Mit dem Rücken zur Wand
Die Szene war ungewöhnlich. Das Masters 1000 in Shanghai, Mitte Oktober. Gerade hatte Rafael Nadal den Amerikaner James Blake in der zweiten Runde besiegt, da brach es aus ihm heraus. Nadal ballte die Faust, hüpfte über den taubenblauen Court und schrie seine Anspannung in den Himmel über der chinesischen Metropole. 6:2, 6:7, 6:4 endete die Partie. Man hätte meinen können, es sei das Finale eines Grand Slam-Turniers gewesen, so emotional reagierte der Spanier. Es ist ein schwieriges Jahr. Jeder einzelne Sieg ist sehr wichtig für mich, und dieser heute war es besonders, erklärte Nadal später den verdutzten Zuhörern.
Ein schwieriges Jahr. Die Formulierung beschreibt Nadals Höhen und Tiefen anno 2009 exakt. Im ersten Halbjahr war ein Match gegen einen Spieler vom Kaliber James Blakes eine leichte Übung. Nadal, der Überflieger, eilte von Erfolg zu Erfolg. Auch mit dem Rückenwind aus dem Vorjahr: 2008 triumphierte er binnen sechs Wochen in Paris, Wimbledon und bei den Olympischen Spielen in Peking. Kurz vor den US Open stürzte er Roger Federer vom Thron, nachdem er ihm zuvor drei Jahre in Folge als Weltranglistenzweiter auf den Fersen war. Nadal galt als unschlagbar, besonders für Federer.
Vom Champion zum Patienten
Die Rede war nicht mehr vom Schweizer als erfolgreichstem Spieler aller Zeiten. Plötzlich rechneten die Statistiker vor, dass Nadal, der fünf Jahre Jüngere, viel mehr Grand Slam-Titel sammeln könne als Federer. Als der Spanier zu Beginn des Jahres den Rivalen bei den Australian Open schlug (und einen weinenden Federer trösten musste), schien endgültig festzustehen: Die Ära Federer ist beendet, der König heißt Nadal, zumal er den Schweizer dreimal in Folge bei Grand Slam-Turnieren und auf drei verschiedenen Bodenbelägen (Asche, Rasen, Hartplatz) besiegt hatte.
Federer schwächelte, Nadal raste weiter am Limit wie in der Autowerbung seines Sponsors. Er gewann in Indian Wells und dominierte die europäische Sandplatzsaison. Der Wendepunkt war das Turnier in Madrid. Nadal unterlag überraschend Federer im Finale. Es war der Moment, in dem sich der Champion in einen Patienten verwandelte. Erst vor Kurzem offenbarte Nadal: Ich habe die ganze Sandplatzsaison mit Schmerzen gespielt. Ich konnte mich nicht richtig bewegen, aber ich hatte durch meine Erfolge ein unglaubliches Selbstbewusstsein.
Das Selbstbewusstsein schwand spätestens, als er bei den French Open, die er zuvor viermal in Folge gewonnen hatte, bereits im Achtelfinale an Robin Söderling scheiterte. Die größte Überraschung im Tennisjahr 2009 war für Nadal, den Abonnement-Sieger, ein Keulenschlag. Anschließend habe er geweint wie ein Tier. Wahrscheinlich war ihm damals schon klar, was knapp zwei Wochen später Gewissheit wurde: viele Wochen Pause, eine unsichere Zukunft. Am 20. Juni, zwei Tage vor Wimbledon, verkündete Nadal, der Titelverteidiger, nach zwei unbefriedigenden Tests auf Rasen: Hier nicht zu spielen, ist eine der härtesten Entscheidungen meiner Karriere. Die Knie sie schmerzten zu sehr. Er brauche Zeit, sich zu erholen, um dann so schnell wie möglich wieder zurückzukehren. Aber keine Angst, sagte Nadal, die Verletzung ist nicht chronisch.
Nicht chronisch? Bei jemandem, der beide Knie schon jahrelang tapt, der schon das letzte Saisonfinale in Shanghai wegen hartnäckiger Knieschmerzen absagen musste? Die Zweifel mehrten sich. Auf einmal stand das Gespenst Karriereende im Raum. Aus der Schweiz meldete sich der frühere Martina Hingis-Leibarzt Heinz Bühlmann zu Wort. Schwarz sehe er für Nadal. Gegen die chronischen Schmerzen könne nur eine Operation helfen. Bühlmann weiter: Bei Nadal stimmt im biomechanischen Bereich vieles nicht. Er ist immer tief unter dem Ball das ist Dauerstress für die Sehnen.
