Novak Djokovic

Mentaler Härtetest: Novak Djokovic im Finale der US Open 2021 gegen den späteren Sieger Daniil Medvedev.

Im Kopf von Tennisprofis: Ist da wer?

Die Weltstars des Tennis sind umschwärmte Persönlichkeiten. Druck spornt sie nur an, Siege sind ihr Elixier. Wie es in ihnen menschlich zugeht, lassen Champions wie Novak Djokovic selten heraus. Was aber ist der Preis ihres Ruhms? 

Text: Rüdiger Barth
Erschienen in der tennis MAGAZIN-Ausgabe 1-2/2022

Die Rede ist von einer unerhörten Begebenheit: von den Tränen des Weltranglistenersten Novak Djokovic im Finale der US Open 2021, beim Stand von 4:5 im dritten Satz. Sie erzählten eine Geschichte, das war jedem, der es sah, sofort klar, aber es blieb rätselhaft: Was für eine Geschichte? Warum nur vermochte ihn der Applaus des Publikums so zu überwältigen? Neben Rafael Nadal und Roger Federer dominiert der Serbe das Profitennis seit 15 Jahren. Unerreicht ist die Fähigkeit dieser drei, nahezu jederzeit Höchststress in Höchstleistung umzuwandeln. Was sie auf dem Platz beherrschen, ist leicht zu erkennen. Was sie an Geld und Ruhm einstreichen, ist Legende. Djokovics Tränen aber erzwingen eine Frage, die selten gestellt wird und noch viel seltener beantwortet: Was ist der Preis, den Weltstars des Sports persönlich bezahlen? Präziser: Ist Novak Djokovic ein glücklicher Mensch?

Tennis, das ist ein gnadenloser Sport. „Schach auf der Flucht“, hat ihn mal Schriftsteller David Foster Wallace getauft, der einst in der amerikanischen Provinz selbst als begabter Spieler galt. Tennis liefert so viele Geschichten des Abgrunds, einerseits. Mardy Fish, der das namenlose Grauen bekam vor dem, was ihn da draußen im Stadion erwartete. Miloslav Mecir, der von unten aufschlug, weil er sich nicht mehr vorstellen konnte, von oben aufzuschlagen. Andre Agassi, der, als er erfuhr, dass er erstmals die Nummer eins der Welt geworden war, heulend durch Palermo lief, weil er wusste, er würde von nun an der Gejagte sein. Wenn man sich Andy Murray in der Dokumentation „Resurfacing“ anschaut, wie er nach dem dritten Kampfsieg in Folge nachts im Bett flüsternd von seinen Schmerzen erzählt, ist da vor allem Einsamkeit zu spüren. Im Hotel im Nirgendwo liegend. Der Gewalt des Spiels ausgeliefert. Seinem geschundenen Körper ausgeliefert. Den immerwährend kreisenden Gedanken ausgeliefert. Hätte ich nur, warum habe ich nicht?

Andererseits liefert Tennis wie wenig andere Sportarten triumphale Geschichten vom Gipfel. Die Besten da oben sind Grenzgänger. Vor 20.000 Menschen, deren kollektive Anspannung man selbst auf den Tribünen spürt, alles auszublenden und sich auf den Punkt fokussieren zu können, ist das noch Pioniertat, ist es Kunst, ist es ein Wunder? Mit hartem Training und Talent ist es nicht zu erklären, auch andere trainieren hart, manche sogar härter, und Talent haben viele. 

„Keiner ist im Kopf so stark wie Djokovic”

Rafael Nadal hat den außergewöhnlichen Körper und Roger Federer die außergewöhnliche schöpferische Begabung, es ist leicht zu sehen, warum sie Normalsterblichen überlegen sind. Bei Novak Djokovic liegt der Fall anders. Was macht ihn so gut? Mentalcoach Thomas Baschab, der lange mit Top-Profis gearbeitet hat, sagt: „Keiner ist im Kopf so stark wie Djokovic. Das ist für mich der mit Abstand mental stärkste Tennisspieler, den wir je hatten. Er akzeptiert nicht, dass er verliert. Und das verleiht ihm einen Fokus und eine Konzentrationsfähigkeit, die fast übermenschlich scheinen. Ich weiß nicht, was er macht. Aber er wird zur Bestie, wenn Druck kommt. Sein Selbstvertrauen kennt keine Grenze.“

