Nick Kyrgios: Große Klappe, wenig dahinter
An Nick Kyrgios scheiden sich die Geister auf der Tennis-Tour. Ein Kommentar über die verbalen Attacken des Australiers gegenüber Jannik Sinner.
Nick Kyrgios steht bei den Australian Open endlich wieder dort, wo er sich am liebsten sieht: im Rampenlicht. Nach mehr als zweieinhalb Jahren spielt der „Bad Boy“ der ATP-Tour sein erstes Grand-Slam-Turnier. Haben wir auf das Comeback von Kyrgios hingefiebert? Für mich ein klares Nein! Zu Beginn seiner Karriere habe ich mir gerne Matches von Kyrgios angeschaut. Der Unterhaltungsfaktor war stets groß. Er hat den früher verpönten Aufschlag von unten wieder salonfähig gemacht. Er war ein spielerischer Farbtupfer im manchmal grauen Tour-Alltag. Doch nach inzwischen mehr als zehn Jahren in der Profikarriere des Australiers muss man festhalten. Die Tennistour kann gut auf Kyrgios verzichten. Es gibt deutlich unterhaltsamere Tennisspieler und spannendere Persönlichkeiten als ihn.
Lange habe ich ihn verteidigt und gesagt, dass er dem Tennissport guttut. Doch mittlerweile geht er mir mit seiner Art nur noch auf die Nerven: unreif, unreflektiert, unsportlich. 30 Jahre wird Kyrgios bald alt. Man müsste meinen, dass mittlerweile ein gewisser Lerneffekt und eine Persönlichkeitsentwicklung stattgefunden hat. Doch weit gefehlt. Es sind immer die anderen schuld. Er selbst ist über jeden Zweifel erhaben, so lässt er es jedenfalls immer durchblicken bei seinem Schimpftiraden gegen Schieds- und Linienrichter, Medien, Zuschauer, gegen die eigene Box und immer wieder gegen Spielerkollegen und ehemalige Legenden des Spiels.
Nick Kyrgios: ständige Spitzen gegen Jannik Sinner
Was besonders schlimm ist: Er hält sich nicht an das, was er bei anderen einfordert. Er echauffiert sich über Ausraster seiner Gegner und fordert die Disqualifikation. Seine eigenen Ausraster sind hingegen nur halb so schlimm. Immer wieder äußerte er sich abfällig über Spielerkollegen wie Novak Djokovic, Dominic Thiem, Casper Ruud oder Pablo Carreno Busta. Sportsgeist sieht anders aus. Wagt man es hingegen, ihn zu kritisieren, reagiert er aggressiv. Ironischerweise ist Djokovic, sein einstiges Feindbild Nummer eins, inzwischen einer seiner besten Tenniskumpels. Und auch mit Casper Ruud hat er sich nach dem früheren Zoff wohl wieder vertragen. Wird es mit Jannik Sinner irgendwann auch so kommen? Es wäre eine Sensation.
Denn wie Kyrgios seit Monaten, vornehmlich über die sozialen Medien, über Sinner herzieht, ist kein Zeugnis einer guten Kinderstube. Kyrgios hat jedes Recht, das Vorgehen im Dopingfall Sinner zu kritisieren. Er legt den Finger in die Wunde in Sachen Doping im Tennis. Doch in Kürze der Zeit ist aus der berechtigten Kritik eine Obsession geworden. Man muss es so eindeutig sagen: Kyrgios ist ein Mobber. Stefanos Tsitsipas, der in der Vergangenheit ebenfalls mit dem Australier zahlreiche Konflikte hatte, sagte einst nach einem Duell in Wimbledon. „Es ist konstantes Mobbing. Das ist, was er macht. Er mobbt seine Gegner. Er wurde wahrscheinlich in der Schule selbst gemobbt“, meinte Tsitsipas.
Nick Kyrgios attackiert 16-jährigen Cruz Hewitt
Vor den Australian Open leistete sich Kyrgios eine erneute Stichelei gegen Sinner und zog dabei unweigerlich den 16-jährigen Cruz Hewitt, den Sohn von Lleyton Hewitt, mit hinein. Cruz Hewitt durfte in Melbourne mit Sinner trainieren und postete ein Bild mit der Nummer eins der Welt in der Rod Laver Arena in den sozialen Medien. Kyrgios reagierte unter anderem mit einem Spritzen-Emoji auf das Posting des Teenagers. Die verbalen Attacken gegen Sinner stoßen in der Tennisszene immer mehr auf.
