Die wahren Beidhänder: Und sie spielen nie eine Rückhand …
Sie setzen ihre linke Hand genauso wie ihre rechte ein – aber nicht gleichzeitig, sondern einzeln. Eine verschwindend geringe Anzahl von Profis kann mit links und rechts spielen. Heißt: Immer Vorhand, nie Rückhand! tennis MAGAZIN hat das Phänomen der echten Beidhänder genauer ergründet.
(Aktualisierte Print-Story aus Heft 3/2021)
Coy Simon will Tennisprofi werden. Das ist für einen 19-Jährigen, der in den USA Collegetennis spielt, zu den besten Nachwuchsspielern im US-Bundesstaat South Carolina zählt und von seinem Vater, einem hauptberuflichen Tenniscoach, seit frühester Kindheit trainiert wird, nichts ungewöhnliches. Wenn man sich allerdings Videos von ihm im Netz anschaut und die Fotos durchgeht, die sein Vater Ben per Mail aus Charleston nach Hamburg geschickt hat, muss man zweimal hinschauen, mindestens. Denn: Coy Simon spielt keine Rückhand, nie. Wie das gehen soll? Er wechselt während der Ballwechsel die Schlaghand.
Coy gehört zu den wenigen Tennisspielern, die mit rechts und links spielen können – und das nicht gleichzeitig, sondern unabhängig voneinander. Kommt der Ball des Gegners auf die rechte Seite, umfasst er den Schlägergriff mit rechts und spielt eine Vorhand. Landet der Ball links von ihm, hält er sein Racket plötzlich in der linken Hand und feuert damit ebenfalls eine Vorhand ab. Coy treibt dieses Verwirrspiel auf die Spitze, weil er auch noch mit beiden Händen aufschlagen kann. Von der Einstandseite serviert er oft mit rechts, von der Vorteilsseite mit links.
Coy Simon: echter Beidhänder mit zwei Vorhänden
Ben Simon, Coys Vater und Coach, ist von dieser eigenwilligen Spielart überzeugt. Er bildet auch seine beiden jüngeren Töchter „beidhändig“ aus. „Dieser Stil hat viele Vorteile. Nicht nur vom physischen Standpunkt aus, weil man beide Körperhälften gleichermaßen belastet, sondern auch in taktischer Hinsicht. Wenn man Nadal auf der einen und Federer auf der anderen Seite hat, dann ist es an sich schon brutal, gegen Coy zu spielen“, führt er per Mail aus.
Eine schwächere Seite – bei den meisten Spielern ist das ja eher die Rückhand – hat sein Sohn durch die doppelte Vorhand angeblich nicht: links die von Nadal, rechts die von Federer. „Er kann von beiden Seiten wahnsinnig viel Druck erzeugen“, erklärt Ben Simon. Hat sein Sohn denn immer die Zeit für einen Handwechsel? „Meistens ist es Coy, der die Ballwechsel dominiert. Das macht sein Spiel zwar fehleranfällig, aber er hat so auch die Zeit, die Hand zu wechseln.“
Bis in die Top 10 der U18-Rankings der USA hat es Coy damit schon geschafft. Nun steht seine erste Saison im Collegetennis an. Er wird für die University of Tennessee als sogenannter „Freshman“ auflaufen. Sein Headcoach dort wird Ex-Profi Chris Woodruff sein, die Erwartungen sind groß. „Coy ist dafür bereit, er kann es noch weit bringen“, beendet Ben Simon seine letzte Mail.
Teodor Davis: Beidhänder-Video geht viral
Es liegt nun nahe, die Versuche von Coy und dessen Vater, es ohne eine Rückhand, aber mit zwei Vorhänden, ins Profitennis schaffen zu wollen, als Fantasterei oder völlig irres Experiment abzubügeln. Doch Coy ist nicht allein und hat durchaus bekannte Vorbilder.
Vergangenes Wochenende ging ein Tweet der US-Tennisbloggerin Colette Lewis („Zootennis“) viral durch die Decke. Lewis beschäftigt sich vor allem mit Jugendtennis und in ihrem Tweet ist der 10-jährige Teodor Davidov zu sehen, wie er mit links und rechts Vorhandschüsse aus vollem Lauf abfeuert. Mehr als 400.000-mal wurde das Video schon gesehen. Davidov wurde in Rumänien geboren, zog als Kleinkind mit seinen Eltern in den US-Bundesstaat Colorado, absolviert seit seinem fünften Lebensjahr täglich bis zu zwei Tenniseinheiten und will Profi werden.
