Wimbledon – Second Round Andy Murray (GBR) during a special ceremony on center court match at the 2024 Wimbledon Champio

Ein letztes On-Court-Interview in Wimbledon: Andy Murray mit Sue Baker. Bild: Imago/Corinne Dubreuil

Mail aus Wimbledon – Lebe wohl, Andy!

Ein Abschied lag lange in der Luft. Jetzt ist klar: Andy Murray hat seine Karriere beendet. Am Donnerstagabend nach seinem letzten Doppel mit Bruder Jamie hatte Wimbledon auf dem Centre Court eine tolle Abschiedsparty organisiert. Gedanken an eine außergewöhnliche Karriere.

Das erste Mal kam ich mit Andy Murray 2006 in Hamburg in Berührung. Ein Interview organisiert von der ATP. Ich weiß noch, dass er, damals die Nummer 46 der Welt, sehr höflich und ruhig war. In der ersten Runde hatte er Gael Monfils geschlagen. Nach unserem Gespräch unterlag er James Blake. Dass er gut werden würde – daran bestand kein Zweifel. Sein damaliger Manager Patricio Apey raunte mir zu: „Andy könnte das Gesicht von Olympia in London werden.“ Keine schlechte Prognose des ungeliebten Ex-Managers von Alexander Zverev. Bekanntlich gewann Murray 2012 in Wimbledon die Goldmedaille gegen Roger Federer.

Als am Donnerstagabend in Wimbledon bei der Abschiedszeremonie von Murray – Minuten vorher hatte er an der Seite seines Bruders sein letztes Doppel in der ersten Runde verloren – die Bilder seiner Karriere auf der Riesenleinwand über dem Centre Court liefen, begann auch mein persönliches Kopfkino.

2016 hatte ich einen Interviewtermin mit Murray in Wien bekommen. Er war damals der alles überragende Spieler mit insgesamt neun Titeln über die komplette Saison. Hatte in Wimbledon gegen Milos Raonic im Finale klar gewonnen. Hatte bei den Olympischen Spielen in Rio im Endspiel gegen Juan Martin del Potro gesiegt. Am Jahresende war er die Nummer eins, hatte die ATP-Finals gegen Novak Djokovic gewonnen. Und ich verpasste den Flieger nach Wien. Darüber ärgere ich mich heute noch.

Der unermüdliche Kämpfer

Das Interview fand nicht statt, aber ich tauchte umso tiefer in die Recherche für unsere Titelgeschichte ein. Und schon damals ergab sich ein Bild, das bis zu seinem – ungewollten – Karriereende gilt: Es gibt kaum einen Spieler in der Historie des Tennis, der besessener war. Ein komplett Verrückter im positiven Sinne. Wobei: Die Frage ist, ob er unverantwortlichen Raubbau an seinem Körper betrieben hat. Vor ein paar Tagen sprach ich mit einem englischen Kollegen, der die Karriere von Murray über Jahrzehnte begleitete. Er sagte: „Ja, Murray hat sich auch beraten lassen, aber er wollte eigentlich hören, was er selber dachte. Und das war: Mach weiter, Andy.“

Es gibt einen schönen Satz über den 37-jährigen Schotten, der aus dem Buch „Murrayball“ stammt. Autor Hugh MacDonald wollte das Phänomen Murray erforschen. Er zitierte ein Teammitglied: „Wenn bewiesen wäre, dass Andy sein Spiel um 0,000005 Prozent verbessern würde, wenn er jeden Abend um neun ins Bett gehen würde, würde er um fünf vor neun ‘Good Night’ sagen.“

Murrays damaliger Fitnesscoach Jez Green erzählte vor ein paar Tagen unserem tennis MAGAZIN-Kolumnisten Alexander Waske: „In acht Jahren gab es keinen einzigen Tag, an dem Andy nicht besser werden wollte.“ Federer, Nadal und Djokovic seien aus dem gleichen Holz geschnitzt.

