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Im Rahmen des Gala-Abends der Alexander Zverev Foundation sprach Mischa Zverev mit tennis MAGAZIN.Bild: Jahr Media

Mischa Zverev: „Mitleid mag Sascha gar nicht“

2022 machte Alexander Zverev seine Diabetes-Erkrankung öffentlich und gründete im gleichen Zug die Alexander Zverev Foundation. Wer ihn dabei unterstützte? Unter anderem sein älterer Bruder Mischa Zverev. Im Interview mit tennis Magazin spricht der 36-Jährige über die Krankheit seines Bruders und warum er glaubt, dass Diabetes ihn noch stärker gemacht hat. Außerdem erzählt der ehemalige Top-30-Spieler, wie es um seine Tenniskarriere steht.

Mischa, mit deinem Bruder Alexander haben wir bereits umfassend über seine Diabetes-Erkrankung gesprochen. Uns interessiert aber noch eine weitere Sichtweise der Dinge. Kannst du dich noch an den Moment erinnern, als eure Familie die Nachricht mit der Diagnose erhalten hat?
Leider ja. Das war am Hochzeitstag meiner Eltern, 2. November, ich glaube 2001. Ich war in der Schule und habe die Geschichte dann am Abend gehört. Meine Eltern waren beim Arzt. Dort ist Sascha auf einmal ohnmächtig geworden und umgekippt. Sie sind ins Krankenhaus gefahren, haben viele Tests gemacht. Kurze Zeit später kam die Diagnose: Der Blutzucker ist sehr hoch. Das heißt Diabetes.

Ich war damals 14, deshalb war mir nicht ganz bewusst, was das bedeutet. Aber an der Reaktion meiner Eltern konnte ich erkennen, dass es etwas Schlimmes war. Sie waren am Boden zerstört, vor allem die ersten Tage. Mittlerweile ist es über 20 Jahre her. Damals war Diabetes etwas komplizierter. Es gab keine Sensoren und nicht dieses Wissen, das man jetzt hat. Damals hieß es von den Ärzten: „Profi-Sport – keine Chance! Um die Welt reisen? Das ist zu kompliziert. Lasst uns mal hoffen, dass er ein normales Leben führen kann.“

Mischa Zverev: „Besondere Menschen haben besondere Aufgaben“

Wie sind deine Eltern damit umgegangen?
Alleine so eine Diagnose der Ärzte ist für die Eltern noch schlimmer als für das Kind. Das Kind versteht noch weniger. Es schaut auf die Eltern und sieht, dass sie besorgt sind. Wenn die Eltern entspannt sind, ist auch die Gemütslage des Kindes etwas entspannter. Das war ein harter Schlag für alle. Aber ich war Gott sei Dank relativ jung und naiv genug, um zu sagen: „Der wird alles schaffen. Das ist gar nicht mal so schlimm. Wir achten nur ein bisschen auf die Ernährung.“ Wie ich halt so naiv damals war. Aber irgendwie wusste ich immer, dass er das schafft. Ich habe immer zu meiner Mama gesagt: „Besondere Menschen haben besondere Aufgaben im Leben.“ Sascha hat eben eine besondere Aufgabe bekommen.

Wie ging es für euch weiter?
Sascha musste eine Woche im Krankenhaus bleiben. Man musste die Einstellungen machen: Wie viel Insulin muss man spritzen? Was darf er essen, was soll er essen? Aber ich habe versucht, ganz normal weiterzuleben. Bei unseren Eltern war der Versuch da, normal zu leben. Aber klar, die erste Frage, die man Sascha stellt, ist immer: „Wie ist dein Zucker? Wie ist der Wert? Was hast du gegessen? Was hast du gespritzt?“ Ich glaube, genau das macht einen jungen Menschen bzw. ein Kind eher krank als die Krankheit selbst. Er merkt es, wenn die Menschen um ihn herum wirklich Angst um ihn haben.

