Aus dem Archiv: Interview mit Andy Murray 2005
Vor elf Jahren traf tennis MAGAZIN Andy Murray zum ersten Mal zum Interview. Wie wir die Nummer eins der Welt damals erlebten, lesen Sie hier.
Ein Schotte für England
In Großbritannien ist er schon ein Star, gilt als Nachfolger von Tim Henman. Über Andy Murray, 19 Jahre alt, wurde bereits eine Biographie geschrieben. Er besitzt hochkarätige Werbeverträge, und sein Manager schwärmt, dass er berühmter als Boris Becker werden könne. Murray selbst tritt eher bescheiden auf. Nur auf eines legt er viel Wert: „Ich bin Schotte.“
Wer mit Andrew Murray spricht, sollte sich in Acht nehmen. Nein, er ist nicht cholerisch. Er beißt auch nicht. Im Gegenteil: Der Lockenkopf mit dem blassen Teint ist sehr freundlich und wohlerzogen. Aber auf eine Sache reagiert er allergisch – dass er für viele als große englische Hoffnung gilt. „Halt“, sagt er dann mit starrem Gesichtsausdruck, „man muss wissen: Ich bin Schotte.“
Und was für einer! Das wird im Gespräch schnell klar. „Ich fühle schottisch. Ich habe nie in England gelebt. Mich Engländer zu nennen, ist so, als wenn man einen Schweizer als Deutschen bezeichnet“, sagt Murray. Klingt einleuchtend. Und doch: Es ist nicht so einfach mit den Nationalitäten im Vereinigten Königreich. Für die englische Presse ist Murray einer von ihnen, der Nachfolger von Tim Henman. „Gentleman Tim“ spielt zwar noch, aber seine Karriere neigt sich dem Ende entgegen. Murrays beginnt gerade. Vor allem der Start im letzten Jahr war so verheißungsvoll, dass es im englischen Blätterwald nur so rauschte. Es war das perfekte Timing. Murrays erster großer Auftritt fand dort statt, wo Helden so schnell geboren werden wie bei keinem anderen Turnier auf dem Globus – in Wimbledon. Zwei Wochen zuvor hatte er noch das Juniorenturnier bei den French Open gespielt.
„Ich wollte nur für mein Land gewinnen“
In London trat Murray, gerade 18 Jahre alt, auf der größten Bühne im Welttennis auf. In der dritten Runde führte er mit 2:0 Sätzen gegen David Nalbandian. Zwar verlor er die Partie, aber die Times schwärmte nach Henmans Abgang und Murrays Aufstieg: „Der König ist tot, es lebe der König.“ Den „Henman Hill“, einen Hügel, auf dem sich jedes Jahr Hunderte von Zuschauern vor einer riesigen Videoleinwand versammeln, hat man auch schon umbenannt – in „Murray Field“. So heißt auch das Rugby-Feld in Glasgow, nicht weit von Murrays Geburtsstadt Dunblane. Damals war er die Nummer 312 der Welt. Inzwischen steht er auf Platz 45. In diesem Jahr wird der Rummel um Murray in Wimbledon noch größer sein.
Wie geht er mit dem gewaltigen Druck um? „Ich versuche, das alles nicht an mich heranzulassen“, sagt Murray. Aber ins Unterbewusstsein schleiche es sich schon ein. „Und wenn du verlierst, schreiben sie schlecht über dich.“ Er hat zur Zeit ein bisschen Stress mit der Presse, mit der englischen wohlgemerkt, nicht mit der schottischen. Die sei viel positiver und stolz auf seine Leistungen. Die englischen Zeitungen liest er mittlerweile gar nicht mehr. Und das kam so: Anfang Februar musste Großbritannien gegen Serbien-Montenegro im Davis Cup antreten. Murray spielte Doppel. Am Ende des Matches beschimpfte er den Stuhlschiedsrichter. Die Folge: Sein Team sollte 100.000 Dollar Strafe zahlen und drei Jahre gesperrt werden. So schrieben es zumindest die englischen Reporter. „Die Wahrheit ist: Es gab keine Sperre und nur 1.600 Dollar Strafe“, sagt Murray. Hat er einen Fehler gemacht? Murray überlegt lange. Dann sagt er: „Nein. Es wurde aufgebauscht. Ich wollte nur für mein Land gewinnen.“