Rafael Nadal: Wie er beim Davis Cup 2004 zu Spaniens Ikone wurde
Rafael Nadal erlebte beim Davis Cup-Finale 2004 in Sevilla vor einer Rekordkulisse von 27.200 Zuschauern seine Geburtsstunde als Spaniens neuer Sportheld.
(Diese Reportage erschein im Dezember 2004, in Heft 1-2/2005!)
Der Holzboden der Tribüne vibriert. Ein Höllenlärm ertönt, ganz so, als ob ein Flugzeug abheben würde. Die Zuschauer fallen sich in die Arme, tanzen und schreien vor Freude. Weit unten, und doch mitten unter ihnen, sinkt Rafael Nadal zu Boden, legt sich auf den roten Tennisplatz, stemmt die Fäuste nach oben. Er, die Nummer 51 der Welt, hat gerade Andy Roddick, Nummer zwei der Weltrangliste, geschlagen und Spanien 2:0 im Davis Cup-Finale 2004 gegen die USA in Führung gebracht. Dies ist der Grundstein zum 3:2-Sieg und insgesamt zweiten Davis Cup-Titel für Spanien in Sevilla. Ein guter Grund für die tennis- und feiersüchtigen Sevillanos richtig auszuflippen.
Davis Cup als Volksfest in Spanien
Davis Cup hat in Spanien Volksfestcharakter. Als deutscher Gast kennt man diese Euphorie kaum noch. Aber es gibt sie. In Sevilla bekommt man den Eindruck, als würde die ganze Stadt brodeln – so erhitzt ist die Stimmung. Offiziell hatte sich der spanische Tennisverband (RFTE) für die andalusische Hauptstadt ent-schieden, weil sie im Gegensatz zu Madrid auf Meeresniveau liegt und so die Hauptwaffe der amerikanischen Einzelspieler, den Aufschlag, entschärfen soll-te. Physikalische Gesetzmäßigkeiten – als es soweit ist, interessiert sich niemand mehr dafür. Denn in Sevilla lebt jenes begeisterungsfähige Publikum, das sich jede Stadt, jedes Land, für ein Endspiel wünscht und das jede Gesetzmäßigkeit mit seinem Enthusiasmus außer Kraft setzt.
Hier, im Estadio Olimpico de la Cartuja, feiert die größte Zuschauerzahl, die jemals ein Tennismatch verfolgt hat. 50 Jahre hat es gedauert, um den bisherigen Rekord vom White City Stadium im australischen Sydney zu brechen. Damals schauten 25.578 Fans zu, als die Amerikaner den Davis Cup zurück in die USA holten. In Sevilla sind es 1.622 Zuschauer mehr: genau 27.200.
Der Geist der glorreichen Vergangenheit – das US-Team beschwor ihn vor der Partie in Spanien, um sich die großartigen Zeiten von früher vor Augen führen zu lassen. Zwar erreichten die Amerikaner von 92 Davis Cup-Wettbewerben 60-mal das Finale (Rekord!) und holten den Pott 31-mal (ebenfalls Rekord!). Doch der letzte Triumph liegt weit zurück: 1995 gewann Pete Sampras drei Matches gegen Russland. Seitdem warten die Amis auf bessere Tage. In Gestalt der Veteranen Tony Trabert (74) und Vic Seixas (81) wollte der US-Verband bei einem Treffen in New York City die alten Zeiten wieder aufleben lassen. Trabert und Seixa erzählten, wie sie es 1954 fertigbrachten, vor dieser riesigen australischen Monsterkulisse zu bestehen. Ihr Rat an das junge Team von 2004: „Glaubt an euch, dann schafft ihr es.“
„So etwas habe ich noch nie erlebt“
Vergebens. Das, was die Jungs dann in Sevilla erwartete, übertraf die kühnsten Erwartungen und pulverisierte sämtliche Vorwarnungen. Andy Roddick, der gegen Nadal eines der besten Matches seiner Karriere auf Sand bestritt und verlor, fand kaum Worte für die Atmosphäre auf dem Platz. „So etwas habe noch nie erlebt“, stammelte der 22-Jährige geschockt ins Mikrofon. Roddicks Showtalent im Umgang mit der Öffentlichkeit blitzte erst wieder auf, als er auf die Frage „Was werden sie ihren Enkelkindern von Sevilla erzählen?“ antwortete: „Mann, ich habe im Moment noch nicht einmal eine Freundin!“
Nicht einmal Freunde schien Roddick in seinem verbissen geführten Match gegen Nadal zu haben, bei dem allein der dritte Satz 85 Minuten dauerte und zehn von zwölf Aufschlagspielen über Einstand gingen. Die Spanier machten sich jedesmal über ihn lustig, wenn sein gefürchteter erster Aufschlag nicht kam. Ein langgezogenes „Oooooh!“ schlug ihm entgegen, während er sich für das zweite Service vorbereitete. Stuhlschiedsrichter Mike Morrissey hob wie ein Prediger beide Arme hoch, als ob er seiner Gemeinde den Segen erteilen wollte und versuchte, die aufgebrachte Menge zu beschwichtigen – ohne Erfolg.
