Novak Djokovic: Nur noch ein Schatten seiner selbst?
Es gibt eine Statistik im ATP-Kosmos, deren Aussagekraft man zwar nicht zu hoch hängen sollte, die es aber doch ermöglicht, Profis aus unterschiedlichen Epochen miteinander zu vergleichen. Nein, es geht nicht einfach nur um die Anzahl der Turniersiege während der kompletten Karriere oder darum, wie lange sich jemand auf Platz eins der Weltrangliste gehalten hat.
Der „Career-Index“ der ATP-Tour berechnet den Prozentsatz der gewonnenen Matches der gesamten Profilaufbahn der Spieler. Aktuell führt Novak Djokovic dieses Ranking an. Er hat – prozentual gesehen – das beste Verhältnis aus Siegen und Niederlagen in Bezug auf die Gesamtanzahl seiner absolvierten Partien.
Ja, es sind nur Nuancen, die die Spieler in diesem Ranking voneinander trennen (s. Tabelle unten). Aber es mag auf den ersten Blick etwas überraschend sein, dass Novak Djokovic dort ganz oben steht. Denn seit dem Sommer 2016 gewann er nur zwei Turniere (Toronto 2016, Doha 2017). Das erste Saison-Drittel 2017 war das schlechteste seiner Karriere seit sieben Jahren. In manchen Matches 2017 trat der „Djoker“ wie ein Schatten seiner selbst auf: zaghaft, verunsichert, blockiert.
„Career-Index“ – die Top-Five*
Rang | Spieler | % gew. Matches | Siege / Niederlagen |
1. | Novak Djokovic | 82,8% | 765 – 159 |
2. | Björn Borg | 82,7% | 609 – 127 |
3. | Rafael Nadal | 82,3% | 835 – 179 |
4. | Jimmy Connors | 81,8% | 1256 – 279 |
5. | Roger Federer | 81,7% | 1099 – 246 |
*Stand: Montag, 8. Mai 2017; Quelle: ATP
Vor rund einem Jahr, im Mai 2016, war der Serbe noch unantastbar. Ein Zitat von Goran Ivanisevic aus dem Frühjahr 2016 untermauert die damalige Ausnahmestellung von Djokovic. „Um gegen ihn zu gewinnen, muss man hoffen, dass er zu spät zum Platz kommt“, scherzte Ivanisevic. Tatsächlich gab es zu diesem Zeitpunkt keine dominierende Nummer eins im Herrentennis als Djokovic: Er hatte die letzten drei Grand Slam-Turniere gewonnen (Wimbledon 2015, US Open 2015, Australian Open 2016) und lag in der Weltrangliste uneinholbar weit vorne.
Einen Monat später, im Juni 2016, vervollständigte er bei den French Open seinen „Career Grand Slam“ – als achter Spieler überhaupt. Und: Als erster Spieler seit Rod Laver 1969 schaffte er es, vier Majors in Serie zu gewinnen – wenn auch „nur“ jahresübergreifend. Nach dem Titel von Paris führte Djokovic die Weltrangliste mit der Rekord-Punktzahl von 16.950 Punkten an und hatte knapp 8.000 Zähler mehr als sein „Verfolger“ Andy Murray. Er war der Dominator, der perfekte Tennisspieler, Mister Unschlagbar.
Zittersieg zum Madrid-Auftakt
Man muss sich diesen Rückblick gönnen, um zu realisieren, wo Novak Djokovic jetzt, im Mai 2017, angekommen ist. In der aktuellen Jahreswertung, im „Race to London“, liegt er auf Platz 23. Vor ihm stehen Profis wie Gilles Muller oder Pablo Cuevas. Mittwoch, beim Großturnier in Madrid, zitterte er sich zu einem Auftaktsieg gegen Nicolas Almagro – 6:1, 4:6, 7:5. Djokovic begann souverän, aber ab Mitte des zweiten Satzes wurden seine Bälle immer kürzer. Er traute sich nicht mehr viel zu, lag 0:3 im dritten Satz zurück, rettete sich aber noch irgendwie ins Ziel.
Immerhin gewann Djokovic, der Titelverteidiger von Madrid, am Donnerstag in zwei Sätzen gegen Feliciano Lopez. Im Viertelfinale (Freitag) bekommt er es mit Kei Nishikori zu tun*. Im Halbfinale könnte er auf Dauergegner Rafael Nadal treffen. In seiner derzeitigen Verfassung und angesichts von Nadals wieder erlangter Stärke auf Sand würde Djokovic als klarer Außenseiter in die Partie gehen. „Mir ist klar, dass ich nicht mein bestes Tennis gerade spiele“, gestand Djokovic nach dem Sieg gegen Almagro. „Aber ich glaube fest an mich und an den Weg, den ich nun eingeschlagen habe.“
*EDIT: Nishikori tritt zum Viertelfinale in Madrid nicht an, Djokovic kampflos im Halbfinale!