Unter twittertüchtigen Tennistrainern entfesselte das Video eine lebhafte Diskussion. Dauertwitterer Brad Gilbert schrieb: „Mit beiden Armen aufzuschlagen und mit zwei Vorhänden zu spielen, hat enorme Möglichkeiten. Wenn er flinke Füße und Hände hat, kann das auf jeder Ebene funktionieren.“ Die niederländische Trainerlegende Sven Groeneveld entgegnete: „Ich glaube nicht, dass er sich auf höchstem Level an das Tempo im Herrentennis anpassen kann.“
Coy Simon und Teodor Davidov haben in der Tennishistorie bekannte Vorreiter, die es mit der gleichen oder einer ähnlichen Spielweise so weit gebracht haben, dass sie an Grand Slam-Turnieren teilnehmen konnten.
Der heutzutage wohl bekannteste von ihnen ist Luke Jensen, den man in den USA zu seiner aktiven Zeit „Dual Hand Luke“ nannte, also „Doppel Hand Luke“. Allerdings wechselte Jensen, der zusammen mit seinem Bruder Murphy als schrille Doppelspezialisten in der Szene bekannt wurde, nicht während der Ballwechsel seine Schlaghand, sondern lediglich beim Aufschlag. Was unter anderem für Boris Becker schon erstaunlich genug war, als er gegen Jensen im Junioren-Viertelfinale der US Open 1983 antrat. Becker verriet in einem Eurosport-Podcast, wie er sich damals komplett veräppelt vorkam, weil sein Gegner mal mit links, mal mit rechts servierte. Jensen gewann das Duell damals übrigens mit 7:6 im dritten Satz.
Luke Jensen: Beidhänder mit zehn Aufschlagvarianten
Auch bei Luke Jensen spielte der Vater die entscheidende Rolle: Howard Jensen, ein ehemaliger American Football-Profi, sah, wie sein Sohn mit links Basketbälle und Footballpillen warf, aber beim Tennisspielen den Schläger in die rechte Hand nahm. Es war seine Idee, dass Luke als Kind die Aufschlagbewegung auch mit links lernte. Der Los Angeles Times verriet Jensen 1987: „Viele denken nicht daran, aber ich muss doppelt so viel Zeit damit verbringen, an meinem Aufschlag zu arbeiten wie andere Profis. Die meisten Spieler haben fünf verschiedene Aufschläge mit einem Arm. Ich habe zehn mit zwei.“
In den englischsprachigen Profilen von Spielern wie Coy Simon oder Luke Jensen steht unter dem Stichwort Schlaghand nicht „right“ oder „left“ – sondern „ambidextrous“. Frei übersetzt heißt das „beidhändig“. Doch streng genommen ist es viel mehr. Unter dem deutschen Fachausdruck „Ambidextrie“, abgeleitet von den lateinischen Wörtern ambo („beide“) und dexter („rechts“), versteht man die „Fähigkeit, mit beiden Händen gleich geschickt umgehen zu können“, erklärt Timo Klein-Soetebier von der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Klein-Soetebier ist dort Studienrat im Hochschuldienst und befasst sich am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik unter anderem mit der Wahrnehmungsforschung im Sport. „Früher war das Phänomen der Beidhändigkeit geläufiger, weil Linkshändigkeit als Schwäche eingestuft wurde. Die Kinder wurden auf rechts gedrillt und viele von ihnen entwickelten beidhändige Fähigkeiten. Dieses Umschulen macht man heute zum Glück nicht mehr“, erklärt er.
Beidhänder sind „ambidextrous players“
Grundsätzlich sind weltweit knapp 90 Prozent der Bevölkerung Rechts- und um die zehn Prozent Linkshänder. „Der Anteil der Menschen, die beide Hände gleich gut einsetzen können, liegt irgendwo zwischen null und einem Prozent“, schätzt Klein-Soetebier. Es ist eine verschwindend geringe Anzahl. Entsprechend selten sind sie im Sport zu finden. „Deutschsprachige Forschung dazu gibt es eigentlich kaum“, resümiert der Sportwissenschaftler. Allerdings steht fest, dass Menschen, die beide Hände im Alltag – also auch im Sport – gleichwertig benutzen, ein ausgeprägteres Gleichgewicht beider Hirnhälften haben. „Der Mensch ist überkreuz verzahnt: Wer Rechtshänder ist, dessen Hand wird von der linken Gehirnhälfte gesteuert. Umgekehrt werden Linkshänder von der rechten Gehirnhälfte gesteuert“, erklärt Klein-Soetebier.
