Meine Zeit mit Rafael Nadal
Unser Autor hat seine gesamte Kindheit damit verbracht, Rafael Nadal nachzueifern. Mittlerweile erwachsen ist er zwar schon lange kein Fan mehr – nostalgisch wird er zum Abschied aber trotzdem.
Nun stehst du da und weinst. Und die gesamte Tenniswelt weint mit dir. Aus Traurigkeit, dass es vorbei ist. Aus Freude, dass es passiert ist. So manch einer deiner Gegner wohl auch aus Erleichterung, weil du nun nicht mehr auf der anderen Seite des Netzes stehen wirst. Auf der Gewinnerseite. Auf der Seite der Rekorde für die Ewigkeit. Ich weine nicht mit dir. Aber mein 10-jähriges Ich, das immer noch irgendwo tief in mir schlummert, heult sich gerade die Augen aus dem Leib.
Wir haben uns irgendwann aus den Augen verloren, du und ich. Naja… ist ja nicht so, als wäre ich jemals in deinem Blickfeld gewesen. Du in meinem dafür umso mehr. Ich bin mit dir aufgewachsen, du warst mein großes Idol. „King of Clay“ prangte in geschwungenen Buchstaben auf dem gerahmten Poster, das prominent an der Wand über meinem Bett hing. Beinahe in Lebensgröße sahst du jeden Morgen und jeden Abend auf mich herab. Als wäre das nicht genug: darunter noch eine kleine Collage. Einzelne, ausgedruckte Fotos aus der Google-Bildersuche, fein säuberlich ausgeschnitten, mit Klebestift auf einer DIN A4-großen, blauen Pappe befestigt.
Mir ging es wie wohl so vielen jungen Tennisspielern weltweit zu der Zeit: Ich wollte nicht nur zu dir aufblicken, ich wollte auch so sein wie du. Ich habe mir die Haare lang wachsen lassen, um wie du auszusehen – obwohl es im Nachhinein betrachtet wahrlich etwas lächerlich aussah. Ich war eben nicht der feurige Spanier, der die Herzen der Fans im Sturm eroberte, sondern nur ein pickliger, pubertierender, deutscher Junge mit langen Haaren. Meinem Status in der Schule war das kaum zuträglich.
In meinen Träumen der nächste Rafael Nadal
Und meine blassen, dünnen Ärmchen kamen in dem weißen Muskelshirt und der Dreiviertelhose, in der du deinen ersten Wimbledontitel gewonnen hast, auch, sagen wir mal, nicht hundertprozentig so zur Geltung wie deine Pakete als Oberarme. Genauso wenig hat es etwas gebracht, bei jedem Schlag genauso zu stöhnen wie du, als meine Mondbälle vielleicht mit einem Drittel deiner Geschwindigkeit und einem Hundertstel deines Spins übers Netz geflogen sind. In meinen Gedanken und Träumen hat aber nicht viel gefehlt und ich wäre der nächste Rafael Nadal gewesen. Nur eben nicht von der Mittelmeerinsel Mallorca, sondern aus einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen – wo es ja bekanntlich fast genauso schön ist wie in Manacor.
Nicht nur einmal habe ich mich gefragt, warum meine Trainer früher nicht auch so smart waren, mich vom Rechtshänder zum Lefty umzuschulen – was für Idioten. So konnte ich gar nicht eins zu eins deine Vorhandpeitsche nachahmen (oder es zumindest versuchen), nachdem ich mir das viel zu große Bandana auf meiner Stirn gerichtet habe. Blöderweise habe ich mir in meiner Jugend nicht nur deine Vorhand und deinen Kampfeswillen abgeguckt, sondern selbst deine Aufschlagschwäche. Was man nicht alles macht für sein großes Idol.
Dafür, dass du so ein großer Teil meiner Kindheit warst, sind meine Erinnerungen erstaunlich lückenhaft, wenn ich an das eine Mal zurückdenke, bei dem ich dich live im Stadion gesehen habe. Damals in Hamburg, als das Turnier am Rothenbaum noch Klang und Namen hatte, hast auch du dir noch die Ehre gegeben, dort aufzuschlagen. Nach einer Trainingssession wollte ich dich abfangen, meine Kappe neben dem Gekrakel von Nikolay Davydenko und Tommy Haas mit dem Autogramm aller Autogramme veredeln – nur blöd, dass ich mit dieser Idee überraschenderweise nicht alleine war.