Mischa Zverev: „Die Krankheit sollte nicht unser Leben kontrollieren“

Wie hast du das Ganze gehandhabt?
Ich habe es anders gemacht. Meine Frage war immer: „Wie war es in der Schule? Wie ist deine Vorhand? Wie ist deine Rückhand? Was wollen wir machen?“ Ich habe ihn normal behandelt. Die Krankheit habe ich vergessen. Für ihn war es gut, nicht zum 100. Mal an diesem Tag die gleiche Frage zu bekommen. Damit haben wir versucht, normal weiterzuleben. Wir haben früh angefangen zu reisen, er war mit sechs Jahren schon in Australien. Ich habe dort Turniere gespielt, er ist mitgekommen.

Wir waren jeden Tag schwimmen und haben wirklich ein normales Leben geführt, mit ganz viel Sport. Das war sogar hilfreich in der Hinsicht. Die größten Einschränkungen gab es bei einem Kindergeburtstag. Wenn die Torte kam und sein Zucker ein bisschen zu hoch war, musste er warten oder spritzen. Aber sonst haben wir ganz normal Sport gemacht, Fußball gespielt, sind um die Welt gereist und hatten viel Spaß miteinander.

Du hast gesagt, du bist naiv an die Geschichte herangegangen. Kam irgendwann ein Realitätsschlag, dass es doch anders sein könnte?
Immer mal wieder, klar. Man versteht, was es für eine Krankheit ist. Man weiß, was das alles verursachen könnte und wie gefährlich es ist, wenn der Blutzuckerspiegel fällt oder extrem steigt. Da muss man wirklich aufpassen. Trotzdem sollte die Krankheit nicht unser Leben kontrollieren oder uns vorsagen, wie wir unser Leben zu leben haben. Das war meine Einstellung von Anfang an bis jetzt. Er spielt manchmal fünf Sätze über vier Stunden oder wie in Turin als er drei unfassbare Sätze gegen Carlos Alcaraz gespielt hat. Aber dieser Gedanke, dass er ja Diabetes hat oder wie sein Zucker ist, der kommt nie in meinen Kopf.

Mischa Zverev: „Mitleid mag Sascha gar nicht“

Gab es irgendwann die Überlegung aufzuhören, weil die Ärzte das empfohlen haben?
Nein, auf keinen Fall. Ich wusste, dass er es schaffen kann und es machbar ist. Ich habe mit ihm tagtäglich zusammengelebt und wusste, wie Sascha ist, zu Hause, auf dem Platz, im Alltag. Es war ja nicht so, dass er im Bett liegt und sich nicht bewegen kann, verletzt ist oder keine Kraft hat. Er kann ein normales Leben führen, bloß: Er muss aufpassen, wann er was isst. Okay, dann gibt es leider diese Spritzen ab und zu. Aber das gehört zum Alltag.

Klar, manchmal tut er mir auch leid, weil es nicht immer einfach ist. Aber Mitleid mag er gar nicht. Deshalb hat er bis heute in seiner Karriere nie Diabetes, Zucker oder sonstiges als Ausrede benutzt, auch wenn es manchmal der Fall war. Wenn du spielst und der Blutzucker ist zu niedrig oder zu hoch, gibt es Phasen, wo du müde bist. Aber es war nie eine Ausrede für ihn und nie eine Option, das als Ausrede zu benutzen.

Würdest du sagen, dass die Krankheit ihn noch stärker gemacht hat, als wenn er zu 100 Prozent gesund gewesen wäre?
Ja, vor allem, was die Motivation angeht und diesen Willen, den er auf dem Platz, im Training und im Sport allgemein hat. Die Krankheit hat ihn als Menschen noch stärker gemacht. Sie hat ihm geholfen, sich vor anderen Meinungen abzuschirmen. Gerade das Erwachsenwerden ist nicht einfach, du hast Social Media und die ganzen Leute, die versuchen, kluge Ratschläge zu geben. Mit Diabetes ist das Ganze noch komplizierter. Aber er ist da mittlerweile so stark, dass er weiß, was für ihn gut ist.

