Erneuerung: Andy Murray im Porträt
In dem Dokumentarfilm „Resurfacing“ gibt Andy Murray eindrucksvoll Einblicke in die Leidenszeit seiner letzten Profijahre. Kann der Schotte nur auf dem Platz glücklich sein? Annäherung an einen Getriebenen.
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 6/2020
Text: Rüdiger Barth
Tennisspieler der Weltklasse umgeben sich in der Öffentlichkeit stets mit einem Tross, der sie schützt. Sie sind die Sonne, um die die Mitglieder ihres Teams kreisen. Auf dem Platz aber – im Duell – gibt es kein Wir. Nur ein Ich. Zum Beispiel: ich, Andy Murray.
Auf Amazon Prime ist Ende letzten Jahres ein Film herausgekommen, der „Resurfacing“ heißt, „Erneuerung“. Reporter begleiteten den Leidensweg des an einer Hüftverletzung laborierenden Weltranglistenersten Briten Andy Murray seit Januar 2018. Es gibt viele Szenen in diesem Film, die man nicht mehr vergessen wird, als Andy-Murray-Fan, als Tennisfan, als halbwegs begabter Tennisspieler, der sich mitunter heimlich fragt, was wohl drin gewesen wäre, mit ernsthaftem Training in Kindertagen. Und wie es dann da oben gewesen wäre, unter den Besten der Welt.
Der Schriftsteller David Foster Wallace, in der Jugend selbst erfolgreicher Spieler, schrieb einmal: „Ein Spitzensportler beim Ausüben seiner Sportart ist eine kostbare Mischform aus Tier und Engel, die wir unschönen Normalsterblichen in uns selbst schwerlich erkennen können.“ Wie also ist es, Engel und Tier zu sein? Welche Vorstellung haben wir davon, wie diese Stars wirklich sind, als Menschen?
Der Kampf gegen die Schmerzen
Andy Murray kauert auf seinem Stuhl, sein Gesicht im Handtuch vergraben, August 2018, er weint. Gerade hat er in Washington das dritte enge Dreistunden-Match binnen weniger Tage gewonnen, auf seine Art, mit purem Willen und viel Herz und dieser mächtigen Rückhand. „Was für ein schönes Bild“, sagt der Reporter, weil er glaubt, dass Murray überwältigt sei von seinen Glücksgefühlen. So lange war der Brite, nach 41 Wochen als Nummer eins der Weltrangliste, zuvor abgetaucht gewesen. Eine rätselhafte Hüftverletzung. Und nun das Comeback.
Aber Murray weint nicht, weil er sich so freut. Er weint, weil er weiß: Es ist vorbei. In dieser Nacht schläft er nicht. Um 5:09 Uhr morgens schaltet er sein Handy an. Er spricht ins grelle Licht der Kamera. Er ringt nach Worten. Seine Unterlippe zittert. Man hört es, wenn er schluckt. „Es fühlt sich wie das Ende an. Mein Kopf will sich nicht mehr durch die Schmerzen hindurchkämpfen. Und das macht mich sehr traurig, weil ich so gerne weitermachen würde, aber mein Körper sagt mir: nein.“ Vier Monate später wird Murray in Melbourne unter Tränen seinen Rücktritt ankündigen.
Knapp fünf Monate später wird er sich ein künstliches Gelenk in der rechten Hüfte einsetzen lassen. Zehn Monate später wird er erneut sein Comeback feiern. Warum tut sich Andy Murray dies noch an? Den Mann aus Dunblane, Schottand, umgibt mittlerweile die Aura eines Champions in der Spätphase seiner Karriere, Jimmy Connors hat dieses Narrativ über Jahre strapaziert. Murray ist aber gerade 32 Jahre alt, Novak Djokovic, die aktuelle Nummer eins, ist nur eine Woche jünger.