Djokovic spielt gewöhnlich dann am besten, wenn es am dringendsten sein muss. Jeder, der ambitioniert Sport treibt, weiß: Die allermeisten Menschen erreichen in diesen Momenten nicht gerade ihre Hochform. Wer kennt sie nicht, die Zitterhand im Match-Tiebreak? „Das ist auch im Spitzensport ein normaler Effekt, wenn man unbedingt gewinnen will“, sagt Baschab. „Man redet zwar oft vom hohen Druck, aber dass er sich messbar körperlich auswirkt, wird völlig unterschätzt: Der Muskeltonus erhöht sich, die Handlungen verlangsamen sich, die feinmotorischen Fähigkeiten sinken. Ein verhängnisvoller Kreislauf kommt in Gang, der die Körpermechanik entscheidend beeinträchtigt: Der Ball, den ich eben noch sicher auf die Linie geschlagen habe, geht jetzt fünf Zentimeter aus.“

Novak Djokovic

Bitter: 27 von 28 Grand Slam-Partien hatte Novak Djokovic 2021 gewonnen. Der Traum vom Kalender-Grand-Slam platzte im
US Open-Finale.

Die Besten aber vermögen diesen Mechanismus auszuhebeln. Man nehme den Tiebreak des vierten Satzes im Halbfinale von Roland Garros 2021 zwischen Nadal und Djokovic, schon jetzt in die Annalen eingegangen. Mehr Härte, Präzision, Athletik, Hingabe, mehr Ideen sind kaum denkbar. Beide Spieler waren im Flow. Und wenn die begabtesten Spieler des Planeten im Flow sind, gleichzeitig, führt das zu einem Spektakel, zu nie gesehener Präzision, zu einem Aufschaukeln der Qualität. 

Ist das wer, hinter der Fassade?

„Ein Jahrhundertspiel“, nennt dies Thomas Baschab, aber wirklich beeindruckt hat ihn bei diesem Turnier etwas ganz anders. „Die größte Leistung überhaupt war, dass Djokovic zwei Tage später im Finale nach null zu zwei Sätzen gegen Stefanos Tsitsipas zurückgekommen ist. Denn er war doch nach dem Sieg gegen Nadal, den Seriensieger auf Sand, schon im Ziel. Das war eine übermenschliche mentale Leistung. Wie hat dieser Kerl das geschafft? Das würde ich gern wissen.“

Die Stars des Kalibers Djokovic reden selten über das, was sie im Innersten bewegt, und offen schon gar nicht. Die meisten ihrer Interviews sind eher nichtssagend, die meisten Biografien bleiben an der Oberfläche. So bleiben sie – gut für die Vermarktung – Projektionsfläche unserer Sehnsüchte, ihr wahrer Charakter bleibt verborgen. Viel Raum öffnet sich da zum Rätseln: Wieviel Persönlichkeit kommt da noch? Ist da wer, hinter der Fassade?

Wenige Schriftsteller haben sich so kundig Gedanken über das Geheimnis der Sportstars gemacht wie der Amerikaner David Foster Wallace. Seine These ist, auf einen Punkt gebracht, die: Ihre Biographien müssen oberflächlich sein, weil diese Sportler selbst oberflächlich sind – und genau deswegen so Erstaunliches vollbringen können. „Die wahre, vielfach verschleierte Antwort auf die Frage, was einem großen Sportler wohl durch den Kopf geht, wenn er sich im Zentrum des Lärms einer feindseligen Menschenmenge (…) aufstellt, lautet vielleicht: gar nichts. (…) Die Menschen, die die Gabe sportlicher Genialität empfangen haben und sie umsetzen können, sind notgedrungen blind und stumm ihr gegenüber – und das nicht, weil Blindheit und Stummheit der Preis der Gabe wären, sondern weil sie ihr Wesen ausmachen.“ Das ist, zum einem, brillant geschrieben. Das ist, zum zweiten, aus meiner Sicht falsch. 