Mischa Zverev: „Saschas Gemüt hat mir geholfen, das Beste aus mir rauszuholen“

Was hast du von deinem kleinen Bruder gelernt?
(lacht) Ich habe gelernt, dass man echt unglaublich viel erreichen kann, mit seinem Körper, mit dem, was man hat. Man kann das gar nicht vergleichen, aber ich war ein paar Mal verletzt und habe gedacht, dass ich es nie wieder schaffen werde. Aber Sascha war derjenige, der gesagt hat: „Doch, du wirst es schaffen, du kannst es schaffen. Glaub an dich und deine Stärken. Du musst arbeiten und daran Spaß haben.“

Nach meiner Verletzung war es seine Naivität und sein Gemüt, das Leben positiv zu sehen und immer an sich zu glauben, das mir geholfen hat, das Beste aus mir rauszuholen. Nach meiner Verletzung habe ich das Viertelfinale bei den Australian Open erreicht, stand auf Platz 25 in der Welt. Das war alles nach den ganzen Verletzungen, die ich hatte und eigentlich schon aufhören wollte. Da konnte ich schon einiges von ihm lernen.

Mischa Zverev, Diabetes

Mischa Zverev im Interview mit Franziska Brülls, Head of Online tennis MAGAZIN.Bild: Jahr Media

Mischa Zverev: „Kinder werden erwachsener, aber Eltern irgendwann nicht mehr“

Ihr lebt und arbeitet sozusagen in einem Familienunternehmen. Was macht eure Familie so stark?
Wir sind eine Art kleines Familienunternehmen. Aber wir können gut miteinander, sowohl im Geschäft als auch auf dem Platz und außerhalb des Platzes. Wir verbringen viel Zeit miteinander. Wir sind als Familie so stark, weil wir auch genau wissen, wie es funktioniert. Wie funktioniert der Tennissport und wie funktioniert auch die Familie außerhalb des Platzes.

Wir verstehen uns alle gut, nicht nur im Sinne davon, dass wir uns mögen, sondern haben ein Verständnis dafür, was jeder in verschiedenen Momenten braucht. Wie kann man helfen? Wann kann man sich einfach zurückziehen? Diese Dynamik, die sich permanent bewegt und die Beziehung, die wir haben, die sich auch über die Jahre entwickelt und wächst, ist in unserer Familie extrem wichtig. Oft merke ich das auch bei anderen: Die Kinder werden erwachsener, aber die Eltern irgendwann nicht mehr oder kommen nicht so gut mit. Bei uns war es immer ziemlich interessant. Tennis verbindet uns und wir lieben es einfach, gemeinsam Zeit zu verbringen.

Mischa Zverev: „Sascha musste in die Rolle hineinwachsen und stark genug sein“

Welche Rolle spielst du in der Alexander Zverev Foundation?
Ich habe viele und wenige Rollen gleichzeitig. Es ist die Stiftung meines Bruders. Die wurde wegen seiner Krankheit ins Leben gerufen. Ich will es gar nicht als Krankheit bezeichnen, einfach Diabetes. Wir sind als Familie engagiert, aber diese täglichen Aufgaben übernehmen z.B. Thomas Kopp und Götz Rittner (Anm. d. Red. Geschäftsführer der Stiftung) und Klaus Eberhardt für uns. Den Gala-Abend im Tannenhof haben sie allein auf die Beine gestellt. Wenn es um Entscheidungen und Richtungen geht, sprechen sie natürlich mit mir und mit Sascha. Am Ende ist es Saschas Entscheidung.

Ich versuche, die weniger großen Entscheidungen zu übernehmen, minimal die Richtung anzugeben und einfach zu schauen, dass es funktioniert. Ich spreche bestimmte Projekte an, werfe Ideen in den Topf und sorge dafür, dass sich das weiterentwickelt. Die großen Entscheidungen trifft Sascha, die anderen machen das Alltagsgeschäft und ich bin irgendwo dazwischen. Mal ist das Pizza bestellen, mal ist es zu sagen, wann wir ein Event machen.