Den Panzer beiseite geschoben
Die Stars des Sports genießen gewöhnlich jenen Schutzpanzer aus Misstrauen, Vorsicht und Erfahrung, mit dem ihre Leute sie gegenüber der Welt da draußen umgürten. Murray hat diesen Panzer beiseite geschoben. Da will einer zeigen, wie es wirklich ist. Wie er schuftet, um wieder mehr als gesund zu werden: um fit zu werden. Wie dreckig es ihm geht, auf dem Weg. Er will, dass wir ihn verstehen. Dass er, Andy Murray, Tennis braucht. So etwas schreibt sich ja leicht, als Journalist und Beobachter. Aber er sagt es selbst, in diesem Film. „Resurfacing“ ist nicht zuletzt wegen dieser radikalen Offenheit eine erstaunliche, eine erfreuliche, eine bestürzende Dokumentation.
Die Geschichte von Sporthelden beginnt immer mit der Geschichte ihrer verlorenen Jugend. Von klein auf müssen sie sich durchsetzen und andere verdrängen. In einer Zeit, in der sich andere Jugendliche austoben und charakterlich reifen, müssen sie besser und besser werden. Die allerwenigsten von ihnen werden am Ende Profis. Nur die begnadeten Arbeiter schaffen es im Tennis in die Top Ten. Und dann muss noch etwas dazukommen, etwas Genialisches, ein Funken, den man nicht benennen kann, um in den Kreis der Allerbesten vorzustoßen, seit Jahren heißt der: Federer, Nadal, Djokovic.
Andy Murray ist 1.91 Meter groß, ein Modellathlet. Er hat eine Spannweite, die Gegnern das Fürchten lehrt. Er spielt Tennis so körperlich wie ein Schwergewichtsboxer boxt, er brüllt und flucht, es ist intensiv, für alle. Als er 2006 auf der Tour auftauchte, wirkte er wie eine Mischung aus Miloslav Mecir und Boris Becker. Er hatte die Gewandtheit Mecirs, aber auch dessen Wankelmütigkeit; er hatte das Herz Beckers, aber auch dessen Hang zur Selbstzerfleischung.
Murray: „Für mich ist Tennis eine Art Flucht”
Seit vielen Jahren ist er längst nurmehr er selbst, Andy Murray, der auf dem Platz ein Feuer ausstrahlt wie wenige. Welcher Brennstoff mag dieses Feuer nähren? Mit drei Jahren begann er mit dem Tennis. Als er acht Jahre alt war, erschoss ein Mann, den seine Familie gut kannte, 16 Kinder an Andys Grundschule in Dunblane. Ein Jahr später ließen sich seine Eltern scheiden. Nicht lange danach ging sein Bruder Jamie fort, aufs Internat nach Cambridge. Im Film hört man dazu nur Murrays Stimme, seine Worte erscheinen als Schrift, der Effekt ist überwältigend.
„Das war eine schwere Zeit für uns Kinder, zu sehen, was passiert, und es nicht ganz zu verstehen.“ Und er sagt: „Für mich ist Tennis eine Art Flucht. Weil sich all diese Dinge in mich reingefressen haben. Weil wir über die Dinge nicht reden, sie sind ungesagt geblieben. Auf dem Patz zeige ich positive Seiten meiner Persönlichkeit. Tennis erlaubt mir das Kind zu sein, das so viele dieser Fragen hat. Deswegen ist Tennis so wichtig für mich.“
Sportler dieses Kalibers sind in ihrer Gedankenwelt auch so schon schwer zu verstehen, machen wir uns nichts vor, und dass sich da einer so verletzlich zeigt, das gibt es sonst nicht. Murray hat eine kluge Frau, zwei kleine Töchter und einen Sohn. Seine Entourage besteht aus gut gelaunten, bescheidenen Jungs, die nicht zu viel reden, die gut zuhören können, die ihm treu ergeben sind. Sie mögen Murray und er mag sie, das ist zu spüren. Zugleich ist er ihr Chef. Shane, der Physiotherapeut, setzt sich beim Fernsehgucken nicht aufs Sofa neben den Mann, der ihn bezahlt. Der Film setzt ein mit der ersten Operation im Januar 2018. Murray kann nicht mehr laufen, sich keine Schuhe mehr anziehen. Ein Entzündungsherd in der Hüfte wird herausgekratzt, ein Knorpelschaden geglättet. Aber es wird danach nicht besser.
