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Sie können Profikarrieren beschleunigen, Fans auf die Tribünen locken und Sponsorenwünsche erfüllen: Wildcards! Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu einem vielschichtigen Thema. Bild: Shutterstock

Wildcards im Tennis: Joker im großen Spiel

Sie können Profikarrieren beschleunigen, Fans auf die Tribünen locken und Sponsorenwünsche erfüllen: Wildcards sind in der Turnierszene ein wichtiges Tool für Veranstalter, Spieler, Verbände und Förderer. Aber wer bekommt sie nach welchen Kriterien?

„Sie sind problematisch und ungerecht. Sie begünstigen Profis, die rein zufällig aus wohlhabenden Ländern oder aus Grand Slam-Nationen stammen. Sie sind subjektiv in einem Sport, der sich für seine Objektivität rühmt. Und sie sind ein Einfallstor für Korruption.“

So beschrieb einmal US-Tennisreporter Jon Wertheim für die Sports Illustrated das Wesen der Wildcard. Auch wenn Wertheim sich bewusst provokant ausgedrückt hat: Wildcards sind nicht einfach nur als Einladung für Spieler und Spielerinnen in ein Turnier zu verstehen, bei denen sie auf regulärem Weg nicht hätten mitspielen können. Wildcards können auch Ausgangspunkt für Streitereien, Diskussionen und Skandale sein. Das Thema ist vielschichtiger, als man auf dem ersten Blick vermutet. Höchste Zeit also, einige grundlegende Fragen rund um die Wildcard zu klären.

Wieso sagt man Wildcard?

Der Begriff stammt vom Pokerspielen. In bestimmten Spielvarianten gibt es dort eine Wildcard, die man wie einen Joker einsetzen kann. Frei übersetzt ist es eine „wilde Spielkarte“, wobei wild im Sinne von „beliebig verwendbar“ gemeint ist. Wildcards gibt es auch in anderen Sportarten (z.B. in den nordamerikanischen Profiligen NBA, NFL, NHL, MLB) oder im IT-Bereich, wo sie als Platzhalter für andere Zeichen beim Programmieren fungieren.

Wozu dienen Wildcards?

Sie ermöglichen vor allem zwei wesentliche Aspekte: Nachwuchsförderung durch Wildcards für vielversprechende Talente und Attraktivitätssteigerung des Teilnehmerfelds, indem „Big Names“, also bekannte Profis, eingeladen werden. Sandra Reichel von der Agentur Matchmaker, die die WTA-Turniere in Hamburg und Linz veranstaltet, beschreibt es so: „Wildcards sind extrem wichtig für uns als Turnierveranstalter. Wir können mit ihnen dem nationalen Nachwuchs eine Chance geben und gleichzeitig namhafte Spielerinnen in die Felder holen. Durch beide Maßnahmen wird das Feld attraktiver – für die Fans, für die ganze Region, für die Medien, für die Sponsoren.“

Wie viele Wildcards gibt es?

Jedes Turnier – egal auf welchem Profilevel – verfügt über eine bestimmte Anzahl von Wildcards. Sie werden an Spieler und Spielerinnen vergeben, die es aufgrund ihrer Weltranglistenposition nicht direkt ins Hauptfeld schaffen. Es wird ihnen also die Qualifikation erspart. Kleinere WTA- und ATP-Turniere der 250er und 500er-Kategorie können in der Regel vier Wildcards vergeben. Bei den großen 96er-Feldern der kombinierten Masters-Turniere sind es acht in den WTA-Einzelkonkurrenzen. Auch die Grand Slam-Events haben acht Wildcards pro Einzelwettbewerb.

Per Wildcard plötzlich auf der großen Bühne

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TITEL AUS DEM NICHTS: 1998 holte der 16 Jahre alte Lleyton Hewitt als 550. der Weltrangliste dank einer Wildcard den Titel bei seinem Heimturnier in Adelaide. Er ist bis heute der am niedrigsten platzierte Spieler, der ein ATP-Turnier gewinnen konnte. Im November 2001 wurde Hewitt die Nummer eins der Welt – im Alter von 20 Jahren und acht Monaten.Bild: Imago/Iso Sport