Cruz Hewitt and Jannik Sinner / Nick Kyrgios
Wow, this Sinner’s chase it’s wild… pic.twitter.com/b0molHF3En
— João Pinto (@imJoaoPinto) January 4, 2025
Nach dem Kommentar gegenüber Hewitt meldete sich Andy Roddick deutlich zu Wort. „Eigentlich hatte ich beschlossen, mich zurückzuhalten, weil es ja so ist, dass er Likes will. Im Moment ist er ein Tennis-Influencer. Er lebt für Likes und er lebt von den Kommentaren. Was mich jedoch stört, ist die Heuchelei, mit der er sich aussucht, wann er über andere urteilt, während er gleichzeitig erwartet, dass man den Kontext seiner Kommentare versteht – zuletzt gegenüber Cruz Hewitt, der mit Jannik Sinner trainiert hat. Stellen Sie sich vor, Sie sind fast 30 Jahre alt und lesen die Kommentare eines 16-Jährigen, der gegen den besten Spieler der Welt gespielt hat. Das ist ein großer Moment für ihn und er hat einfach ein Bild gepostet. Und dann schreibt dieser Typ in die Kommentare und alles dreht sich um ihn selbst. Es ist lächerlich“, sagte Roddick.
Nick Kyrgios: keine Woche in den Top 10
Ähnlich sieht es auch Boris Becker, der sich mit Kyrgios auch das eine oder andere Wortgefecht in der Vergangenheit geliefert hat. „Ich sehe ihn als Social-Media-Star, der ab und zu Tennis spielt. Ich glaube, dass er den Tennissport braucht als seine Bühne. Er ist hier und da ein sehr guter Tennisspieler, wenn er bei der Sache bleiben würde. Er ist tennismäßig weit weg von der Weltspitze, aber er hat über 4,5 Millionen Follower auf seinen Social-Media-Kanälen. Ich glaube, das ist sein Geschäftsmodell. Ich würde mir wünschen, er würde mehr über sich selbst sprechen, sich mehr Gedanken machen über seine Form und wie er sich in der Weltrangliste wieder nach oben arbeiten kann. Er würde dem Tennissport guttun, wenn er erfolgreich Tennis spielen würde und weniger Gedanken über andere Spieler machen würde“, sagte Becker im Podcast Becker/Petkovic.
„Ich habe die Big Four geschlagen, Titel gewonnen, ich inspiriere Millionen von Menschen. Ich bin einfach ich selbst“, sagte Kyrgios im Jahr 2022 im Interview mit tennis MAGAZIN. Der Australier hält sich für einen den Größten. „Ich habe gegen Djokovic, Federer, Nadal und Murray gespielt. Ich habe einen höheren Tennis-IQ als sie alle. Ich weiß nicht, ob es jemand in der Tennishistorie gab, der das Wimbledonfinale ohne einen Trainer erreicht hat“, sagte Kyrgios. Ob er seine Aussagen wirklich selbst glaubt: vermutlich ja. Allerdings: Kyrgios hat es in seiner Karriere trotz Finale in Wimbledon und seinem „unbegrenzten“ Talent geschafft, nicht eine Woche in den Top 10 im ATP-Ranking zu stehen. Das ist irgendwie auch eine Leistung.
Nick Kyrgios wie Pippi Langstrumpf
Für mich ist Kyrgios ein durchschnittlicher Tennisspieler mit einem herausragenden Aufschlag. Warum? Ein herausragender Tennisspieler zeigt sich vor allem auf Sand, wo taktische Finesse gefragt ist. Nicht ohne Grund haben die besten Spieler der Geschichte allesamt große Errungenschaften auf Sand. Für Kyrgios ist Sandplatztennis kein richtiges Tennis. Warum? Weil er es einfach nicht kann. Wie Pippi Langstrumpf macht sich Kyrgios die Welt, wie sie ihm gefällt. Und machen wir uns nichts vor: Die Leute schauen die Matches von Kyrgios größtenteils nicht wegen seiner unberechenbaren Spielweise, die auch mich häufig mitgerissen hat, sondern wegen seiner Ausraster, die es nahezu in jedem seiner Matches gibt.
Das Motto bei Kyrgios in den letzten Jahren ist leider: große Klappe, wenig dahinter. Der renommierte US-Journalist Pete Bodo brachte es auf den Punkt. „Wenn man Tennis nicht verfolgt, könnte man geneigt dazu zu sein, dass die Big Four aus Federer, Nadal, Djokovic und Kyrgios bestehen. Der Narzissmus und die Selbstbezogenheit dieses Mannes sind jenseits von Gut und Böse.“