August 24, 2024: Alex Michelsen discussing situation with umpire, Auro lie Tourte after striking ball into stands hittin

Entging knapp einer Disqualifikation im Finale von Winston-Salem: US-Profi Alex Michselsen im Gespräch mit Schiedsrichterin Aurelie Tourte. Bild: IMAGO/David Beach

Alex Michelsen schießt Fan ab – warum er nicht disqualifiziert wurde

Alex Michelsen ballert im Endspiel von Winston-Salem aus Frust einen Ball auf die Tribüne, trifft eine Zuschauerin und darf weiterspielen – warum?

Was für eine Szene: Im Finale des ATP-Turniers von Winston-Salem legte US-Spieler Alex Michelsen einen krassen Fehlstart hin, geriet schnell mit 0:4 gegen den Italiener Lorenzo Sonego ins Hintertreffen und schoss dann aus Frust einen Ball auf die Tribüne. Der Ball traf eine Zuschauerin, Michelsen erschrak regelrecht und sank zu Boden. In dem Moment dürfte er das befürchtet haben, was wohl die Mehrzahl der Fans im Stadion und vor den Streams in aller Welt erwartet haben: eine Disqualifikation.

Alex Michelsen kommt mit Verwarnung davon

Doch es kam es anders. Stuhlschiedsrichterin Aurelie Tourte fragte die getroffene Frau, ob alles in Ordnung sei und diese bestätigte das. Die Französin brach das Match danach nicht ab, sondern verwarnte Michelsen nur. Das 20-jährige US-Talent ging danach zu der Dame und entschuldigte sich für den unbeabsichtigten Vorfall. Von dem Schreck erholte er sich aber nicht wirklich. Das Match verlor Michelsen am Ende deutlich mit 0:6, 3:6.

Spätestens nach der Partie kochten vor allem in den sozialen Netzwerken die Emotionen hoch. Denn: Aurelie Tourte war es, die 2020 Novak Djokovic bei den US Open disqualifiziert hatte, nachdem dieser beim Ballwegschlagen eine Linienrichterin getroffen hatte. Der Fall sorgte damals weltweit für Schlagzeilen.

Auch 2023 gab es in Roland Garros eine Disqualifikation. Damals lupfte die Japanerin Miyu Kato im Damendoppel einen Ball in Richtung eines Ballmädchens auf der anderen Seite des Netzes, doch das Mädchen reagierte nicht. Stattdessen wurde es am Oberarm von dem Ball getroffen. Der Stuhlschiedsrichter sprach auch hier zunächst eine Verwarnung aus. Die Gegnerinnen Sara Sorribes Tormo und Marie Bouzkova forderten daraufhin den Supervisor an. Dieser disqualifizierte Kato (und deren Partnerin Aldila Sutjadi) schließlich. Später gewann sie an der Seite von Tim Pütz die Mixed-Konkurrenz von Paris.

Warum durften Mirra Andreeva und Terence Atmane weiterspielen?

Kurz zuvor gab es 2023 in Roland Garros noch folgenden Vorfall: Mirra Andreeva hatte im Match gegen Coco Gauff zwei Satzbälle im ersten Durchgang vergeben und schoss einen Ball aus Frust ins Publikum, der eine Zuschauerin traf. Die damals 16-jährige Russin kam aber mit einer Verwarnung davon.

Und noch ein Beispiel aus der laufenden Saison: In der ersten Runde von Roland Garros hatte Terence Atmane im vierten Satz seines Matches gegen Sebastian Ofner aus Frust einen Ball ins Publikum geballert und dort eine Zuschauerin am Arm getroffen. Auch er wurde nicht disqualifiziert. „Bei jedem Challenger würde es für so einen Vorfall eine hohe Strafe geben. Aber hier auf der größten Bühne geht das einfach so durch?“, wunderte sich im Anschluss nicht nur Gegner Ofner.