Die dominantere Gehirnhälfte ist demnach vernetzter und größer als die andere. Bei beidhändigen Menschen sind dagegen beide Gehirnhälften symmetrisch. Sie sind ähnlich gut vernetzt und dadurch ähnlich groß. Was ihnen das schlussendlich bringt, darüber rätselt die Forschung noch.
Herbert Chipp: Erster Beidhänder im 19. Jahrhundert
Der Engländer Herbert Chipp hatte in seiner aktiven Zeit in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts ganz andere Sorgen. Chipp war in der Anfangszeit des „Lawntennis“ recht erfolgreich, stand 1884 sogar im Wimbledon-Halbfinale. Doch er wurde damals von der feinen viktorianischen Gesellschaft, die sich am Boom-Sport Tennis erfreute, zunächst verspottet als: „Der Mann ohne Rückhand“. Chipp gilt als erster echter beidhändiger Spieler der Tennisgeschichte, der mit links und rechts nur Vorhand spielte. Sein Tennisleben nahm letztlich noch einen guten Lauf. Chipp wurde zu einer kleinen Attraktion auf Turnieren. Später machte er als Funktionär beim englischen Tennisverband Karriere.
Sein bekanntester Nachfolger wurde der Italiener Giorgio de Stefani, der ebenfalls nur Vorhand spielte. Für Aufsehen sorgte sein Antrag in den 1930er-Jahren beim Tennis-Weltverband, mit zwei Schlägern gleichzeitig – einer links, einer rechts – auflaufen zu dürfen. Der Antrag wurde abgelehnt, aber de Stefani schaffte es auch so in die höchsten Sphären des Tennissports. Er galt als einer der besten Spieler seiner Generation und erreichte 1934 sogar das Endspiel von Roland Garros, das er gegen Henri Cochet verlor.
Giorgio de Stefani: bester Beidhänder der Geschichte
Gardner Soule, ein Associated Press-Journalist, beschrieb den Stil von de Stefani einmal so: „Er wechselt mit dem Schläger so schnell die Hand, dass die Gegner manchmal einige Sätze brauchen, um zu verstehen, was auf der anderen Seite des Netzes überhaupt vor sich geht.“ Fred Perry, den mit de Stefani eine langjährige Rivalität verband, schrieb 1934 im Sydney Morning Herald über den Italiener: „Es gibt niemanden auf der Welt, der so spielt wie Giorgio, er ist ein Freak. Man kann ihn aber nur schwer besiegen.“
De Stefani wurde im Anschluss an seine aktive Laufbahn Sportfunktionär und führte den Tennis-Weltverband in den 60er-Jahren an. In den Gedächtnissen einiger Tennisfans ist sein Name aber vor allem deswegen verankert, weil er 1930 im Davis Cup gegen den US-Amerikaner Wilmer Allison 18 Matchbälle nicht nutzte.
Im Damentennis sorgte erst in den 50er-Jahren eine Frau ohne Rückhand für Furore: Beverly Baker Fleitz (USA). Sie stand 1955 im Wimbledon-Endspiel und zählte lange zu den drei besten Spielerinnen der Welt.
Nicht ganz so gut war Marijke Jansen-Schaar, Halbfinalistin in Roland Garros (1971) und mehrfache niederländische Meisterin, die heute noch in ihrer Geburtsstadt Den Haag lebt. Als die mittlerweile 76-Jährige an ihr Handy geht, meldet sie sich im besten Deutsch: „Ah, das deutsche Tennismagazin, wie schön!“ Jansen-Schaar erzählt eine halbe Stunde lang von ihrer Karriere und ihrem ungewöhnlichen Spielstil. Natürlich drängt sich eine Frage sofort auf: „Frau Jansen-Schaar, können sie wirklich keine Rückhand spielen?“
„Ich brauchte keine Rückhand, hab doch nur Vorhand gespielt!“
Ein fröhliches Lachen erklingt am anderen Ende der Leitung. „Nein, kann ich nicht. Aber das brauchte ich ja auch nicht, weil ich doch nur Vorhand gespielt habe, rechts und links.“ Es klingt für sie wie eine Selbstverständlichkeit. „Ich habe schon als kleines Mädchen alles mit rechts und links gemacht, das war ganz normal für mich. Ich habe beim Tennis gar nicht großartig darüber nachgedacht, dass ich ständig die Hand wechsle“, erzählt Jansen-Schaar. Ihre ersten Trainer sahen das indes nicht so gern und wollten ihr die seltsame Technik austreiben: „Oh Gott, mein Coach vom niederländischen Verband sagte zu mir: ‘Auf diese Weise kannst du niemals etwas erreichen!’ Tja, da hat er sich wohl getäuscht.“ Wieder muss Jansen-Schaar laut lachen.