Einmal drohte das Match komplett zu eskalieren. Roddick hatte bei eigenem Aufschlag im dritten Satz Spielball zum 2:2, verschlug einen einfachen Volley und monierte, dass ihn eine Trompete gestört hätte. Morrissey ließ den Ball wiederholen. Plötzlich standen alle Zuschauer auf, pfiffen laut und zeigten mit ihren Fingern auf eine winzige US-Fangemeinde, von der der störende Laut ausgegangen sein sollte. Das Pfeifkonzert nahm eine bedrohliche Lautstärke an, und erst als Spaniens Teamchef Jordi Arrese und Nadal selbst die Fans beruhigten, ging es weiter.
„Ich hatte heute nur ein Problem – und das hieß Nadal“
Eine Stunde später war der Widerstand Roddicks gebrochen: Im Tiebreak des dritten Satzes vergab er einen Satzball, danach schwebte Nadal auf einer Welle des Erfolges und zu einem 6:7, 6:2, 7:6, 6:2-Sieg. „Ich hatte heute nur ein Problem – und das hieß Nadal“, lobte Roddick später. Schon auf dem Platz hatte er seinem Gegner oft mit Racket und linker Hand applaudiert.
Spätestens nach diesem Sieg hat Spanien ein neues Sportidol: Rafael Nadal. Die Tageszeitungen widmeten ihm Berichte in verschwenderischer Fülle. Zeitungsartikel, auf über 200 DIN A4-Seiten kopiert, lagen im Pressezentrum aus und beschäftigten sich mit dem „Kind, das die Roddick-Raketen entschärfte“ (El Pais). Die Marca schrieb in großen Lettern: „Brutal, Kolossal, Genial – Nadal“. Und die AS titelte: „Dieser Cup heißt nicht Davis; er heißt Nadal“. Schlagzeilen, die das Leben eines jungen Tennisspielers verändern können. Doch „Rafa“, wie sie ihn nennen, scheint den Rummel um seine Person nicht zu kümmern.
Englisch spricht er kaum, obwohl er schon seit zwei Jahren auf der Tour ist. Er rattert seine Antworten lieber in einem so schnellen Spanisch herunter, das selbst manche Landsleute nicht verstehen. Noch immer hört er vor allem auf seinen Onkel Toni, der ihn als Vierjährigen im kleinen Club von Manacor auf der Urlaubsinsel Mallorca zum Tennis geführt hatte. In der Freizeit fischt er gerne. Oder er zockt Videospiele. Und wenn er sich von seinen guten Verdiensten auf der Tour (bisher 715.000 US-Dollar) und seinen lukrativen Werbeverträgen einen PC kaufen will, ermahnt ihn seine Mutter, dass er gefälligst einen günstigen und nicht das Topmodell nehmen soll. Im kurzen Gespräch mit tennis MAGAZIN versteckt er sich hinter den ins Gesicht hängenden Haaren und blickt scheu zur Dolmetscherin.
Auf dem Platz ist er das genaue Gegenteil. Ein Energiebündel, ein „echter Hurrikan“ (El Mundo). Nadal geht so heiß in seine Matches, dass er sich vorher abkühlen muss – unter einer kalten Dusche. Das zumindest war vor dem Davis Cup-Finale zu hören. Bei einem Pressetalk in Sevilla stellte Nadal aber klar, dass diese Erzählung „Unfug“ sei. Er ist mit 18 Jahren und 185 Tagen nun der jüngste Einzelspieler, der jemals den Davis Cup gewann. „Ich bin ein Kind dieses Wettbewerbs. Das Teamgefühl liebe ich und ich habe schnell gelernt, dass der Davis Cup etwas komplett anderes ist als die üblichen Turniere. Diese Atmosphäre da draußen, dieses Stadion – einfach unglaublich“, staunte er.
Pluspunkt Heimvorteil. Um diesen effizient zu nutzen, wurden vor dem Finale die Stadionsitze fast täglich um weitere Platzreihen aufgestockt. Das Stadion von Sevilla, ein Relikt gescheiterter Olympiabewerbungen für 2004 und 2008, erwachte aus seinem Dornröschenschlaf. Es war erst die dritte nennenswerte Veranstaltung in der Riesenarena nach den Leichathletik-Weltmeisterschaften 1999 und dem Uefa-Pokal-Endspiel 2003. Die Betonschüssel steht sonst leer, weil die beiden Fußball-Erstligisten der Stadt eigene Stadien haben. Für das Davis Cup-Finale installierte man vor der Nordkurve einen Sandplatz, der von zusätzlichen provisorischen Tribünen umrahmt wurde.
Damit eine garantierte Fernsehübertragung gewährleistet war, wurde für eine Million Euro ein Dach über den Court gebaut. Eine kluge Maßnahme, denn an den ersten beiden Tagen regnete es in Sevilla. Insgesamt investierte der spanische Tennisverband RFET über acht Millionen Euro in diese Begegnung. Der Gewinn nach dem dreitägigen Spektakel soll sich auf 1,5 bis zwei Millionen Euro belaufen. Hinzukommt aber vor allem ein nicht ein nicht zu beziffernder Imagegewinn für das spanische Tennis, obwohl ihn dieses Land kaum nötig hat.