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TRAUMLAUF: Erst im Halbfinale beim ATP-Turnier in seiner Heimatstadt Hamburg war für Alexander Zverev, damals 17 Jahre alt, 2014 Endstation. Als 285. der Weltrangliste hatte er eine Wildcard bekommen. Nur drei Jahre später – im Mai 2017 – stand Zverev erstmals in den Top 10 des Rankings.Bild: Imago/Meincke

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GROSSE ENTDECKUNG: Coco Gauff bekam als 15-Jährige eine Wildcard für die Wimbledon-Quali 2019 – und preschte bis ins Achtelfinale des Hauptfeldes vor. Die aktuelle Nummer drei der Damen gewann 2023 mit den US Open bereits einen Grand Slam-Titel. Gauff zählt zu den am besten bezahlten Sportlerinnen der Welt.Bild: Imago/Mark Greenwood

Wer entscheidet über die Vergabe von Wildcards?

Spätestens jetzt wird es kompliziert. Denn wer die Wildcards vergibt, ist nicht festgelegt. Häufig ist es so, dass die Ausrichter der Turniere darüber bestimmen, wer die Wildcards bekommt. Vermarktungsagenturen, Verbände oder die Lizenzinhaber der Turniere sind bei der Vergabe aber oft involviert. Je nachdem, wie die Entscheidungen ausfallen, kann das durchaus zu Irritationen führen – wie beim Groß-Turnier von Madrid 2024. In der spanischen Hauptstadt ging nur eine Wildcard an einen spanischen Profi, nämlich an Nachwuchsspieler Martin Landaluce. Die acht WTA-Wildcards erhielten ausschließlich ausländische Spielerinnen. In Madrid ist diese Politik seit 2022 gängig.

Damals gab es einen Aufschrei in der spanischen Tennisszene. Routinier Fernando Verdasco bemängelte öffentlich die fehlende Unterstützung spanischer Tennisprofis. Inzwischen hat man sich auch in Madrid daran gewöhnt. Denn seit 2022 liegt die Turnierlizenz in den Händen des Vermarktungsriesen IMG. Dieser unterstützt mit den freien Startplätzen vor allem Profis, die bei IMG unter Vertrag stehen. So kam es etwa zu dem Generationenduell zwischen Rafael Nadal, 37, und dem erst 16-jährigen IMG-Kunden Darwin Blanch, das Nadal 6:1, 6:0 gewann. Blanch, die Nummer 1028 der Weltrangliste, wurde auch schon in Miami mit einer Wildcard bedacht, weil das Event ebenfalls IMG gehört.

In der deutschen Turnierszene ist so ein Extremfall noch nicht aufgetreten. Zwar haben bei den ATP-Turnieren in Halle, München und Stuttgart die Turnierdirektoren das letzte Wort in Sachen Wildcard, aber vorab gibt es einen Austausch mit dem Deutschen Tennis Bund (DTB). „Ich denke zuerst immer an die deutschen Spieler und spreche das in der Regel mit dem deutschen Davis Cup-Teamchef Michael Kohlmann entsprechend ab, auch wenn die finale Entscheidung bei mir liegt“, erklärt etwa Halle-Turnierdirektor Ralf Weber auf tennis MAGAZIN-Anfrage. Weber bezieht in seine Überlegungen stets mit ein, wie weit ein möglicher deutscher Wildcard-Inhaber kommen kann und wie „ausgeprägt dessen Rasenexpertise“ ist. In Hamburg bestimmt der DTB dagegen eigenständig, welche Spieler Wildcards bekommen, weil dem Verband die Turnierlizenz gehört. Und wie läuft es auf den unterklassigen Turnieren ab? „Auf Challengern oder ITF-Turnieren kann der DTB einen Teil der Wildcards bestimmen, das ist vertraglich so festgelegt“, erläutert Michael Kohlmann.

Konkret ist es so, dass die DTB-Wildcards etwa bei Challengern an eine Förderung gekoppelt sind. Das heißt: Gibt der Veranstalter zwei Wildcards an den DTB, dann fließt auch die Förderung für das Turnier in Höhe von 20.000 Euro. Auf ITF-Ebene beläuft sich der Betrag auf bis zu 4.000 Euro Förderung für die Turniermacher, wenn der DTB zwei Wildcards für seine Kaderspieler vergeben kann. Hinzukommen oft noch ähnliche Kooperationsverträge mit dem jeweiligen Landesverband, der die kleinen Profievents ebenfalls unterstützt, wenn er im Gegenzug eine Wildcard bekommt. Weil die Organisatoren auf die finanzielle Unterstützung angewiesen sind, gehen sie den DTB-Deal ein. Eine Win-Win-Situation? Für die meisten schon. Manche an der Basis interpretieren die Wildcardabgabe aber auch als ein „Machtinstrument“, das sich der DTB „erkauft“.

