abonnieren möchte oder auch kann. Daraus ergeben sich dann steigende Preise für den Konsumenten. Es ist am Ende die Nachfrage, die entscheidend ist.

Schadet sich eine Sportart wie ­Tennis dadurch langfristig nicht selbst, weil doch nur die allerwenigsten Fans das Geld und die Lust haben, auf so vielen Plattformen ihrem Lieblingssport zu folgen?
Aus Sicht der Fans ist dieser Zustand ärgerlich, natürlich. Aus Sicht der Verbände und der Vermarkter ist dieses Vorgehen aber nachvollziehbar. Es ist ihr Geschäftsmodell, an dem aktuell viele noch gut verdienen.

Jüngst wurde bekannt, das TNT Sports für 65 Millionen US-Dollar pro Jahr die US-Rechte für Roland Garros ab 2025 eingekauft hat. Sind das in etwa auch die Größenordnungen, die die Sender in Europa für Tennis-Übertragungsrechte zahlen?
Dazu gibt es keine validen und einsehbaren Zahlen. Was man aber in dem Zusammenhang nicht vergessen darf: Die Übertragungsrechte sind nur der eine große Posten. Der andere, etwas kleinere Posten sind die Produktions- und Personalkosten. Die Matches müssen übertragen, kommentiert und dann noch von Experten analysiert werden. Das alles verursacht Kosten.

Wie kann es vor diesem Hintergrund sein, dass eine eher unbekannte Plattform wie Sportdeutschland.tv dann plötzlich die Rechte für die US Open in Deutschland bekommt?
Hinter diesem Anbieter stehen vermögende Investoren wie der Wuppertaler Unternehmer Thomas Riedel, der als einer der weltweit führenden Anbieter von Live-Produktionstools im Bereich Medien, Sport und Unterhaltung gilt. Ich denke, dass da vernünftig gewirtschaftet wird und ein Fünf-Jahres-Vertrag mit den US Open seriös abgeschlossen wurde.

Wie sehen Sie aktuell die Stellung von den Platzhirschen wie Sky und Amazon?
Sky ist von Haus aus ein Pay TV-Sender und musste schon immer stark um Abonnenten kämpfen. Die reinen Streaming-Anbieter werden für Sky zu immer größeren Konkurrenten – vor allem im Fußball. Insofern ist es schlau, dass sich Sky nun mit den Übertragungen von der ATP und WTA-Tour neu positioniert. Amazon aber ist eine ganz andere Hausnummer. Das gesamte Unternehmen hat einen Jahresumsatz von mehr als 500 Milliarden Dollar. Wenn Amazon im Bereich der Sportübertragungen ernst machen würde, dann könnten die alles aufkaufen – und wir bräuchten über Plattformen wie Sportdeutschland.tv gar nicht mehr zu reden.

Amazon Prime Wimbledon Streaming

Tolles Team: 2024 wird Wimbledon in Deutschland erstmals über Amazon Prime zu sehen sein. Unter anderem werden Andrea Petkovic und Daniela Hantuchova als Expertinnen die Matches kommentieren (Foto: Amazon Prime).

Amazon wird ab 2024 Wimbledon in Deutschland übertragen. Ist das erst der Anfang einer größeren Tennis-Offensive oder eher ein Testballon?
Hier kann ich nur vermuten, was dahinterstecken könnte, sehe aber durchaus eine Analogie zum Fußball. Amazon setzt erst mal einen Fuß in die Tür, um zu sondieren. So haben sie es auch schon mit der Bundesliga und der Champions League gemacht. Und es ist eine kluge strategische Entscheidung, dass Amazon mit Wimbledon anfängt, um Tennis in Deutschland zu zeigen. Denn Wimbledon ist das Turnier mit der größten Strahlkraft, über das man auch grundsätzlich Sportinteressierte an sich bindet – nicht nur die reinen Tennisfans.

Der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen ist es völlig egal, woher das Bewegtbild-Angebot stammt.