Weltbeste Sportler ticken anders 

Ich habe, bei aller Bescheidenheit, eine andere Theorie: Dass diese Blindheit und Stummheit im Gegenteil, nicht das Wesen der Gabe, sondern tatsächlich ihr Preis sind. Als Reporter des Magazins stern habe ich viele Fußball-Nationalspieler und Spitzensportler erlebt. Ich saß in einem Privatjet dem damaligen Welttorwart Oliver Kahn gegenüber, der in anderthalb Stunden nicht ein Wort mit mir sprach; ich trafe viele Male Michael Ballack und freute mich, wie gut er Witze erzählen kann, drang aber niemals wirklich in seine Gefühlswelt ein, dahin, wo es spannend wird. Als Sportler habe ich selbst ordentlich Volleyball gespielt – 2. Bundesliga – und im Tennis der Senioren schon mal Leistungsklasse 12 geschlagen (aber auch gegen LK 20 verloren), und ich weiß, was Druck mit den eigenen Gedanken anrichten kann. Was ich vor allem weiß, ist dies: Die weltbesten Sportler sind im Kopf anders als wir alle. 

Novak Djokovic

Frust bricht sich Bahn: Die Zahlen sprachen im entscheidenen Major-Match 2021 gegen den Serben. Endstand gegen Medvedev: 4:6, 4:6, 4:6.

In ihrer Jugend mussten sie vor allem Wettkampfhärte und Ellenbogen ausbilden, keine soziale Ader, und Empathie schon gar nicht. Da sie früh einem gnadenlosen Leistungssystem ausgesetzt waren, fehlt ihnen oft jede grundlegende emotionale und intellektuelle Reifung. Selbst die Profis, die es einmal konnten, verlernen im Lauf der Zeit die simple Fähigkeit, andere zu fragen, wie es ihnen geht. Tennisspieler bezahlen zudem den ganzen Tross, der sie begleitet. Ihre ganze Welt kreist um sie, die Sonne. Wer da nervt, wird aussortiert. Also wagt kaum einer zu kritisieren, um den Inner Circle nicht verlassen zu müssen. Dieser Inner Circle ist eng gezogen. Und er muss es sein. 

Abkapseln als Überlebenstrick

Denn darum geht es den Stars: sich zu schützen vor all den Begehrlichkeiten der Fans, der Medien, der Sponsoren, der Geschäftemacher. Und so umgeben sie sich fast alle – Federer ist eine Ausnahme – mit einem Panzer, der sich um Jahresring um Jahresring weiter andickt. Durchzudringen ist kaum möglich. Was in ihnen vorgeht, wollen sie nicht sagen oder können es nicht sagen. Sie haben gelernt, ihre Gefühle, ihre Träume und Ängste zu verbergen. Ihr Misstrauen entspringt ihrem Überlebenstrieb. Abkapseln ist ihr Überlebenstrick. Wer ihnen im Vorübergehen begegnet, meint oft in ihrem Blick keine Seele erkennen zu können, sie schauen durch die Menschen hindurch.

Andy Roddick, der frühere Weltranglistenerste, beschreibt das Dilemma in einer Dokumentation über seinen Kumpel Mardy Fish so: „Je größer der Einsatz wird, desto größer wird die Verantwortung. Du lässt dich so auf die Sache ein, dass es körperlich weh tut, wenn du nicht gewinnst. Die psychologische Seite ist brutal. Da warten die größten Herausforderungen in deinem Leben, und du bist alleine, auf einer Insel, ganz auf dich gestellt. Dort zu sein ist schrecklich. Du hast diese wahnsinnigen Gefühle, aber du kannst nicht darüber reden.“

Der Preis des Kampfes um den Gipfel ist demnach tatsächlich nichts anderes als Einsamkeit. Wie kann man das aushalten? Basketball ist ein Teamsport, aber der unvergleichliche Solist Michael Jordan wäre wohl auch ein brillanter Tennisspieler geworden. In der fabelhaften Netflix-Serie „The last dance“ fragt ihn der Reporter, was es ihn gekostet habe, seine Mitspieler unbarmherzig zu Siegen zu treiben, und Michael Jordan, der noch immer ein Selbstvertrauen ausstrahlt, das nicht von dieser Welt ist, kämpft mit den Tränen und bricht das Interview ab. Der Panzer bleibt. 

