Mischa Zverev: Lange lebe Serve-And-Volley!
Nach seinem Sensationssieg gegen Andy Murray staunt die Tenniswelt über Mischa Zverev – oder genauer: über dessen Spielstil. Mit kompromisslosem Angriffstennis bezwang er die Nummer 1 der Welt – ein Plädoyer für eine totgeglaubte Strategie.
Vor dreieinhalb Jahren verlor auch ich den Glauben ans Serve-And-Volley-Spiel, an jene Hop-oder-Top-Taktitk, mit der ich in den 80er Jahren groß geworden war. Damals dominierten die kraftvollen Aufschläger, die nach dem Service nach vorne stürmten. Furchtlos, kompromisslos und oft geschmeidig wie Katzen rannten sie ans Netz, warfen sich in die Returns und Passierschläge ihrer Gegner, zeigten blitzschnelle Reaktionen und Volleys wie aus einer anderen Welt. Pat Cash, Stefan Edberg, Pat Rafter – sie waren meine Helden, denen ich nacheiferte. Meistens ziemlich erfolglos … Egal, Serve-And-Volley war mein Spiel.
Aber bald nicht mehr das von vielen anderen. Die puren Angreifer starben langsam aus. Im Profitennis spielten sie schon bald keine Rolle mehr. Sonderlinge wie Michael Llodra, ein wunderbar elegant spielender Angriffsspezialist, wurde fast schon unter Artenschutz gestellt. Er galt als letzter seiner Art. Experten riefen das endgültige Ende des Serve-And-Volley aus: Die Beläge (zu langsam), das Material der Spieler (immer besser), die Profis selbst (immer athletischer) und deren Returnqualitäten (zu gut) wurden gebetsmühlenartig als durchaus schlüssige Gründe angeführt. Ehemalige Angriffsspezialisten hielten zwar argumentativ wacker dagegen, aber auch sie räumten ein, dass es für einen reinen Serve-And-Volley-Spieler kaum noch Überlebenschancen im modernen Tennis geben würde.
In diesen für Spezialisten der Attacke düsteren Zeiten traf ich Mischa Zverev. Im Herbst 2006 hatte er als Qualifikant in Bangkok das erste Viertelfinale auf der ATP-Tour erreicht und ich besuchte ihn kurz danach während einer Trainingseinheit in der Halle eines Hamburger Clubs. Ich sprach ihn auf seine extrem offensive Spielweise an. Ob er an ihr festhalten würde, ob sie noch zeitgemäß sei. „So ist mein Spiel. Ich werde das durchziehen“, sagte er gelassen.
0:6, 0:6 gegen Federer auf Rasen
Ich verfolgte ihn über all die Jahre. Hoffte, dass er sich mit dieser mittlerweile unkonventionellen Spielart würde durchsetzen können. Allein schon, um etwas Abwechslung in das eintönige Grundliniengebolze vieler ATP-Profis zu bringen. Und dann kam das Match, das mir den letzten Glauben an eine Renaissance des Serve-And-Volley und an den endgültigen Durchbruch des Hamburgers raubte: 2013 trat Mischa Zverev in Halle auf Rasen gegen Roger Federer an – und wurde komplett auseinander genommen. Er bekam die Höchststrafe verpasst, verlor 0:6, 0:6 in 40 Minuten. Es war eine Demütigung. Man konnte es kaum mitansehen.
Dreieinhalb Jahre später schlägt dieser Mischa Zverev den Weltranglisten-Ersten Andy Murray in Melbourne. Natürlich mit reinem Angriffstennis. 119-mal tauchte Zverev vorne am Netz auf und machte zu 59 Prozent den Punkt. Er verlagerte das Matchgeschehen in seine Komfortzone – ans Netz. Wohl wissend, dass er von der Grundlinie chancenlos gegen Murray gewesen wäre. Und wie gewinnt man gegen Grundliniespieler? Richtig, man greift an, man attackiert, man sucht den Abschluss am Netz. Zuletzt hatte diese alte Tennisweisheit ihre Gültigkeit verloren. Zverev demonstrierte nun, dass sie noch nicht komplett überholt ist.
Zverev spielte wie im Rausch
Sicher, Zverev erwischte einen Sahnetag, es war das mit weiten Abstand beste Match seiner Karriere. Er spielte wie ihm Rausch. Irgendwann muss er in jenen Bewusstseinszustand gerutscht sein, der ihn nicht mehr über sein eigenes Spiel großartig hat nachdenken lassen. Er schaltete auf Autopilot und rief das ab, was er am besten kann: volle Attacke, ohne Kompromisse.