Wie akzeptiert sind eigentlich Sport-Streams? Lange galten sie als Notlösung zum richtigen Fernsehen.
Die technischen Voraussetzungen waren zu Beginn des Streamings noch nicht optimal. Deswegen war der Ruf der Streams zunächst nicht durchweg positiv. Aber das hat sich schnell geändert. Heutzutage können Sie ein Tennismatch live auf dem Handy verfolgen, wenn Sie gerade in der U-Bahn sitzen. Die Akzeptanz der Streams ist hochgradig abhängig vom Alter der Zuschauer. Aktuelle Umfragen zeigen uns Kommunikationswissenschaftlern, dass die Gruppe der 14- bis 29-Jährigen mit ­Streaming überhaupt keine Probleme hat – und zwar jenseits des Sports. Denen ist es völlig egal, woher das Bewegtbild-Angebot stammt. Je älter die Zuschauer werden, desto geringer ist jedoch die Akzeptanz. Bei den 60- bis 69-Jährigen werden nur 74 Prozent vom Internet erreicht, bei den über 70-Jährigen sind es sogar nur noch 46 Prozent. Das heißt: Bei den Senioren ist Streaming nicht wirklich ein Thema. Die Alterskomponente ist aber wichtig. Denn: Je älter die Menschen sind, desto wichtiger ist es ihnen, dass sie für ihren Lieblingssport einfach nur einen bestimmten Knopf auf der Fernbedingung drücken müssen. Wenn der Sport dort aber nicht mehr läuft, hat man sie in der Regel als Zuschauer verloren.

Was spielt bei der Streaming-Akzeptanz darüber hinaus eine Rolle?
Bei der streamingaffinen Zielgruppe gibt es so etwas wie „Sendertreue“ nicht mehr. Denen geht es um das Sport-Event. Wo es läuft, ist egal. Auch dieser ­romantisierende Lagerfeuereffekt des TV-Geräts im Wohnzimmer löst sich zusehends in der ­Streaming-Realität auf. Jeder guckt das, was ihn interessiert. All diese Vorlieben und Neigungen befeuern natürlich die zu Beginn beschriebene Fragmentierung des Streaming-Marktes.

Ist es für Sponsoren mittlerweile auch egal, wo das von ihnen beworbene Event zu sehen ist?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Die Gruppe der Sponsoren ist heterogen. Nicht alle wollen die gleiche Zielgruppe ansprechen. Da gibt es branchenspezifisch große Unterschiede. Allerdings wünscht sich etwa ein Hauptsponsor von Tennisturnieren, der sich eine globale Präsenz erkauft hat, dass diese Events nach Möglichkeit gebündelt auf einer Plattform laufen – so ähnlich also wie es sich auch die Tennisfans wünschen. Um das zu erreichen, müssten die Sponsoren den Vermarktern eigentlich Geld dafür zahlen, dass die Tour auf einer Abspielstation läuft. Aber so weit gehen die Sponsoren nicht, noch nicht.

In der deutschen Tennis-Bubble ist oft der Satz zu hören: „Wenn Tennis vollumfänglich bei ARD und ZDF laufen würde, dann gäbe es wieder einen deutschen Tennis-Boom.“ Stimmt das?
Nein. Das sind die Vorstellungen von ­Nostalgikern und Romantikern, die längst überholt sind. Bösartig formuliert, könnte man sagen, dass diese Menschen in den 90ern hängengeblieben sind. Ich kann das verstehen: Damals war der TV-Markt übersichtlich und geordnet. Ein heutiger ­Tennis-Boom ist aber nicht von der übertragenden Plattform abhängig, sondern von einem ganz anderen Faktor.

Von welchem denn?
Vom Erfolg deutscher Profis.

Aber ist das nicht eine althergebrachte Vorstellung? Sport ist doch längst ein ­globales Ereignis. Social Media bringt jeden Sporthelden der Welt aufs eigene Handy.
Das stimmt, aber es ist heute dennoch unverzichtbar, dass es nationale Heldengeschichten gibt, um eine Sportart stärker in den Fokus zu rücken. Erst mit nationalen Identifikationsfiguren springt der Funken ­richtig über. Wobei: Einen Boom wie ihn damals Boris Becker und Steffi Graf ausgelöst haben, ist in der Form nicht mehr möglich.

Früher hatte man keine andere Wahl: Wenn Tennis lief, schaute man das als grundsätzlich Sport­interessierter.

Warum nicht?
Den Grund haben wir eingangs schon besprochen: Es schauen nicht mehr alle dasselbe Programm. Früher hatte man keine andere Wahl: Wenn Tennis lief, schaute man das als grundsätzlich Sport­interessierter.

