Goldene Momente: Stan Wawrinka wird 40
Stan Wawrinka ist der Champion aus dem Volk. Von seinem Weg können Tennisspieler viel lernen. Eine Hommage zu seinem 40. Geburtstag.
Text: Simon Graf
Stan Wawrinka feierte als Produzent von „Maison de Retraite“ (Altersheim) einen Großerfolg in Frankreich. Der Film lockte 2022 über zwei Millionen Besucher in die Kinos und animierte die Filmemacher, einen zweiten Teil zu drehen. In der Feelgood-Komödie entwickelt ein junger Mann, der vom Weg abgekommen ist und zur Sozialarbeit in ein Altersheim geschickt wird, eine spezielle Bindung zu den Bewohnern und lernt Lektionen fürs Leben. Wawrinka spielt darin eine kleine Rolle.
In seinem normalen Leben hingegen schiebt er, der am 28. März seinen 40. Geburtstag feiert, alle Gedanken ans Alter weit von sich weg. Längst ist der dreifache Grand Slam-Champion der älteste Spieler auf der Profitour. Doch das Feuer lodert immer noch in ihm wie im Teenager, der nach oben strebte. Um sechs Uhr morgens, wenn noch alle schlafen, steht er in Monte Carlo bereits auf dem Court oder quält sich im Kraftraum. Obschon er schon längst niemandem mehr etwas zu beweisen hat.
Stan Wawrinka: Ein Champion aus dem Volk
Hätte man ihm als kleinen Jungen in Saint Barthélémy eröffnet, welch gloriose Karriere er im Tennis machen würde, er hätte sich nur die Augen gerieben. Die wichtigsten Eckdaten: Grand Slam-Titel in Melbourne (2014), Paris (2015) und New York (2016), der Triumph im Davis Cup (2014) in Lille, Doppel-Olympiagold in Peking (2008) mit Roger Federer, 16 Profititel und als bestes Ranking die Nummer 3. In einer Ära, wohlgemerkt, in der die großen Drei den anderen nur Brosamen übrig ließen.
Er hat Ihn!: Der Sieg an den Australian Open 2014 bei den grosse Durchbruch von Stan Wawrinka.Bild: Imago
Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic sind Außerirdische, ihre jahrelangen Höchstleistungen für Normalos nicht nachvollziehbar. Wawrinka hingegen ist ein Champion aus dem Volk. Einer, der viel Schweiß und viele Tränen vergoss und zahlreiche Rückschläge wegstecken musste, bis er zum Sieger werden konnte. Einer, mit dem man sich identifizieren und von dem man vieles lernen kann. Etwa, wie man Niederlagen in Siege umwandelt.
Stan Wawrinka bricht in Tränen aus
Eine meiner prägendsten Erinnerungen an Wawrinka ist denn auch eine seiner epischen Niederlagen. Anfang Februar 2013 verlor er im Davis Cup in der Genfer Palexpo-Halle das wegweisende Doppel gegen Tschechien in sieben Stunden und zwei Minuten. Wawrinka und Marco Chiudinelli unterlagen den favorisierten Tomas Berdych/Radek Stepanek nach zwölf abgewehrten Matchbällen mit 22:24 im fünften Satz. Dies, nachdem sich der Romand zuvor bei den Australian Open im Achtelfinale gegen Novak Djokovic mit 10:12 im entscheidenden Durchgang hatte beugen müssen.
Als in Genf die Fragen auf Wawrinka einprasselten und jemand wissen wollte, wie man so viele bittere Niederlagen innert kurzer Zeit wegstecken könne, brach dieser in Tränen aus. Die Radiojournalisten bekamen ihre Interviews nicht mehr. Wawrinkas Abgang unter Tränen löste Betroffenheit aus. Doch er fing sich schnell wieder und reagierte auf seine Weise. Er ließ sich auf seinen linken Unterarm ein Zitat des irischen Schriftstellers Samuel Beckett stechen: „Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuch es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.“
Niederlage gegen Djokovic eines der wichtigsten Spiele
Im Tennis-Podcast „Nothing Major“ der ehemaligen US-Spieler Sam Querrey, John Isner, Jack Sock und Steve Johnson blickte Wawrinka kürzlich auf seine Karriere und insbesondere auf jene Niederlage gegen Djokovic in Melbourne 2013 zurück. „Das war eines meiner wichtigsten Spiele“, sagte er. „Denn es war das erste Mal, dass ich realisierte, dass ich den besten Spieler der Welt so richtig bedrängen kann. Es war extrem schmerzhaft zu verlieren. Doch obschon ich verlor, betrachtete ich jene Partie als Sieg. In den Monaten danach wurde mir klar: Wenn ich mich noch ein bisschen mehr pushen kann, werde ich die Topspieler schlagen können.“
Gesagt, getan. 2014 bezwang Wawrinka auf dem Weg zum Australian Open-Titel im Viertelfinale Novak Djokovic (mit 9:7 im fünften Satz) und im Endspiel Rafael Nadal. Ein Champion war geboren. Aus „dem Schweizer, der verliert“ (Zitat Wawrinka), wurde „Stan the Man“. Und es war wohl kein Zufall, dass Wawrinka ausgerechnet dann neue Höhen erklomm, als „sein großer Bruder“ Federer schwächelte.
Stan Wawrinka: Tennis von einem anderen Stern im French Open-Finale 2015
Die eindrücklichste Leistung in meinen bald 30 Jahren als Tennisreporter erlebte ich in Roland Garros 2015, als Wawrinka im Finale Djokovic in vier Sätzen niederrang. Gegen den Defensivkünstler und Ausnahmeathleten wuchtete er damals 60 Winner ins Feld. Ich unterbreche kurz meinen Schreibfluss, um mir eine siebenminütige Highlight-Zusammenfassung jenes Duelles anzuschauen. Das muss jetzt sein. Ich rate Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, es mir gleichzutun. Es war Tennis von einem anderen Stern.
Kultige Shorts:
Die rot-weiß-grau karierten Shorts sind genauso legendär wie Wawrinkas Triumphzug an den French Open 2015.
Wawrinkas Metamorphose vom schüchternen Jüngling zum Champion, der die größten Tennisbühnen eroberte, darf uns als Inspiration dienen. Wenn es nebst den Worten Samuel Becketts ein Mantra gibt, an dem er sich orientiert, dann dieses: Vertraue dem Prozess. „Seit ich jung bin, pushe ich mich Tag für Tag“, sagte er kürzlich. „Denn das Einzige, was ich kontrollieren kann, ist das, was ich tue. Das war immer meine Denkweise: Versuche, die beste Version von dir selbst zu werden.“ Es hat ihn weit gebracht. Happy Birthday, Stan!