Mail aus Melbourne: Der Federer-Schock
Elfmal in Folge stand Roger Federer mindestens im Halbfinale der Australian Open, zwischen 2004 und 2014. Insofern war das, was am Freitag kurz vor 18 Uhr Ortszeit in Melbourne passierte, ziemlich ungewöhnlich.
Beginnen wir mit dem Sieger, denn er hat es verdient, dass ihm nach seinem grandiosen Viersatz-Sieg die Bühne gehört: Andreas Seppi, Nummer 46 der Welt, Südtiroler, bescheiden, einer aus der zweiten Reihe, der stets gut mitspielt, aber mehr auch nicht. Als er nach „dem größten Erfolg meiner Karriere“ im großen Pressesaal saß, bestätigte sich all das, was man mit ihm verbindet. Ein Typ von nebenan eben. Dreitage-Bart, freundliches Gesicht, Freundschaftsbändchen um das Handgelenk. So einen könnte man auf der Autobahnraststätte treffen und nach dem Weg über den Brenner fragen.
Jetzt fragt man Seppi, ob er überrascht sei. „Yes of course“, antwortete er. Schließlich schlug er Federer zum ersten Mal in seiner Karriere, nach zehn Pleiten in Folge. Einen einzigen Satz konnte er gegen den Schweizer gewinnen. Sein Erfolgsrezept: ruhig bleiben, die Bühne genießen, sich nicht unter Druck setzen. Als er mit 2:0-Sätzen führte, habe er gedacht, dass es ganz gut laufe, dass er Federer schlagen könne. Der Respekt aber, ist auch nach dem Sieg groß: „Er kann noch einen Grand Slam gewinnen. Er spielt noch, weil er daran glaubt. Ich glaube das auch. Er ist ein großartiger Spieler. Es gab im letzten Jahr nicht viele Leute, die gedacht hätten, dass er fast noch einmal die Nummer eins werden würde“, sagte Seppi.
Kein Rhythmus beim Einschlagen
Die Nummer eins. Die Position ist immer ein Thema, wenn man der Zweitbeste ist. Insofern schien ein Finalist Roger Federer in Melbourne nicht unwahrscheinlich. Zumal seine Bilanz beeindruckend ist: elfmal in Folge erreichte er mindestens das Halbfinale. Bei keinem anderen Grand Slam-Turnier agierte der Schweizer so konstant. Die Vorbereitung schien okay, auch wenn er eine lange Saison hatte mit ATP-Finale, Davis Cup-Sieg, einem Trip zur Showliga IPTL nach Indien. Zu Saisonbeginn siegte Federer in Brisbane. „Ich habe mich gut gefühlt im Training“, sagte Federer.
Aber heute sei alles sonderbar gewesen. Er habe die „falschen Punkte da draußen gewonnen“. Er habe schon beim Einschlagen keinen Rhythmus gespürt. Die Rallys seien so gelaufen, wie es ihm nicht gefiel. „Irgendwie konnte ich mein bestes Tennis nicht spielen“, schlussfolgerte Federer. Wobei: Es war kein schlechtes Match: Nach 0:2-Sätzen schien der Schweizer zurückzukommen. Das Spiel wurde druckvoller. Nur: Er konnte seine Chancen nicht nutzen. Nur drei von zehn Breakchancen verwandelte Federer. Seppis Ausbeute war wesentlich besser – drei von fünf. Und der Südtiroler produzierte auch weniger Fehler – 40, im Vergleich zu Federers 55.