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BYE, BYE: Venus Williams startete seit August 2021 bei 14 Turnieren – stets per Wildcard. Zuletzt verlor sie in Miami in Runde eins.Bild: Imago/Goeff Burke

Joker-Vielspieler – Profis mit den meisten Wildcard-Starts*

Herren

1.Andy Murray55
2.Tommy Haas53
3.Goran Ivanisevic52
4.James Blake49
5.Lleyton Hewitt45

Damen

1.Sam Stosur41
2.Venus Williams40
3.Bethanie Mattek-Sands37
4.Eugenie Bouchard35
5.Alicia Molik33

* Es zählen nur Hauptfeld-Starts bei ATP/WTA- und Grand Slam-Turnieren. (Quelle: ATP, WTA, tennisabstracts)

Gibt es tatsächlich sogenannte „Last Minute-Wildcards“?

Ja, auch wenn sie offiziell anders heißen. Auf der WTA-Tour sind es die „Exemption Wildcards“, auf der ATP-Tour die „A+ Wildcards“. Sie sind an bestimmte Bedingungen geknüpft und können kurzfristig von Spielerinnen und Spielern in Anspruch genommen werden. Auf der Damentour richten sich diese speziellen Wildcards an aktuelle Top 30-Spielerinnen (bis 2023 waren es die Top 20!) oder an ehemalige Nummer 1-Spielerinnen, Grand Slam Turnier-Gewinnerinnen, WTA-Finals-Champion (jeweils innerhalb der letzten zehn Jahre) oder WTA-1000er-Siegerinnen (innerhalb der letzten fünf Jahre).

Die erfahrene Turnierdirektorin Sandra Reichel erklärt, wie der Umgang mit diesen Wildcards funktioniert: „Als WTA 250er-Turnier hat man vier Wildcards. Über zwei kann ich frei verfügen, die anderen beiden sind als Exemption Wildcards für verdiente Top 30-Spielerinnen quasi reserviert. Nur wenn es keine Anfragen von Top 30-Spielerinnen gibt, kann ich sie an andere Kandidatinnen vergeben. Weil nun die besser platzierten Damen über ihre Starts bei kleineren Turnieren immer kurzfristiger entscheiden, kann es zu plötzlichen Verschiebungen in der Entry List kommen.“

Welche Folgen das haben kann, erklärt sie an einem Beispiel: „2013 in Linz wollte ich die dritte Wildcard an eine österreichische Spielerin vergeben, dann fragte plötzlich Angie Kerber an. Sie hatte Chancen, sich für die WTA-Finals zu qualifizieren und brauchte dafür noch Punkte. So erhielt schließlich Angie die Wildcard, drei Minuten vor der Deadline. Sie gewann das Turnier und schaffte es zu den WTA-Finals.“

Auf der Herrentour ist das Prozedere etwas einfacher. Am Ende einer Saison wird eine nicht-öffentliche Liste mit Spielern angelegt, die „A+Wildcards“ beantragen können. Die Listen unterscheiden sich je nach Region, aber in der Regel umfassen sie die aktuell acht besten Spieler der Welt. Ralf Weber vergab 2023 eine dieser A+Wildcards an Stefanos Tsitsipas – aus einem kuriosen Grund: Der Grieche hatte es versäumt, für Halle zu melden, war aber vertraglich an das Rasenturnier gebunden (bis einschließlich 2024).

Wilde Dinger: Die größten Wildcard-Titel

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WUNDER VON WIMBLEDON: 2001 gewann Goran Ivanisevic endlich auf dem heiligen Rasen als 125. der Weltrangliste. Dank einer Wildcard rutschte er überhaupt ins Hauptfeld.Bild: Imago

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MIT KIND UND KEGEL: Nach einer 27-monatigen Babypause und ohne Platzierung in der Damen-Weltrangliste bekam Kim Clijsters 2009 eine Wildcard für die US Open – und holte sensationell den Titel. Tochter Jada, damals anderthalb, freute sich mit der Mama.Bild: Imago/ Corinne Dubreuil

Werden Geschwister bei der Wildcard-Vergabe bevorzugt?

