Florian Mayer und sein Gespür für Gras
Vor zwölf Jahren tauften sie ihn „Flo, den Grashüpfer“. Erst die englische Boulevardpresse, dann die BILD und später irgendwie alle. 2004 erreichte Florian Mayer wie aus dem Nichts das Viertelfinale in Wimbledon und verzückte die Szene vor allem mit seiner eingesprungenen, beidhändigen Rückhand – bis heute sein Markenzeichen. Hinzu kam eine spielerische Leichtigkeit, die ihn über den heiligen Rasen von Wimbledon fast schweben ließ. „Mayer verfügt zwar nicht über die mitleidlose Effektivität wie Becker und Graf“, dichtete damals die altehrwürdige London Times, „aber wenigstens spielt er nicht, als wäre er in Weltschmerz mariniert.“ Der Deutsche, das wurde vor zwölf Jahren deutlich, hatte ein Gespür für das Spiel auf Gras.
Die Story des Frühsommers
2016, die Rasensaison ist voll im Gange und die Story des Frühsommers liefert er: Flo, der Grashüpfer. Es ist eine dieser Geschichten, die mit den typischen Attributen wie „unerwartet“, „sensationell“ oder „völlig überraschend“ nur unzureichend beschrieben ist. Florian Mayer hat am Sonntag als 192. der Weltrangliste das Rasenturnier in Halle gewonnen. Es ist der unwahrscheinlichste Turniersieg der letzten Jahre auf der ganzen Tour.
Große Emotionen nach dem Sieg in #Halle: Florian #Mayer kann die Tränen nicht mehr halten. https://t.co/NMgiDACpWM https://t.co/FMz6MStlSE
— Eurosport.de (@Eurosport_DE) June 19, 2016
OK, auf Rasen ist die Wahrscheinlichkeit für unerwartete Turniersieger grundsätzlich am höchsten, es ist der letzte Rückzugsort für echte Spezialisten im Welttennis. Zwei Beispiele: 2013 gewann Nicolas Mahut als 240. der Weltrangliste in s’Hertogenbosch. 2015 siegte Rajeev Ram mit Ranglistenposition 161 in Newport. Doch diese Triumphe lassen sich – mit Verlaub – nicht mit der Leistung Mayers vergleichen.
Halle ist zusammen mit Queens das am besten besetzte Rasenturnier des Jahres – nach Wimbledon natürlich. 2016 waren in Westfalen vier Top Ten-Spieler am Start. Ja, Mayer hatte Glück, als sein Zweitrunden-Gegner Kei Nishikori nicht antrat. Aber was heißt schon Glück im Fall von Florian Mayer. Wer seine Karriere über Jahre verfolgt hat, kommt schnell zu dem Schluss, dass es kaum einen anderen Profi gibt, der dieses Quäntchen Glück auch mal verdient hat.
Sein Sportlerleben der letzten Jahre war ein stetiges Auf und Ab, ein ständiges Hoffen und Bangen zwischen Verletzungen und Sinnkrisen, die ihn vor acht Jahren sogar zur selbst gewählten Schaffenspause über achte Monate zwang. „Ich konnte Tennis nicht mehr sehen“, sagte Mayer damals. Er war ausgebrannt, leer. Als er zurückkam, gewann er seinen ersten ATP-Titel (2011 in Bukarest) und knackte die Top 20 (Rang 18, Juni 2011). Und 2012 sprang er zum zweiten Mal ins Viertelfinale von Wimbledon. Nachdem er in Runde drei ungeahnte Kämpferqualitäten bewies und gegen Jerzy Janowicz zwei Matchbälle abwehrte, zauberte er im Achtelfinale gegen Richard Gasquet eine seiner besten Karriereleistungen auf den Rasen von Wimbledon. Sein Gespür für Gras – er hatte es immer noch.
Nach der Verletzung nach Patagonien
Er konnte es zuletzt nur zu selten anwenden. Zwei lange Verletzungspausen musste Mayer überstehen. Anfang 2014 legte ihn eine Schambeinblessur für über ein Jahr lahm, ab August 2015 behinderte ihn ein Adduktoreneinriss für fast acht Monate. Mayer nutzte die Zeit auf seine Weise. Er, der Outdoor- und Wanderfreak, unternahm mit Lebensgefährtin Carmen Klaschka, die früher selbst Profitennis spielte, eine Trekkingreise nach Patagonien. Und er ließ sich zum Personal-Fitnesstrainer ausbilden. Erst beim Mercedes Cup in Stuttgart konnte er sein Händchen für die Halme wieder zeigen. Mayer glänzte schon dort mit erstklassigem Rasentennis, gewann (inklusive bestandener Qualifikation) vier Matches, ehe er gegen Roger Federer 6:7, 6:7 verlor. Dann kam Halle.