 

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Es hat lange gedauert, bis ihr mit dem Thema an die Öffentlichkeit gegangen seid. Wie hast du den Prozess wahrgenommen?
Ich war schon etwas früher bereit. Aber Sascha musste in diese Rolle reinwachsen. Er musste stark genug und einfach bereit sein, darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen. Er wollte den Leuten beweisen, dass man mit Diabetes der beste Tennisspieler der Welt sein kann, ein Grand Slam gewinnen und die Nummer eins werden kann. Das war sein Ziel: „Ich möchte alles erreichen und dann rauskommen. Weil ich nicht möchte, dass die Leute es als Begründung oder Entschuldigung sehen, dass ich das alles nicht geschafft habe.“

Er war kurz davor, die Nummer eins der Welt zu werden, stand im Grand Slam-Finale. Aber irgendwann war es trotzdem der Zeitpunkt, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir versuchen ja, anderen Menschen zu helfen. Das ist das Wichtigste. An die Öffentlichkeit gehen, ist die eine Sache. Aber du kannst viel mehr damit bewirken: Du kannst Eltern und Kindern helfen, sogar Menschenleben retten. Gerade in Entwicklungsländern, wo nicht ausreichend Medikamente vorhanden sind, kann man viel Gutes tun. Deswegen war es an der Zeit zu sagen, wir wollen jetzt damit anfangen.

Mischa Zverev: „Ich versuche, Menschen ein Lächeln zu schenken“

Was haben eure Eltern euch mit auf den Weg gegeben in Bezug auf die Krankheit?
Den Satz, den ich immer Mama gesagt habe und den ich auch sehr gerne anderen sage: „Besondere Menschen haben besondere Aufgaben.“ Jeder hat seinen eigenen Weg, den er gehen muss und seine Aufgaben im Leben, was auch immer das sein mag. Bei Sascha ist es, Menschen zu zeigen, was man alles erreichen kann. Er kann zeigen, dass andere dir keine Grenzen setzen sollten, nur du selbst kannst dir welche setzen. Mit viel Liebe, mit Disziplin, mit Ehrgeiz und der Familie kann man Berge bewegen.

Was ist deine besondere Aufgabe?
Das weiß ich nicht. Vielleicht einfach nur, großer Bruder zu sein. Das müsst ihr vielleicht andere fragen. Ich versuche, da zu sein, etwas Gutes zu tun, Tennis zu spielen und Menschen ein Lächeln zu schenken.

Mischa Zverev

2017 erreichte Mischa Zverev bei den Australian Open das Viertelfinale.Bild: Getty Images

Mischa Zverev über seine Karriere: „Liebe diesen Sport. Das werde ich hoffentlich nie aufgeben“

Wie steht es denn um deine Tenniskarriere?
(atmet laut und grinst). Momentan nicht gut. Ich habe nicht viel Zeit. Wenn ich Turniere spielen möchte, muss ich vorher mindestens zwei bis drei Wochen trainieren. Dann bin ich ein oder zwei Wochen weg. Das sind also vier bis fünf Wochen am Stück, die ich momentan nicht habe. Ich kann nicht sagen, dass ich erst mal für zwei bis drei Wochen weg bin, keine Termine habe und jetzt selber Tennis spiele.

Vielleicht geht das irgendwann in der nahen Zukunft wieder, in der weiten Zukunft wahrscheinlich auch nicht, dann bin ich zu alt. Aber momentan genieße ich das, was ich tue, bei solchen Events dabei zu sein, mich um die Stiftung zu kümmern, meinen Bruder, verschiedene Projekte, Start-ups. Ein bisschen bin ich ein Entrepreneur. Es gibt viele interessante Projekte, die ich gerne mache. Ich habe auch noch meine eigene Familie, eine Frau, zwei Kinder.

Deine Karriere hängt also noch nicht am Nagel?
Noch nicht. Aber was ist schon offiziell am Nagel hängen? Als Tennisspieler wird man nie die Karriere komplett aufgeben. Es sei denn, man ist verletzt und kann nicht mehr Tennisspielen. Wenn man sich John McEnroe anschaut, wird man immer diese Leidenschaft haben, dieses Feuer in sich, spielen zu wollen. Ob das jetzt große oder kleine Matches sind. Manchmal geht es wirklich nur um Trainingssätze. Ob ich jetzt vor 20.000 Zuschauern spiele oder in einer Trainingshalle vor zwei Zuschauern, will ich gewinnen. Ich liebe diesen Sport. Das werde ich hoffentlich nie aufgeben.