Wer regelmäßig die Auslosungen der WTA- und ATP-Turniere checkt, muss den Eindruck bekommen, dass Geschwister von bekannten Profis häufig in den Genuss von Wildcards kommen. Marko Djokovic, der jüngere Bruder von Novak Djokovic, erhielt acht Wildcards für ATP-Turniere. Er stand nie höher als auf Platz 571 im Ranking und verlor jedes Mal in der ersten Runde. Elke Clijsters, die Schwester von Kim Clijsters mit einem höchsten Ranking von 389, erhielt sieben WTA-Wildcards. Sie gewann kein einziges Mal.

Aktuelles Beispiel ist Petros Tsitsipas, der jüngere Bruder von Stefanos Tsitsipas, der regelmäßig Wildcards für Einzel- und Doppelstarts bekommt. Der Verdacht: Wenn die Schwester oder der Bruder eine Wildcard bekommt, tritt der eigentliche Star auch bei dem Turnier an. Offiziell will niemand einen Zusammenhang sehen. Ralf Weber immerhin räumt ein, dass der Manager von Tsitsipas ihn nach einer Doppel-Wildcard für den jüngeren Bruder gefragt hätte. Weber lehnte dies vehement ab: „Ich will bei diesem Thema null Einmischung.“

Kann man Wildcards kaufen?

Offiziell natürlich nicht. Doch die Gerüchte halten sich hartnäckig. Es ist so wie bei dem Geschäft mit den Tenniswetten: Auf hohem Profilevel ist es eher unwahrscheinlich, dass Wildcards verkauft werden. Auf den unteren Stufen der Tour aber sind die Protagonisten empfänglicher für dubiose Geschäfte. Zwei aktuelle Beispiele zeigen das. Robert Biletic, Turnierdirektor der Kiseljak Open, einem 25.000er ITF-Turnier für Herren in Bosnien und Herzegowina, wurde 2023 für ein halbes Jahr vom Tennis-Weltverband gesperrt, weil er 2021 versucht hatte, eine Wildcard zu verkaufen. Der spanische Profi Aaron Cortes bekam jüngst eine 15-jährige Spielsperre aufgebrummt. Eines seiner vielen Vergehen: Er hatte es probiert, Wildcards für ITF-Turniere zu kaufen.

Haben Grand Slam-Nationen Vorteile durch Wildcards?

Definitiv – und das in doppelter Hinsicht. Zum einen können die Grand Slam-Nationen ihren eigenen Nachwuchs per Wildcard auf die höchste Tennisbühne schicken. Das absurdeste Beispiel stammt aus England: Alex Bogdanovic bekam achtmal eine Wildcard für das Wimbledon-Hauptfeld – und verlor achtmal. Als ihm die neunte Wimbledon-Wildcard verwehrt wurde, nannte er die Entscheidung „respektlos“.

Der zweite Vorteil ist ein 2001 initiiertes Abkommen der Grand Slam-Turniere in Melbourne, Paris und New York: Man schiebt sich gegenseitig eine Wildcard zu, damit etwa eine französische Nachwuchshoffnung nicht nur in Roland Garros Grand Slam-Feeling aufsaugen kann, sondern auch noch bei den Australian Open. „Reciprocal Wildcard“ nennt sich dieser Austausch offiziell, an dem Wimbledon nicht teilnimmt. Die Verbände der Grand Slam-Länder veranstalten Events oder sogar Turnierserien, deren Sieger am Ende die Wildcard für das Grand Slam-Turnier in Übersee erhalten.

Für Profis, die jenseits der Top 150 stehen, sind Grand Slam-Starts in finanzieller Hinsicht ein großer Fang. Wer knapp 110.000 Euro für eine Erstrundenniederlage kassiert (Australian Open 2024), kann die weitere Saison etwas entspannter angehen. Umso hilfreicher also, wenn man gleich mehrere Optionen auf Grand Slam-Wildcards hat.