Als sie die internationale Bühne betrat, wurde sie ständig auf ihre zweifache Vorhand angesprochen. Wenn es Zeitungsberichte über sie gab, spielten Ergebnisse kaum eine Rolle, es ging stets um das „niederländische Fräulein ohne Rückhand“. „Aber das war so in Ordnung“, relativiert Jansen-Schaar am Telefon. „Eine Zeitung verglich mich mal mit einem Boxer, so mit scharfer Rechter und harter Linker. Das hat mir gut gefallen.“ Die größte Schlagzeile aber brachte ihr ein ganz besonderes Match ein.
Am 20. Mai 1969 titelte nämlich der englische Guardian: „Niederländisches Mädchen gewinnt den Kampf der vier Vorhände.“ Damals kam es im Rahmen der Fed Cup-Partie zwischen den Niederlanden und Indonesien zu einer der ungewöhnlichsten Partien der Tennisgeschichte. Denn: Die Gegnerin von Jansen-Schaar, Lita Liem, spielte genauso wie sie selbst: ohne Rückhand! „Das war natürlich völlig verrückt“, erinnert sich Jansen-Schaar, die das Match gewann – genauso wie das zweite Aufeinandertreffen der beiden Vorhandspezialistinnen 1972 in Wimbledon.
Es dauerte lange, bis auf der Damentour eine Nachfolgerin von Marijke Jansen-Schaar und Lita Liem erschien. Ende der 90er-Jahre schließlich erklomm Evgenia Kulikovskaya aus Moskau die WTA-Weltrangliste. Sechsmal stand sie in einem Grand Slam-Hauptfeld, 2003 zählte sie zu den Top 100.
Auch Kulikovskaya ist eine natürliche Beidhänderin, die schon als junges Mädchen keine Rückhand spielte, sondern den Schläger einfach in die andere Hand nahm. „Mein Trainer registrierte das natürlich und wagte ein Experiment: Er brachte mir nie eine Rückhand bei und bildete stattdessen meine Vorhände auf beiden Seiten aus,“ erzählte Kulikovskaya 2003 der New York Times.
Dabei verwendete sie eine höchst eigenwillige „Wechseltechnik“: Sie wartete mit beiden Händen am Griff auf den Ball, die linke Hand ganz unten, die rechte Hand darüber. Näherte sich ein Ball auf ihrer linken Seite, löste sie die rechte Hand und spielte die „linke Vorhand“. Kam der Ball aber auf ihre rechte Seite, schlug sie diese Vorhand mit der rechten Hand fast auf halber Höhe des Griffs.
Auf der Herrentour gab es zuletzt kaum echte beidhändige Profis. Claudio Grassi aus Italien schlug mit links auf, die Grundschläge aber zog er mit rechts durch (beidhändige Rückhand). Er erinnerte damit an den großen Australier John Bromwich, der genau andersherum spielte: Aufschlag und Schmetterbälle mit rechts, alles andere mit links (beidhändige Rückhand). Grassi schaffte es bis auf Rang 300 und hörte 2015 auf. Nicolas Rosenzweig aus Frankreich spielte sich ohne Rückhand hoch bis auf Weltranglistenplatz 687. Er absolvierte 2019 sein letztes Match.
Vielversprechend sah es beim Koreaner Cheong-Eui Kim aus, der 2015 ohne Rückhand zu den Top 300 zählte. Der deutsche Ex-Profi Jaan-Frederik Brunken traf 2011 auf Kim bei einem Future-Turnier in Korea. Brunken gewann und kann sich noch gut an die Partie erinnern: „Das war total seltsam, es spielt ja sonst niemand so. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran.“ Kim ist mittlerweile im ATP-Ranking weit abgerutscht.
Die US-Talente Coy Simon und Teodor Davidov lassen sich deswegen aber nicht von ihrem Weg abbringen: Sie wollen eines Tages ohne Rückhand zur Weltklasse gehören.men’s jordan release dates | Buy Nike KD IV 4 , Home – Wakeortho Shop