Damentennis: Tour ohne Trend
Erwarte das Unerwartete. Die WTA-Tour sorgt jede Woche für Überraschungen. Doch was sind die Gründe für die vielen Siegerinnen im Damentennis? Ein Erklärungsversuch.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 5/2022
Am Tag, als Ashleigh Barty überraschend ihr Karriereende verkündete, kursierte eine Grafik im Netz, die offenbart, wie unberechenbar es derzeit auf der WTA-Tour zugeht. Die Grafik zeigt die Top 10 im WTA-Ranking nach dem Turnier in Miami im Jahr 2021, dahinter die aktuelle Position in der Weltrangliste oder im Live-Ranking. Aus den Top 10 im April 2021 sind mit Barty und Kiki Bertens zwei Spielerinnen zurückgetreten. Serena Williams hat seit Wimbledon 2021 nicht mehr gespielt. Sofia Kenin, Bianca Andreescu und Elina Svitolina sind entweder in einer großen Formkrise oder dauerverletzt.
Ein Jahr kann im Damentennis viel ausmachen. Neue Namen, neue Siegerinnen. Oder kannten Sie vor einem Jahr Barbora Krejcikova und Emma Raducanu, die bei den French Open und den US Open zum Titel stürmten? Die Zeiten, in denen nur eine Handvoll Spielerinnen für einen Grand Slam-Sieg in Frage kommen, sind längst vorbei. Mittlerweile sind es mindestens 25 Damen, die um die großen Titel auf der WTA-Tour spielen. Was sind die Gründe für die zahlreichen Überraschungen und die Leistungsschwankungen von den Topspielerinnen und Grand Slam-Siegerinnen?
Leistungsdichte bei den Damen enorm gestiegen
„Es gibt viele Gründe hierfür. Das Damentennis hat sich in den letzten fünf Jahren extrem weiterentwickelt. Die Leistungsdichte ist enorm gestiegen, sodass bereits die frühen Runden schwer zu gewinnen sind. Früher war es so, dass die Top 30 im WTA-Ranking gute Spielerinnen waren, danach ist das Niveau abgefallen. Mittlerweile kann die Nummer 100 der Welt eine Top 10-Spielerin an einem guten Tag besiegen“, sagt Dieter Kindlmann im Gespräch mit tennis MAGAZIN. Kindlmann, seit Sommer 2021 Nationaltrainer für die U18 beim Schweizer Tennisverband, war als Trainer jahrelang nah dran am Geschehen auf der WTA-Tour. Zunächst als Hitting Partner von Maria Sharapova, danach als Coach von Angelique Kerber, Anastasia Pavlyuchenkova, Madison Keys, Aryna Sabalenka und anderen.
Auch Michael Geserer, der Julia Görges in die Top 10 sowie Jennifer Brady ins Australian Open-Finale 2021 führte, sieht die gestiegene Leistungsdichte im Damentennis als gewichtigen Faktor dafür, dass auf der WTA-Tour dermaßen viel Bewegung ist. Für Geserer spielt dabei die Professionalisierung eine große Rolle. „Die Trainingsmethoden entwickeln sich stetig weiter, dadurch steigt auch das Niveau. Es liegt aus meiner Sicht an der guten Arbeit eines breiteren Personenkreises im Umfeld der Spielerinnen. Früher war es so, dass nicht allzu viele Spielerinnen Zugang zu qualitativ hochwertigem Training hatten. Diesen Zugang haben die Spielerinnen nun in allen Bereichen, nicht nur im Tennis, sondern auch beim Athletiktraining, in der Physiotherapie und der Verletzungsprävention. Viel mehr Spielerinnen können in allen Bereichen viel besser arbeiten und das Maximum aus der eigenen Leistungsfähigkeit herausholen“, erklärt Geserer gegenüber tennis MAGAZIN.
Mouratoglou: Zu viele Trainerwechsel im Damentennis
Für Patrick Mouratoglou hingegen gibt es eine recht einfache Erklärung für die Unberechenbarkeit im Damentennis. Die Spielerinnen wechseln ihre Trainer viel zu häufig. „Um ein hohes Level zu erreichen und dort auch konstant zu bleiben, braucht es Konstanz Tag für Tag. Die Konstanz kommt mit dem Projekt. Das Projekt entsteht mit einem Trainer, der seiner Spielerin sagt: ‚So sehe ich dein Spiel, das sind die Sachen, an denen wir arbeiten müssen. Das ist das Projekt für dich, damit du dieses Niveau erreichen kannst‘“, erläutert Mouratoglou. Doch was vielen Spielerinnen fehle, sei die Geduld, meint der Franzose. „Man muss an seinen Trainer und an diesen Prozess glauben. Man muss akzeptieren, dass es zwar langsam vorangehen könnte, aber man sich in die richtige Richtung bewegt und dann nicht alles über den Haufen wirft, weil man einen Rückschlag hatte, ein Match verliert oder sauer ist. Man braucht Konstanz. Um von einem Punkt zum nächsten zu gelangen, ist der leichteste Weg eine Linie. Wenn man seinen Trainer ständig wechselt, gleicht das einem Zickzackkurs. Es ist unsicher, ob man überhaupt an dem Punkt ankommt, den man erreichen möchte.“
Was für die These von Mouratoglou spricht: Seit 2012 arbeitet er mit Serena Williams zusammen. Mit Mouratoglou als Coach hatte die US-Amerikanerin die erfolgreichste Zeit ihrer Laufbahn: zehn Grand Slam-Titel, 186 Wochen in Folge die Nummer eins. Den Kalender-Grand-Slam verpasste Williams 2015 nur knapp. Es gibt einige Beispiele, die die These von Mouratoglou untermauern. Justine Henin (mit Carlos Rodriguez), Ashleigh Barty (Craig Tyzzer) und Steffi Graf (Heinz Günthardt) vertrauten jahrelang nur einem Trainer.