„Nadal ist Spaniens Potenzial für die Zukunft“
Tennis ist in Spanien die Nummer zwei hinter Fußball. Daran wird auch dieser zweite Davis Cup-Erfolg nach 2000, als man in Barcelona Australien bezwang, nichts ändern. Damals war Juan-Carlos Ferrero der Mann der Stunde. Gegen Lleyton Hewitt holte er den dritten Punkt. In Sevilla durfte Ferrero kein Einzel spielen, sondern wurde als Kanonenfutter zusammen mit Tommy Robredo im Doppel verheizt. Gegen die Bryan-Brüder holten sie fünf Spiele in drei Sätzen. Ferrero, der vorher noch nie ein Doppel im Davis Cup spielte und 2004 nur zweimal erfolglos an Doppelkonkurrenzen auf der Tour teilnahm, war dieses Mal nur Steigbügelhalter. Er musste Doppel spielen, um Nadal für den Sonntag zu schonen. „Wir sind ein Team, für das ich alles mache“ , beteuerte er mit verkniffenem Gesicht. Es passt ins Bild einer verkorksten Saison des 24-Jährigen: Windpocken, Probleme am Handgelenk und in der Davis Cup-Vorbereitungswoche Blasen an der Schlaghand. Zum ersten Mal seit fünf Jahren ist der French Open-Sieger von 2003 aus den Top 30 der Weltrangliste geflogen. Und nun musste er auch noch Platz für ein Kind machen.
Ferrero und auch Robredo, als Nummer 13 der Welt ebenfalls besser platziert als Nadal, waren die großen Brüder, die leer ausgingen, während ihr Nesthäkchen Nadal alles vom Papa (in dem Fall Spaniens Davis Cup-Teamchef Arrese) zugesteckt bekam. Arrese selbst verstand die Aufregung um seine Aufstellung indes nicht: „Rafa ist ein perfekter Davis Cup-Spieler. Er ist Spaniens Potenzial für die Zukunft. Und er hat gezeigt, was wir alle von einem 18-Jährigen lernen können.“
Am Tag der Entscheidung spielte Nadal aber nur eine Nebenrolle. Carlos Moya, der schon beim leichten Auftaktsieg über Mardy Fish in bestechender Form war, fertigte Roddick in drei Sätzen ab (6:2, 7:6, 7:6) und brachte Spanien uneinholbar mit 3:1 in Führung. Zum bedeutungslosen letzten Einzel schickte Arrese dann nicht mehr Nadal auf den Platz – sondern Robredo, der schnell gegen Fish verlor.
Matchwinner der Partie war mit zwei gewonnen Einzeln also Carlos Moya. Roddicks ultra-aggressives Spiel auf dem langsamen Sandboden konterte er mit kontrollierten Passierbällen und perfekt getimten Topspinlobs aus. Nervosität? Fehlanzeige. Dabei hatte Moya allen Grund dazu gehabt: Das Finale 2000 hatte er verpasst, weil er verletzt war. Seitdem wartete er auf seine nächste Chance. Seit Wochen hatte er sich mental auf diese Partie und seine Rolle vorbereitet. „Ich war so vernarrt in diese Begegnung, dass ich viele Nächte von diesem Tag geträumt habe“, erzählte er.
Sein Auftritt am Sonntag entfachte erneut die Feststimmung und Leidenschaft auf den Rängen. Wenn Moya einen leichten Fehler machte, verrenkten sich die Fans auf ihren Sitzen mit schmerzverzehrtem Gesicht. Im nächsten Moment, wenn Moya ein Punkt gelang, sprangen sie auf und verbeugten sich mit hochgehaltenen Händen. In dem rotgelben Farbenmeer sah man kreischende Mädchen, verzückte Damen, sich abklatschende Jungen, faustschwingende Herren – so schön kann er sein, der Davis Cup, der in Deutschland nach dem erneuten Abstieg in die Euro/Afrika-Zone 1 nur noch am Rande wahrgenommen wird.
So ein Davis Cup-Finale ist ein Traum für jede Tennisnation. Aus Sevilla berichteten 410 Journalisten, 24 Fernsehstationen und 187 Zeitungen waren akkreditiert. Die TV-Bilder wurden in 151 Länder übertragen. Sogar den Vergleichswettkampf zwischen den 12-jährigen Junioren aus den USA und Spanien, die auf einem Kunstrasenplatz in der Altstadt von Sevilla spielten, übertrug ein lokaler Fernsehsender. Die alte Bestmarke mit 3,66 Millionen TV-Zuschauern für eine Tennisübertragung während des Davis Cup-Endspiels 2000 wurde am finalen Sonntag in Sevilla übertroffen.
Es sind Zahlen, die in Deutschland zur Zeit in weit entrückter Ferne liegen. In Spanien werden sie auch in Zukunft ganz normal sein. Weil es Rafael Nadal gibt.