Der Poet: Guillermo Vilas im Porträt
Champion und Feingeist. Guillermo Vilas war offiziell nie die Nummer eins. Sein langer Kampf, die Geschichtsbücher umzuschreiben, ist jetzt Stoff einer Dokumentation.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 3/2021
Tränen der Freude, der Hoffnung und der Erleichterung laufen über das Gesicht von Guillermo Vilas, als er mit dem Journalisten Eduardo Puppo in seinem Haus in Buenos Aires sitzt. „Diese Dreckskerle. Es ist vorbei. Danke für deine Hilfe“, stammelt Vilas gegenüber Puppo, der bei ihm ist, um an seiner Biografie zu arbeiten. Mit den Dreckskerlen sind die Verantwortlichen der Herrentour, der ATP, gemeint. Der jahrelange Kampf der beiden, offiziell von der ATP als Nummer eins der Weltrangliste anerkannt zu werden: Er scheint endlich gewonnen zu sein. Wenige Augenblicke zuvor erhält der Argentinier die Mitteilung seines Anwalts, dass die Zeichen gut stehen, dass er bald in den ATP-Listen als Weltranglistenerster auftauchen wird. Endlich würde ihm Gerechtigkeit widerfahren.
Guillermo Vilas, der Erfinder des Tweeners
Diese intime Szene aus dem Dezember 2016 in der Netflix-Dokumentation „Guillermo Vilas – Settling The Score“, verdeutlicht, welchen Stellenwert der jahrzehntelange Kampf um die Nummer eins im Leben von Vilas eingenommen hat. Doch es kommt anders. Am 9. Mai 2018 lehnt die ATP den Antrag, Vilas nachträglich zur Nummer eins zu erklären, zum dritten Mal ab. Für die ATP gilt dieser Fall seitdem als abgeschlossen. Ein Nackenschlag für den „jungen Bullen aus der Pampa“, wie Vilas zu seiner aktiven Zeit gerne genannt wurde.
Tennis: Das war die große Liebe des Argentiniers. Besessen war er vom Erfolg auf dem Platz, dem er alles unterordnete. „Ich bin verheiratet mit dem Tennisspiel“, sagte er einst. Vilas, das war der Inbegriff von Stärke, Fitness, Ausdauer, Geduld und eines tadellosen Verhaltens auf dem Platz. „Die Kraft, die Arbeit und die Hingabe waren das Beste, was ich jemals sah“, sagt der Rumäne Ion Tiriac, langjähriger Trainer des Argentiniers. Vilas, der von seinen Freunden Willy, eine Verniedlichungsform seines Vornamens Guillermo, gerufen wird, gilt als Urvater des Tweeners, dem Schlag durch die Beine. „Die Idee kam mir, als ich den argentinischen Polospieler Juan Carlos Harriott in einer Werbung sah. Er spielte den Ball zwischen den Beinen des Pferdes mit seinem Poloschläger. Das sah fantastisch aus. Ich habe dies dann in mein Spiel integriert“, berichtete er. 1974 zelebrierte er diesen besonderen Schlag, der in „Gran Willy“ getauft wurde, das erste Mal bei einem Schaukampf in Buenos Aires.
Guillermo Vilas und sein Streben nach Perfektion
„Ich mag die Kreativität im Tennisspiel. Wenn jemand sagt, ‚komm’ auf den Platz‘, war es in etwa wie: ‚Los, male. Nur besser‘“, sprach Vilas über die Anziehungskraft, die Tennis auf ihn ausübte. Viele seiner Weggefährten bezeichnen ihn als faszinierenden Charakter. Ein Krieger und hungriger Wolf auf dem Platz, der stundenlang bis zur völligen Erschöpfung trainierte und dabei in kürzester Zeit 24 Dosen Cola zur Erfrischung zu sich nahm. Abseits des Platzes machte er sich als sensibler Geist einen Namen, als Poet, der Gedichte verfasste und über das Leben philosophierte. „Er war frischer Wind für die Tour. Er war ein Querdenker, der eine kreative und unverwechselbare Seite zum Tennis brachte, die zuvor oder danach kein Spieler hatte“, urteilt Gene Mayer, ehemals Nummer vier der Welt, über Vilas. „Eine künstlerische und sanfte Seite zu haben und dazu so zermürbend und wetteifernd auf dem Platz zu sein, war eine interessante Nebeneinanderstellung“, erzählt Mayer weiter über den Argentinier.
„Ich bin ein Entdecker. Ich muss in allem einen Sinn finden. Ich fand es fantastisch, als ich mich das erste Mal verbrannte. Es war heiß, angenehm und ich dachte: Wenn ich es berühre, werde ich vielleicht innen heiß“, hört man, wie Vilas in der Netflix-Doku auf das Tonband spricht – er nahm zwischen 1973 und 1979 46 Audiokassetten auf. Das Feuer, das Tennis bei ihm auslöste, führte zum Streben nach Perfektion zwischen den weißen Linien. Er wollte der Beste werden, der er nur sein konnte. „Du spielst vielleicht ein Match, bei dem jeder sagt, es ist das Beste, das er je gesehen hat. Aber nächstes Jahr ist das vergessen. Ein Tennisspieler muss die Mona Lisa zwei-, dreimal im Jahr malen“, war er sich der Schnelllebigkeit seines Sports bewusst.