Was diese Beispiele vor allem zeigen: Es gibt auf der Tour keine wirklich einheitliche Linie, wie man mit diesen Zwischenfällen umgeht. Klar ist: Ob die Profis nun mit oder ohne Absicht jemanden mit ihren „Frustschlägen“ treffen, spielt zunächst keine Rolle. Es geht um zwei andere Aspekte: die Handlung an sich und das Ergebnis – sprich: wurde jemand verletzt oder nicht.

Der Fall Novak Djokovic bei den US Open 2020

So hatte es der deutsche Schiedsrichter Sören Friemel 2020 in New York erklärt, als Novak Djokovic disqualifiziert wurde. Damals begründete Friemel die Entscheidung so: „Djokovic hatte den Ball aus seiner Tasche genommen, ihn rücksichtslos und wütend nach hinten geschlagen und dabei die Linienrichterin an der Kehle getroffen. Sie war offensichtlich verletzt, hatte Schmerzen, ging zu Boden. Dann habe ich mit Novak geredet und ihm dabei die Chance gegeben, seine Sicht darzulegen. Aber auf der Grundlage, dass der Ball wütend und rücksichtslos geschlagen worden war, und zwar direkt auf die Kehle der Linienrichterin, haben wir die Entscheidung getroffen, dass Novak disqualifiziert werden musste.“

Im aktuellen Fall von Alex Michelsen hatte sich Schiedsrichterin Aurelie Tourte sofort nach dem Wohlbefinden der getroffenen Zuschauerin erkundigt. Als diese dann zu verstehen gab, dass alles in Ordnung sei, sah Tourte offensichtlich von einer Disqualifikation ab. Die Frage ist nun, ob diese wegweisende Entscheidung wirklich von der Aussage einer einzelnen Person abhängig gemacht werden sollte. Oder ab man nicht einfach pauschal handelt: Sobald Profis mit rücksichtslos weggeschlagenen Bällen andere Personen treffen, müssen sie disqualifiziert werden – Punkt.

Boris Becker: „Regeln einheitlich gestalten“

Die Empörung in der Tennis-Bubble kondensiert nun exakt an diesem Punkt. „Ich möchte nicht, dass ein Spieler während des Spiels disqualifiziert wird, aber man muss die Regeln für alle einheitlich gestalten“, schrieb etwa Boris Becker auf X. Und Denis Shapovalov textete: „Unterschiedliche Regeln für unterschiedliche Spieler.“ Wobei er genau diesen Satz auch schon Mitte der vergangenen Woche gepostet hatte, als bekannt wurde, dass Jannik Sinner nach zwei positiven Dopingtests freigesprochen worden war. Deswegen ergänzte der Kanadier seinen Post noch mit dem Zusatz: „Ich muss diesen Tweet vielleicht bald oben an mein Profil pinnen.“

Auch der unvermeidliche Nick Kyrgios äußerte sich, natürlich: „Disqualifikation! Meine Güte, hört auf mit diesen Grauzonen (…) Der Sport muss für alle fair bleiben.“ Die große Martina Navratilova pflichtete ihm bei: „Das hätte eine Disqualifikation sein müssen. Daran besteht kein Zweifel.“

Was Kyrgios dabei wohl entfallen war: Er selbst hatte auch schon einen „Fan-Treffer“ gelandet – und wurde danach nicht disqualifiziert! Im Doppel-Wettbewerb der Australian Open 2022 prügelte Kyrgios voller Wucht einen (nicht im Spiel befindlichen) Ball per Smash ins Feld. Der Abpraller flog ins Publikum und traf ein Kind. Kyrgios reagierte schnell, entschuldigte sich und schenkte dem Jungen einen Schläger. Er gewann dann an der Seite von Kumpel Kokkinakis den Doppeltitel.

Im US-Tennis Channel äußerte sich abschließend noch Experte John Wertheim zum Fall Alex Michelsen. Sein Fazit: „Wir müssen an dem Punkt die Grauzonen rausnehmen und uns auf einheitliche Regeln festlegen. Es kann nicht sein, dass bei den gleichen Vergehen unterschiedliche Strafen ausgesprochen werden.“