Djokovic: „Es ist ein Wirbelsturm der Emotionen”

Nur manchmal, da geht ein Fenster auf. Nach seinem Halbfinale gegen Alexander Zwerev bei den US Open, da sagte Novak Djokovic: „Ihr wollt nicht wissen, was in so manchen Momenten durch meinen Kopf geht, es ist ein Wirbelsturm der Emotionen, und man ist allein auf dem Platz. Es gibt kein Entkommen, man muss da durch.“ Und er fügte hinzu: „Es gibt keinen Zaubertrank, keine Geheimformel. Man braucht eine Balance aus Körper und Geist, und ich arbeite seit Jahren intensiv daran.“

Zwei Tage später fand er jedoch die Balance nicht. Zwei Tage später wollte Djokovic den Russen Daniil Medvedev schlagen und erster männlicher Grand Slam-Sieger seit Rod Laver werden, mehr als 50 Jahre danach. Im dritten Satz des Endspiels heißt es 2:5, es steht null zu zwei nach Sätzen, Djokovic wirkt völlig neben sich, es ist eine Demontage. Da gelingt ihm unverhofft ein Break, er hält seinen Aufschlag, Tausende New Yorker jubeln und brüllen und tragen ihn plötzlich auf einer Woge der Zuneigung, und der Serbe lächelt plötzlich, er schlägt sich mit der Faust auf die Brust, da, wo das Herz sitzt, dann setzt er sich beim Seitenwechsel auf seinen Stuhl. Und fängt an zu weinen. Er weint immer noch, als Medvedev zum Sieg aufschlägt.

„Ich habe etwas gefühlt, was ich noch nie in meinem Leben hier in New York gefühlt habe“, sagte Djokovic danach, „an die Unterstützung und Energie und Liebe der Fans werde ich mich auf ewig erinnern. Das Gefühl war so stark, wie 24 Grand Slams zu gewinnen. Ganz ehrlich, sie haben mein Herz berührt. Es war einfach wunderbar.“ 

Druck ist nichts anderes als Angst

Für einen erfahrenen Mentaltrainer ist der Vorfall ein Faszinosum. Thomas Baschab ist ein guter Erzähler, er holt erst einmal aus. Was denn das Wesen des Drucks sei, von dem so viele Sportler reden und den so wenige ergründen? Druck ist demnach nichts anderes als Angst. Die Angst zu versagen. Die Angst, sich selbst nicht zu genügen. Die Angst, sich vor den Augen der Welt zu blamieren. Das Gegenteil von Angst aber sei nicht Mut. Baschab sagt: „Das Gegenteil der Angst ist Liebe.“ Und daher gibt er seinen Kunden, den Topsportlern, wenn die vor dem wichtigsten Wettkampf ihrer Karriere stehen, einen auf den ersten Blick irrationalen Rat: „Vergiss das Resultat. Mach es aus Dankbarkeit, dass du jetzt hier stehen darfst. Mach es aus Liebe.“

Als Djokovic das Finale gegen Medvedev so gut wie verloren hatte, zerschellt war an seinem Traum vom Grand Slam, da erhielt er Ovationen der New Yorker Fans, deren Ablehnung er zuvor so oft gespürt hatte. Erstmals in seinem Leben erreichte ihn eine Liebe, die ihm zuvor als unerreichbar erschienen war. „Die Liebe ist die stärkste Kraft“, sagt Thomas Baschab. „Das hat ihn kapitulieren lassen.“ Den Mann, der an der Spitze so lange schon das aushält, was Roddick, Jordan und die anderen zermürbte, ihn, den sonst nichts zu knacken vermag, hat die Liebe der Zuschauer geknackt. Man darf sich den Novak Djokovic des 12. September 2021 im Augenblick seiner Niederlage als glücklichen Menschen vorstellen.

Über den Autor

Als langjähriger Sportreporter des stern erlebte Rüdiger Barth in vielen Interviews, wie verschlossen sich Sportstars gaben und dass sie intuitiv misstrauisch wurden, wenn man sich ihnen für ein Porträt zu nähern versuchte. Irgendwann entschied er sich, dass er selbst ergründen musste, wie es im Inneren solcher Athleten zugeht – und schrieb den Roman „Das Haifischhaus“ (Heyne), in dem er vom dramatischen Comeback einer ehemaligen Nummer eins des Welttennis erzählt. Der 49-Jährige ist Mitgründer und Personalchef der Storytelling-Agentur Looping Group, die aktuell u.a. eine auf dem Buchstoff basierende TV-Serie entwickelt.men’s jordan retro release dates | 1576 nike air jordan 1 grises y negras