Nach seinem ersten Match in Wimbledon wurde Alexander Zverev über Murray befragt. Zverev sagte sinngemäß, dass es im Grunde zwei Murrays gäbe. Den vor der Hüftverletzung und den danach. Die Leistung, die er danach vollbrachte, sei noch höher einzustufen. Man kann das so sehen, weil die Karriere eigentlich schon gelaufen war. 2019 ließ sich Murray an der Hüfte operieren. Der Doppel-Champion Bob Bryan, der die gleiche Verletzung hatte, hatte Murray den Tipp gegeben, an welchen Arzt er sich wenden müsse. So oder so: Murray spielte anschließend mit künstlicher Hüfte weiter. Auf teilweise erstaunlichem Niveau, was angesichts der Schwere der Verletzung kaum zu fassen ist.

Geist vs. Körper – Ein Konflikt bis zum Ende

Die ein paar Jahre alte Amazon Prime-Doku „Resurfacing“, ein absolutes Muss für jeden Tennisfan, gibt Einblicke in die Leidenszeit von Murray. Eine Szene daraus hat sich bei mir ins Gedächtnis eingebrannt. Murray irgendwo alleine im Hotelzimmer in den USA. Mitten in der Nacht. Murray spricht in sein Handy. Weint. Weiß nicht, wie es weitergeht. Aber er kann nicht aufhören. Nicht loslassen von der Droge Tennis.

Murray hat in seiner Karriere knapp 65 Millionen Dollar Preisgeld gewonnen, ein Vielfaches an Werbung. Aber darum geht es nicht bei den Großen wie ihm, Djokovic, Nadal, Federer. Der Antrieb ist nie das Geld. Es kommt von alleine. Der Antrieb ist ein Wille, den sich ein Normalsterblicher nicht vorstellen kann. Als ich Murray vor drei Wochen in Stuttgart gegen Marcos Giron sah, bewegte er sich grauenhaft. Er tat mir leid, wie Joe Biden im Fernsehduell mit Donald Trump. Bei Murray war es ein Körper der nicht mehr kann.

Emotionale Momente auf dem Centre Court

Noch einmal zurück zum Donnerstagabend auf den Centre Court: Wo 14.000 Menschen standen. Mit Tränen in den Augen oder einem Lächeln im Gesicht. Die Briten können Inszenierungen. Reporter-Ikone Sue Barker – auch längst im Ruhestand – führte ein eindrucksvolles Interview mit Murray. An den Banden standen Größen wie John McEnroe, Martina Navratilova, Conchita Martinez und Tim Henman. Murray ließ seine Karriere Revue passieren, antwortete oft mit gebrochener Stimme. Als Barker ihn fragte, ob er nächstes Jahr die Matches aus der Royal Box verfolgen würde, antwortete er, der Junge aus Schottland, der sich die Anerkennung und die Liebe der Engländer erst über Jahre verdienen musste: „Nein, ich sitze dann lieber oben bei den Coaches.“ Das Rampenlicht wird er nie lieben.

Spricht man mit Menschen, die ihn gut kennen, entsteht das Bild eines empathischen, guten Menschen, der sich um alle kümmert, der aber nie richtig aus seiner Haut konnte. Er, der die Nummer eins war, der zweimal Wimbledon gewonnen hatte, der 2012 bei den US Open erster britischer Grand Slam-Champion seit Fred Perry in den 1930-Jahren war, der das Kunststück schaffte, zweimal bei Olympia Gold zu holen, will eigentlich nicht aufhören. Aber er muss. Den Kampf gegen seinen Körper hat er verloren. Seine Zukunft mit Ehefrau Kim und den vier Kindern Sophia, Edie, Teddie und Lola dürfte trotzdem rosig sein.

PS. Eigentlich war Murray auch für das Mixed in Wimbledon gemeldet. Aufgrund einer Handgelenksverletzung seiner Partnerin Emma Raducanu zog das Duo allerdings zurück. Ersetzt wurden die beiden durch Rajeev Ram und Katie Volynets. Bevor der Mann aus Glasgow sich endgültig in den Tennis-Ruhestand verabschiedet, wird er Ende Juli, Anfang August für das britische Team ein letztes Mal bei den olympischen Spielen in Paris aufschlagen. Sowohl im Einzel als auch im Doppel ist er (gemeinsam mit Daniel Evans) gemeldet. Auch im Mixed ist ein Start möglich.