Eine Affäre mit Prinzessin Caroline von Monaco
Vilas führte Argentinien nicht nur auf die Tennis-Landkarte, sondern machte Tennis zum zweitbeliebtesten Sport in seiner Heimat – nach Fußball. Er war der Pionier, der den Erfolgsweg für weitere argentinische Spitzenspieler wie Jose Luis Clerc, Gabriela Sabatini, David Nalbandian oder Juan Martin del Potro ebnete. „Er hat die Wahrnehmung in Argentinien verändert. Vor Vilas gab es 70.000 Tennisspieler. In den Achtzigerjahren hatten wir eine Million Spieler. Außerdem produzierten wir Schläger, Schuhe und Outfits“, schildert der argentinische Journalist Guillermo Salatini das Phänomen Vilas.
Seine sensible Seite abseits des Platzes lebte er aus, indem er reihenweise Gedichte veröffentlichte, zunächst unter einem Pseudonym, dann unter seinem richtigen Namen. „Viele Leute betrachten meine Gedichte als die eines Tennisspielers und nicht die eines Poeten“, sagte er einst enttäuscht. Eine Komposition widmete er einer seiner zahlreichen Liebschaften, die ihm nachgesagt wurden: Prinzessin Caroline von Monaco. Die kurze Liaison mit der adligen Schönheit führte Vilas auf die Titelblätter des Boulevard. Sein Tourkollege, der Peruaner Pablo Arraya, erinnert sich an eine Episode, die ihm in besonderer Erinnerung geblieben ist. „Ich war in seinem Appartement in Paris, als er mich bat: ‚Kannst du bitte gehen?‘ Ich ging und im Aufzug sah ich ihn dann mit Prinzessin Caroline von Monaco.“
Guillermo Vilas eine Ur-Version von Rafael Nadal
Die Liebe zum Detail, der erbarmungslose Trainingseifer und der unbändige Kampf um jeden einzelnen Punkt machten aus dem Argentinier einen der prägendsten Charaktere der Tennisgeschichte. Für den Inder Anand Amritraj, zweimaliger Davis Cup-Finalist, ist er eine Ur-Version von Rafael Nadal. „Vilas war besessen davon, in allen Kategorien die Nummer eins zu sein“, beschreibt Journalist Eduardo Puppo seinen Landsmann. Doch all der Schweiß und die Hingabe für seinen geliebten Sport brachten Vilas nicht auf den Olymp: an die Spitze der Weltrangliste auf der ATP-Tour. Auch nicht 1977, als er ein Fabeljahr spielte. Er gewann insgesamt 16 Turniere, siegte bei den French Open und US Open, erreichte das Finale bei den Australian Open und übernahm dennoch zu keinem Zeitpunkt die Weltranglistenführung. „Ich wollte oft die Aufzeichnungen sehen. Die ATP ließ es nie zu. Jemand ließ mich so schlecht wie möglich dastehen, um mich glauben zu machen, ich sei nicht die Nummer eins“, sagte der Argentinier tief enttäuscht.
Das renommierte World Tennis Magazine kürte Vilas zum besten Spieler des Jahres 1977. In der ATP-Rangliste war allerdings Jimmy Connors vorne. Als Vilas 1991 in die Tennis Hall of Fame aufgenommen wurde, stellte man ihn sogar als Nummer-eins-Spieler vor. Jeder sah den „jungen Bullen aus der Pampa“ als legitimen Weltranglistenersten, bloß die ATP nicht. Im Juni 2007 konfrontierte Vilas die ATP mit seiner Forderung, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Als im Dezember 2007 die WTA die Australierin Evonne Goolagong wegen fehlender Dokumente nachträglich zur Nummer eins für insgesamt zwei Wochen erklärte, wurde Journalist Puppo hellhörig. Sein Ziel: Vilas auf den Tennisthron heben. „Es war ein Weckerlebnis für mich. Ich entschloss mich zu einer rückblickenden statistischen Studie, ohne zu wissen, welches Ausmaß es annehmen würde oder dass ich und meine Familie zwölf Jahre darin investieren würden“, schildert Puppo sein Engagement. „Er glaubte, er müsse der Tenniswelt zeigen, was sie Guillermo Vilas schuldete“, erzählt seine Frau Maria Luz Marin.