Andy Murray will immer gewinnen
Wir werden mitgenommen auf ein Jahr der quälenden Ursachenforschung. Murray saugt jede Information ein, der er habhaft werden kann. Ruft Lleyton Hewitt an, der auch einmal eine Hüft-OP zu bewältigen hatte. Schaut sich Videos von Operationen an, googelt, liest. Will alles wissen. Sucht Sicherheit, wo es keine Sicherheit gibt. Das ist sein Wesen. Er muss auch gewinnen, immerzu, überall. Selbst Diskussionen will er gewinnen, sagen seine Leute. Seine Mutter Judy kommt vor der Kamera zu Wort; sein Bruder Jamie, ebenfalls ein Weltklassespieler, wenngleich im Doppel; seine Ehefrau Kim, die Jungs aus dem Tross. Er streitet über jede Kleinigkeit, kennt alle Statistiken und Analysen, fragt und fragt und fragt.
„Resurfacing“ zeigt, wie hart Murray arbeitet. Er zeigt seine Verlorenheit in anonymen Hotelzimmern. Die Monotonie des Trainings. Wie klebrig die Tage der Reha zerrinnen. Wie hilflos seine Helfer sind, die warten, dass der Mann, den sie umsorgen, sich endlich einmal besser fühlt. Zu sehen ist auch eine Kameradschaft, die ungekünstelt wirkt. Viele äußerten ja früher den Verdacht, Murray habe keinen Humor. Aber er hat Humor, einen, nun ja, staubtrockenen, neckenden, oft selbstironischen. Es hieß oft, er lache nie, aber das stimmt nicht. Sein Gesicht hellt sich nur kaum auf, wenn er lacht.
Wer ist Murray ohne Rüstung?
Murray, so sehen wir, ist ein Grübler. Er ändert ständig seine Meinungen. Er kann ackern, dass es ihm selbst unheimlich ist. „Ein verdammtes Tier“ sei er, sagt Brad Gilbert. Und ein anderer Coach aus früheren Zeiten, Ivan Lendl, sagt mit Staunen in der Stimme: „Ich konnte nicht glauben, wie viel Zeit er sich für die Vorbereitung nimmt oder wie lange er Aufschlag trainiert. Das habe ich bei keinem anderen Spieler jemals so gesehen.“ Seinen aktuellen Trainer Jamie Delgado bat Murray noch während der ersten Intervall-Einheit: „Ich weiß nicht, warum das bei mir so ist, aber ich kann weitermachen, ich kann einfach durch den Schmerz durch, und wenn du denkst, ich kann nicht mehr, push mich, ich mach weiter.“
Und Murray macht weiter. Aber über die Monate wächst die Furcht, dass es nicht mehr gut wird. Dass sein Leben, das durch den Sport klar strukturiert war, nie mehr so sein wird wie früher. Wir sehen Murray ins Nichts starren. Wir hören ihn erzählen, auf seine stockende, langsame Art. Von der Erwartung der anderen. Von seiner Angst.
Wie lange soll er sich quälen? „Ich will nicht aufgeben, ohne alles versucht zu haben“, sagt er. Fünf, sechs Mal zieht er die Reha durch. Er trifft Fitness-Gurus, Ärzte und Experten aller Art, macht Breakdance und Aquajogging, besteigt seinen Climber zu Hause und klettert und klettert ins Nirgendwo. Immer wieder neue Hoffnung. Immer wieder platzende Hoffnung. In diesen Szenen wird klar, wie wenig wir sonst wissen von den Menschen, die wir Stars nennen. Wir kennen sie auf dem Platz, im Fernsehstudio. Wir kennen sie nicht ohne Rüstung.