Ähnlich wie Mouratoglou sieht es Kindlmann. „Wir Trainer sind keine Zauberer. Alles beruht auf konstanter Arbeit, die komplette Ausrichtung sollte langfristig sein. Es braucht Zeit, damit die Handschrift eines Trainers erkennbar ist. Der Trainermarkt hat sich in den letzten Jahren leider hin zu vielen schnellen Wechseln entwickelt. Wenn deine Spielerin zwei Monate nicht erfolgreich spielt, wirst du als Trainer ausgewechselt. Man sollte wie in Beziehungen durch Höhen und Tiefen gehen und seinem Trainer und dem Umfeld vertrauen.“
Sind die Spielweisen zu gleichmäßig?
Etwas differenzierter betrachtet es Geserer, der die vielen Trainerwechsel auf der WTA-Tour nicht als Hauptgrund für die Unbeständigkeit im Damentennis ausmachen möchte. „Ein Trainerwechsel passiert selten ohne Grund. Er geschieht, wenn die Spielerin das Gefühl hat, nicht mehr weiterzukommen oder sie sich einen neuen Impuls erhofft. Ansonsten gibt es zu einem Trainerwechsel wenig Anlass“, sagt Geserer, betont aber auch: „Ein konstantes Trainingsumfeld ist in der Regel Voraussetzung für eine positive Entwicklung der Spielerin.“
Der Vorwurf in Richtung Damentennis, den man seit Jahren immer wieder hört, ist, dass die meisten Spielerinnen zu gleich spielen. Doch stimmt das überhaupt? „Ashleigh Barty hat sich mit ihrer flexiblen Spielweise abgehoben von allen anderen. Sie kann Slice spielen, sie hat gute Topspin-Schläge, sie ist ans Netz gegangen, sie hat einen Kick-Aufschlag“, erzählt Kindlmann. Für den Ex-Profi Kindlmann (Nummer 130 der Welt) ist die gleichmäßige Spielweise ein großer Faktor dafür, dass die WTA-Tour so unberechenbar geworden ist. „Neben Barty überwiegt bei den anderen Spielerinnen das Power-Tennis. Es ist alles schnell und flach mit wenig taktischen Varianten. Daher kommt es immer wieder vor, dass favorisierte Spielerinnen, die an schlechten Tagen ihr Power-Tennis nicht durchbringen können, verlieren“, sagt der Allgäuer. Spielt tatsächlich der Großteil auf der WTA-Tour ein kompromissloses Damentennis?
Nein, so einfach ist es dann auch wieder nicht. Neben der variablen Spielweise von Barty heben sich auch Spielerinnen wie Barbora Krejcikova, Ons Jabeur und die aktuelle Nummer eins der Welt, Iga Swiatek, mit ihrer Art Tennis zu spielen, vom Rest des Feldes etwas ab. „Es gibt viele unterschiedliche Spielstile. Jede Spielerin versucht dabei, ihre technischen, taktischen oder physischen Fähigkeiten gewinnbringend einzusetzen. Gerade dies macht das Damentennis interessant und attraktiv“, sagt Geserer.
Neue Führungsfigur gesucht
Die große Frage ist: Ist es gut oder schlecht fürs Damentennis, wenn so viele Spielerinnen große Turniere gewinnen? „Mir gefällt es nicht. Diese sehr starke Diskontinuität ist nicht gut fürs Tennis. Es fehlt das Charisma, deshalb ist Damentennis schwieriger zu verkaufen“, sagt Flavia Pennetta, die mit ihrem US Open-Sieg 2015 mit 33 Jahren selbst zu den überraschenden Grand Slam-Siegerinnen zählt. Kindlmann sieht es ähnlich wie Pennetta. „Fürs Tennis wäre es besser, wenn sich Persönlichkeiten entwickeln würden. Wenn durchschnittliche Spielerinnen regelmäßig aus dem Nichts große Turniere gewinnen, ist es einerseits schön für den Moment, auf Dauer braucht das Tennis aber Typen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisieren so wie im Herrentennis mit Djokovic, Federer und Nadal.“
Nach dem überraschenden Rücktritt von Ashleigh Barty und dem bevorstehenden Karriereende von Serena Williams braucht die WTA-Tour eine neue Führungsfigur – nicht nur spielerisch, sondern auch medial. „Iga Swiatek hat das Potential dazu. Sie ist mit 20 Jahren noch sehr jung und bereits die Nummer eins der Welt. Sie spielt dieses Jahr sehr konstant, sie ist eloquent und verkauft sich gut, sie ist flippig und kein Roboter“, sagt Kindlmann.
Und was ist mit Naomi Osaka, die nach bislang vier Grand Slam-Titeln prädestiniert schien, eine neue Ära auf der WTA-Tour einzuläuten? „Ich glaube nicht, dass sie noch so viele Jahre mit diesem Leistungsdruck sowie dem medialen Druck umgehen kann“, meint Kindlmann. Erwarte das Unerwartete? Es spricht viel dafür, dass es auch in Zukunft viele neue Titelgesichter im Damentennis geben wird.
Grand Slam-Siegerinnen pro Dekade
Dekade | Verschiedene Siegerinnen | Meiste Grand Slam-Siege |
1970er | 13 | Chris Evert (9) |
1980er | 7 | Martina Navratilova (15) |
1990er | 12 | Steffi Graf (14) |
2000er | 12 | Serena Williams (10) |
2010er | 19 | Serena Williams (12) |
2020er | 6 | Ashleigh Barty/Naomi Osaka (2) |
cheap air jordan 1 mid | 1576 nike air jordan 1 grises y negras