Ein Autogramm, das die Welt bedeutet
Mein kleines, schüchternes Ich wurde in der Menschentraube immer weiter nach hinten gedrängt, du hast neben mir in die Menge gegriffen und übergroße Tennisbälle, neu gekaufte Tennistaschen und etliche Kappen von anderen Fans unterschrieben – nur meine nicht. Meter um Meter hast du dich von mir entfernt. Meine wahrscheinlich jemals einzige Chance auf ein Autogramm von dir habe ich schon dahinschwinden sehen, meine Welt war schon auf halbem Wege, zusammenzubrechen.
Ich bin meiner Mutter bis heute dankbar, dass sie mir schließlich die Kappe aus der Hand gerissen und sich durch die Masse an Menschen bis ganz vorne durchgekämpft hat, um sie dir in die Hand zu drücken. Nur damit mein junges, naives Ich die kostbare Cap mit deinem Kürzel bei jedem einzelnen Mal, das ich danach auf den Court gegangen bin, und bei Wind und Wetter aufgesetzt und durchgeschwitzt hat, bis sie irgendwann komplett durchgesifft war. Meinem jungen Ich war das aber reichlich egal. Durch dein Autogramm auf meinem Kopf warst du im Geist jahrelang bei jeder meiner Vorhände, bei jedem Sieg und jeder Niederlage dabei. Und das war mir viel wichtiger, als eine saubere Cap irgendwo im Schrank versauern zu lassen.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Ich bin aus dem Kinderzimmer mit dem „King of Clay“-Poster ausgezogen und aus meiner Fanboy-Haut gewachsen. Du hast dich auf den Weg gemacht, deinem Status als einer der „greatest of all times“ des Tennissports alle Ehre zu machen. Ich habe andere Profi-Spieler gesehen und schätzen gelernt. Du hast dich durch Verletzungen und Rückschläge gequält, scheinbar den richtigen Moment für den Absprung von deiner aktiven Karriere Mal um Mal verpasst. Trotz allem ist für dich stets ein besonderer Platz in meinem Herzen reserviert gewesen. Jetzt ist auch die letzte Abschiedstour, dein letztes Olympia, dein letzter Davis Cup, dein letzter Auftritt als lebende, aktive Legende vorbei.
Rafas Karriere war meine Jugend
Wie im Zeitraffer ist unser gemeinsamer Weg vor meinem inneren Auge vorbeigezogen, als ich dich dort in Málaga habe stehen sehen. Als wenn jemand gestorben wäre, der mir nahe stand – wie absurd. Es ist doch bloß eine Karriere, die jetzt vorbei ist. Und ich konnte mich in den letzten Jahren schon gar nicht mehr als richtigen Fan bezeichnen. Aber vielleicht ist dieses Karriereende auch ein Zeichen für mich: Meine Verbindung zu dir und deiner Karriere war quasi meine Jugend. Die Vorboten dafür, dass sie eigentlich schon längst zu Ende gegangen ist, hatte es schon lange gegeben – genauso, wie meine Fanschaft zu dir sich schon langsam aber sicher ausgeschlichen hatte. Jetzt ist es aber so endgültig. Und das ist ein komisches Gefühl. Ich bin mir sicher, vielen in meiner 90er Jahre-Generation geht es ähnlich.
Als ich klein war, wollte ich dir zu einem deiner Geburtstage mal einen Brief schicken. Mein Bruder hat mich ausgelacht: „Klaaar, du bist bestimmt der einzige auf der Welt, der das macht.“ Ich habe mich ein bisschen geschämt für meine Naivität und dann doch nichts zu Papier gebracht. Diese Zeilen jetzt zu deinem Karriereende sind nicht weniger naiv als damals. Richtig fühlen sie sich aber trotzdem an.
Nun habe ich doch eine kleine Träne in meinen Augenwinkeln. Und die kommt nicht von meinem 10-jährigen Ich. Danke für meine Kindheit, Rafa! Danke für meine Jugend! Dank dir ist sie wie im Flug vergangen. Ich bin zwar ein bisschen eifersüchtig, dass du den Abschiedsbrief von Roger lesen wirst und meinen nicht. Aber das ist okay.