Story: Die geduldige Frau Hingis
Mit 35 Jahren könnte Martina Hingis in Rio ihre erste Olympiamedaille gewinnen. Die ehemalige Weltranglistenerste steht mit dem Schweizer Damendoppel im Halbfinale – und am Ende einer wechselhaften Karriere.
Von Thilo Neumann
Diese zehn Minuten konnte sie auch noch warten. Als sich ihre Gegnerinnen am Donnerstag im Viertelfinale des olympischen Damendoppels beim Toilettengang auffallend viel Zeit ließen, blieb Martina Hingis gelassen. „Ich bin doch schon eine ältere Dame, da bin ich über jede Pause froh“, scherzte die 35-jährige Schweizerin nach der Partie, die sie an der Seite ihrer Spielpartnerin Timea Bacsinszky mit 6:3 und 6:0 für sich entscheiden konnte. Über die Verzögerungen ihrer Kontrahentinnen, den Schwestern Hao-Ching und Yung-Jan Chang aus Taiwan, lächelte Hingis souverän hinweg. Im Halbfinale treffen die Eidgenossinnen nun auf das tschechische Duo Hradecka/Hlavackova. Ein Sieg fehlt zu einer Medaille, zwei zu Gold.
Mit der souveränen Vorstellung bewies Martina Hingis, dass sie in Rio nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen ist – eine Qualität, die auf der Tennisanlage im Olympiapark dieser Tage viel wert ist. Die Partie hätte eigentlich bereits am Mittwoch stattfinden sollen, wurde aber wegen Regen um einen Tag verschoben. Für Hingis ebenso wenig ein Problem wie der Versuch der Chans, den Rhythmus der Schweizerinnen mit einer langen Toilettenpause zu unterbrechen. Was sind schließlich ein paar Minuten Pause, was 24 Stunden des Wartens, gegen 20 Jahre Abstinenz?
Als 15-Jährige in Atlanta
Zwei Dekaden ist es her, dass Martina Hingis ihre ersten olympischen Spiele bestritt, 1996 in Atlanta. 15 Jahre war sie damals jung, ein Kind auf dem Weg zum Weltstar; gedrillt von Mutter Melanie, benannt nach Martina Navratilova, der zehnfachen Grand-Slam-Siegerin. Auch Hingis sollte an die Spitze ihres Sports, und sie verschwendete keine Zeit. Schon nach Atlanta kam sie als Wimbledon-Siegerin, im Doppel an der Seite der Tschechin Helena Suková. Ein Coup, den sie bei Olympia nicht wiederholen konnte: Im Einzel scheiterte sie in der zweiten Runde, im Doppel schaffte sie es mit Patty Schnyder immerhin bis ins Viertelfinale. Verschmerzbar für das Ausnahmetalent, dachte die Tenniswelt. Schließlich werde Hingis noch oft bei Sommerspielen aufschlagen können.
20 Jahre später steht Martina Hingis in rotem Top und weißem Röckchen auf Court 7, einem Außenplatz der Tennisanlage von Rio. Die provisorischen Tribünen fassen etwa 300 Zuschauer, an den Zäunen wehen eine Handvoll Schweizerfahnen. Während der Ballwechsel hallt Jubel vom Nachbarplatz rüber, am Himmel kreist ein Hubschrauber. Darunter, auf dem Hartplatz, schlägt Martina Hingis Returns und Volleys an ihren Gegnerinnen vorbei. Ist der Punkt gewonnen, läuft sie zu Timea Bascinszky und klatscht mit ihr ab, Hingis‘ Pferdeschwanz hüpft mit jedem Schritt. Das Publikum ist größtenteils älteren Jahrgangs; sie kennen Hingis noch von früher, als sie so viel jünger war, sie erinnern das Strahlen der Siegerin, die Tränen der Gefallenen. Sie kennen es aus Melbourne, Paris, New York, nicht aber von Olympia. Die Spiele in Rio sind die ersten für Hingis seit Atlanta.