Project V soll Guillermo Vilas Nummer 1 bringen
Der Journalist arbeitete wie ein Besessener am „Project V“, wie er seine Mission nennt. Mit dem rumänischen Mathematiker und Tennisfan Marian Ciulpan wertete Puppo alle Turniere zwischen 1973 und 1978 aus. Das Weltranglistensystem der ATP war zur damaligen Zeit kompliziert und beinhaltete einen Durchschnittswert der gespielten Turniere. „Viel zu spielen wie Vilas brachte nicht viel“, stellte Roger Federer treffend fest. Hinzu kam, dass die Weltrangliste nicht wie heute wöchentlich, sondern nur sporadisch veröffentlicht wurde. So gab es im Jahr 1975 nur 13 veröffentlichte Weltranglisten, in denen jeweils Connors vorne lag, ebenso in allen 39 unveröffentlichten Wochen. Nach Jahren der intensiven Recherche waren sich Puppo und sein Team sicher: Vilas hätte die Nummer eins sein müssen. Allerdings nicht in seinem Fabeljahr 1977, sondern für fünf Wochen im Jahr 1975 sowie zwei weitere im Jahr 1976.
Im Dezember 2013 erzählt Puppo erstmals Vilas von seinem Projekt. Er überreicht ihm einen Umschlag mit seinen Nachforschungen. Doch Vilas reagiert zunächst kühl. Der Argentinier weiß nicht, wohin mit seinen Gefühlen. Wenige Stunden später spricht er Puppo auf die Mailbox. „Das war mein dritter heftiger Moment im Tennis. Der erste war, als ich das Masters als Unbekannter gewann. Dann mein zweiter Sieg bei den Australian Open, weil ich meinen Vater das erste Mal weinen sah. Und dann das hier. Ist ihnen klar, was dieses Blatt Papier mir bedeutet?“
In den folgenden Jahren soll Puppo zu einem engen Freund von Vilas werden. „Ich wusste, dass ich an der Spitze stand. Wie kann es sein, dass ich nach all der Zeit nicht einmal zumindest für einen Tag die Nummer eins war?“, zeigte sich Vilas ratlos.
Antrag abgelehnt: ATP will Kettenreaktion vermeiden
Am 4. Dezember 2014 sendete Puppo dem damaligen ATP-Präsidenten Chris Kermode eine Mail. Der Inhalt: Zugang zu 1.232 verschlüsselten Dateien mit insgesamt 1.119 Seiten Beweismaterial. Der Antrag: Guillermo Vilas muss nachträglich zur Nummer eins erklärt werden. Die ATP nahm die Recherchen von Puppo zur Kenntnis und musste sogar eingestehen, dass Vilas drei weitere Titel auf Sand gewonnen hatte, die ursprünglich in der ATP-Statistik nicht gelistet waren. Doch beim Thema Nummer eins der Weltrangliste blieb die ATP hart. Der Antrag wurde mehrfach abgelehnt. „Wir können diese Version nicht als offizielle Geschichte bezeichnen, denn sonst würden wir auch anderen die Tür öffnen. Wo hört man dann auf?“, begründete Kermode die Entscheidung der ATP. Man wolle eine Kettenreaktion in Form eines Präzedenzfalles unbedingt vermeiden.
Auch wenn die ATP die Causa Vilas zu den Akten gelegt hat, wollen Puppo und sein Team weiter für Gerechtigkeit kämpfen. Die Hoffnung und die Zuversicht, dass Vilas dereinst in der offiziellen Rangliste als Nummer eins gelistet wird: Sie ist weiterhin da. Unter seinen damaligen Kollegen besteht ohnehin keinerlei Zweifel, dass er den Sitz auf dem Tennisthron verdient hat. „Er war der Beste. Er hätte die Nummer eins sein sollen“, findet sein Weggefährte Björn Borg, mit dem Vilas damals eine große Freundschaft pflegte. Der zweifache Grand Slam-Sieger Rod Laver (1962, 1969)stellt eine gewagte These auf: „Bei Vilas, Connors und McEnroe war völlig unklar, wer die Nummer eins, zwei oder drei war. Vielleicht war Vilas nur die Nummer drei, weil er nicht aus den USA kam“, sagt Laver.
Geht Vilas in die ATP-Annalen als König ohne Krone, als bester Nummer-zwei-Spieler ein? „Die Leute glauben, Menschen schreiben Geschichte, doch die Zeit schreibt sie. Die Zeit lehrt alles.“ Noch so einer dieser philosophischen Sätze vom Poeten Vilas.
Die Vilas-Dokumentation
Die Netflix-Dokumentation „Guillermo Vilas – Settling The Score“ (94 Minuten) verbindet die Lebensgeschichte des Argentiniers mit dem jahrelangen Kampf nach Anerkennung als Nummer eins der Weltrangliste. Neben bislang unveröffentlichten Tonaufnahmen sowie Spielszenen aus einem anderen Kamerawinkel sprechen einige Legenden wie Björn Borg, Boris Becker, Roger Federer und Mats Wilander über Vilas. Ein intimer Einblick in das Seelenleben eines Ausnahmespielers.
tennis MAGAZIN-Bewertung: 4,5 von 5 Sternencheap air jordan 1 low | cheap air jordan 1s for sale