Ein Mensch auf der Suche
Keiner seiner Leute traut sich, Murray den Rat zu geben, aufzuhören. Seine Frau sagt, er hoffe, dass ihm jemand die Entscheidung abnehme. Aber das gehe nicht, das könne nur er selbst. Und für Andy, so erfahren wir, fühlt es sich so an, als würden sie ihn alle bedrängen weiterzumachen. „Ich kann eine Nervensäge sein“, sagt er, „aber ich habe alles gemacht, was man mir sagte. Ich habe das nicht verdient.“
Bis er sich durchringt, seinen Rücktritt anzukündigen, „um wieder Lebensqualität zu haben“, ein Befreiungsschlag. Wir sind bei der folgenden Operation dabei, sehen das Metall ins Murrays Körper gleiten, hören die Hammerschläge, die das neue Gelenk in die Pfanne treiben. Kurze Zeit danach ist er schmerzfrei. Und beginnt wieder zu trainieren. Und kehrt zurück auf dem Platz. Er muss zurück, nur auf dem Platz scheint für ihn das Leben zu sein.
Im Doppel gewinnt er bald ein erstes Turnier. Jetzt, da er keinen Druck mehr habe, werden wunderbare Dinge geschehen, sagen seine Vertrauten. Wimbledon in diesem Jahr, das sollte noch einmal seine Bühne werden. Wenn es Andy Murray vergönnt sein wird, wird er dann eben nächstes Jahr da sein, im Juni 2021. Wir werden seinen Kampf mit anderen Augen sehen. Wir werden ihn mehr denn je anfeuern. Er ist längst ein Ritter des Vereinigten Königreichs, er wird längst geliebt, er ist, wie wir jetzt wissen, ein verlorenes Kind, er ist ein Mensch auf der Suche.
Andy Murray hat die Blase geöffnet
Einmal wurde er in einem Interview gefragt, wie er es aushalte. Er antwortete: „Wenn du alles von dir abschirmst und in deiner eigenen, kleinen Blase lebst, dann geht das.“ Nun hat er die Blase geöffnet. Wir sind drin. In „Resurfacing“ sehen wir einen Menschen, den wir für seine Unbeugsamkeit bewundern dürfen. Wir sollten uns Andy Murray – und all die anderen da oben – aber nicht als glücklichen Menschen vorstellen. Bevor der Covid-19-Virus die Welt zum Stehen brachte, sagte er im März anstehende Turniere verletzungsbedingt ab. Eine komplizierte Sache, ließ er verlauten. Die Hüfte.
Wer ihn in diesen Monaten erleben will, sollte sich auf YouTube das Wimbledon-Finale 2013 gegen Novak Djokovic anschauen. Das letzte Aufschlagspiel vor der Erlösung, 77 Jahre, nachdem zuletzt ein Brite Wimbledon gewonnen hatte, der legendäre Fred Perry. Ein Murray-Drama, diese schnellen Beine, das breite Kreuz, der hängende Kopf, das Kämpferblut. Der Jubel der Zuschauer bei jedem Punkt, wie Fußballfans bei einem Last-Minute-Tor. „Sporting immortality doesn`t come easily”, sagt der Kommentator, ja, der Weg zur Unsterblichkeit im Sport ist weit. Dann landet Djokovics Rückhand im Netz. Und Andy Murray ist, endlich, zuhause.
Vita Andy Murray
Der Schotte ist der erfolgreichste britische Tennisprofi der Open Ära. Murray gewann 46 Turniere im Einzel, davon drei Grand Slam-Turniere (US Open 2012, Wimbledon 2013, 2016). Acht weitere Male erreichte er ein Majorfinale (5x Melbourne, 1x Paris, 1x Wimbledon, 1x US Open). Die Weltrangliste führte er 41 Wochen an. Der gebürtige Glasgower schaffte das Kunststück, zweimal olympisches Gold zu holen (2012 in Wimbledon, 2016 in Rio). Die aktuelle Nummer 129 der Welt lebt mit seiner Familie in Surrey, England. cheap air jordan 11 | nike factory outlet online shopping