Andrea Petkovic meinte einmal, dass man heute keine nationalen Sport­helden braucht, um eine Sportart in Deutschland groß zu machen.
Da widerspreche ich vehement. Viele, die das behaupten, haben vermutlich die NFL im Kopf, also die American Football-League aus den USA. Aber das ist eine reine Event-Sportart. Der Super Bowl wird auch von Millionen Deutschen geguckt, obwohl deutsche Sportler dort keine Rolle spielen. Aber so etwas ist nicht auf andere Sport­arten übertragbar.

Wie blicken Sie als Wissenschaftler auf die Sportart Tennis? Ist die Zählweise noch zeitgemäß, erreicht man damit noch die jungen Zuschauer?
Wissenschaftlich gesehen geht es stets um die Medialisierung von Sportarten. Das bedeutet: Sportarten müssen sich immer mehr der Logik der Medien anpassen, um überhaupt noch einen publizistisch-­medialen Resonanzboden zu bekommen. Auf Tennis übertragen, heißt das: Wenn bei den Grand Slam-Turnieren ein Herren-Match über drei Gewinnsätze vier oder fünf Stunden dauert, dann wird das immer schwerer zu vermitteln, weil wir mittlerweile in viel kürzeren Einheiten denken und leben. Alles, was wir erleben und tun, wird schneller und dynamischer.

Aber die echten Tennisfans feiern solche fünfstündigen Dramen wie jüngst in Paris immer groß ab!
Das mag sein. Außerhalb dieser Bubble erreichen sie aber immer weniger Menschen damit. Ich selbst kann mich erinnern, dass ich als junger Mann mal eine Davis Cup-Partie von Deutschland gegen die Tschechoslowakei irgendwann in den 80er-Jahren gebannt vor dem Fernseher verfolgte. Das ging damals acht oder neun Stunden lang.

Ja, der Klassiker! Michael Westphal gegen Tomas Smid, 1985 in der Frankfurter Festhalle, der Teppich löste sich vom Boden …
… exakt, das Match meine ich. Wer macht so etwas heute noch? Junge Zuschauer auf jeden Fall nicht mehr. Ich denke, dass diese Zeiten unwiderruflich vorbei sind.

In Zukunft wird man nicht darum herumkommen, ewig lange Fünf-Satz-Matches bei den Grand Slam-Turnieren abzuschaffen.

Was folgt daraus?
Es ist ein schwieriger Balanceakt, den eine traditionelle Sportart wie Tennis zu bewältigen hat. Langfristig muss sich etwas ändern am Modus, an der Zählweise, aber gleichzeitig darf Tennis seine ­Authentizität und seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Ich denke, dass man in Zukunft nicht darum herumkommt, ewig lange Fünf-Satz-Matches bei den Grand Slam-Turnieren abzuschaffen und auf zwei Gewinnsätze runterzugehen. Eine Verkürzung der Spielzeit haben andere Sportarten auch schon durchgeführt.

In der Tennisszene würde es einen riesigen Aufschrei geben.
Natürlich, das ist ganz normal. Aber mit der Zeit würden sich auch die Hardcore-Fans damit arrangieren. Nur zur Erinnerung: Als der Tiebreak auf Druck des US-Fernsehens in den 70er-Jahren eingeführt wurde, gefiel das den Tennisenthusiasten auch nicht. Heute wären Sätze ohne ­Tiebreak doch unvorstellbar.

Wie sieht die Zukunft des Tennis-Streamings aus? Gibt es eine Chance auf eine mediale Plattform, die alles abbilden wird?
Wenn überhaupt, dann könnte das nur Amazon bewältigen – und zwar für den gesamten Sport, sowohl international als auch national. Amazon hat die Finanz­mittel und die Power, um so eine Plattform aufzubauen.

Amazon Prime Wimbledon StreamingExperte Prof. Dr. Michael Schaffrath
Kommunikationswissenschaftler an der Technischen
Universität München mit dem Schwerpunkt Sportpublizistik.
In seiner Forschungsarbeit beschäftigt er sich mit den Themen
Sportjournalismus, Sport-PR, Sport im Radio, Sportkommentierung
im Fernsehen sowie Journalismus und Doping. Vor seiner wissen-
schaft­lichen Karriere war Schaffrath auch selbst sportjournalistisch tätig.