Nicht zum ersten Mal das Knie
Patellaspitzensyndrom ist der Fachbegriff für Nadals Verletzung. Es ist die Stelle, wo die Sehne am Knochen ansetzt. Vor allem der ständige Wechsel der Bodenbeläge sorgt dafür, dass die Kniescheiben- oder Patellasehne entzündet und gereizt ist. Konservativ wird sie behandelt durch entzündungshemmende Tabletten, Massagen, Elektrotherapie, Injektionen und vor allem Ruhe.
Ende Juni zog sich Nadal in sein Haus in Porto Cristo, Mallorca, zurück. Er, der schon als Kind nie stillsitzen konnte, verbrachte die meiste Zeit des Tages auf dem Sofa, sah Fernsehen, spielte Computerspiele, sinnierte. Ich habe in einem Monat mehr auf der Couch gelegen als die letzten fünf Jahre zusammen, erzählte Nadal. Spekuliert wurde reichlich. Nicht nur darüber, wie schwer die Verletzung sein könnte, sondern auch über Nadals psychische Verfassung nach der Trennung der Eltern. Das wurde schon nach den Australian Open öffentlich. Zur Erinnerung: Ich habe in Melbourne gewonnen, stand dann im Finale von Rotterdam und gewann vier weitere Turniere. Ich bin in der Lage, meinen Kopf für Tennis freizuhalten, konterte Nadal zunächst trotzig.
Aber er sagte auch: Die Knie schmerzten, aber ich war im Finale von Paris down wegen der Scheidung meiner Eltern. Für den Familienmenschen Nadal eine Tragödie, von der er sich nur langsam erholte.
Kann er auch den eigenen Körper besiegen? Einer Operation hat sich Nadal bisher nicht unterzogen. Es ist die letzte Möglichkeit. Ein Stück Sehne, das faule, morsche Gewebe, wie es der Hamburger Sportmediziner und tennis magazin-Experte Prof. Bernd Kabelka formuliert, wird dabei herausgeschnitten. Anschließend wird die Sehne wieder vernäht. Eine mehrmonatige Pause würde der Eingriff nach sich ziehen. Die Heilungschancen sind gut. Allerdings: Eine Operation, das weiß Nadal, kann immer auch das Ende seiner Karriere bedeuten.
Am 12. August, beim Masters 1000 in Montreal, kehrte Nadal auf die Tour zurück, exakt 75 Tage nach der Pleite gegen Söderling in Paris. Eine Woche später spielte er in Cincinnati. Zwar schlug er sich in Anbetracht der Pause zufriedenstellend (Niederlagen gegen Juan-Martin del Potro und Novak Djokovic in Viertel- und Halbfinale), und auch die Knie schmerzten nicht, doch der Druck, das Comeback mit zwei Masters-Turnieren beginnen zu müssen, war groß, zu groß, wie sich herausstellte.
Rückkehr nach 75 Tagen Pause
Nadal hatte sich eine Bauchmuskelzerrung zugezogen. Bei den US Open, zwei Wochen später, wurde die Verletzung immer schlimmer. Ein Muskel war gerissen, und jeder konnte sehen, wie sich Nadal quälte. Aber erst nach seinem Aus im Halbfinale gegen del Potro sprach der Mallorquiner erstmals über seine Schmerzen.
Es war typisch für Nadal, der nie aufgibt, der auch in dieser ausweglosen Situation alles versuchte, um ins Finale der US Open einzuziehen. Es wäre sein erstes Endspiel in New York gewesen. Gekämpft hatte er im Lauf des Turniers. Erst schien es, als sei Nadal, der mit Kurzhaarfrisur und kurzen, klassischen Hosen überraschte, wieder der Alte. Doch das Grand Slam-Comeback endete mit einem 2:6, 2:6, 2:6-Debakel des Spaniers.
Nadals Vorstellung im Halbfinale kann man als Symbolik für seine zweite Jahreshälfte sehen. Del Potro feuerte Geschosse mit der Vorhand, Nadal verteidigte, versuchte, an der Bande hin- und hersprintend, die Bälle seines Gegners auszugraben. Er wehrte sich, stand sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand. Ironischerweise wirkte del Potro wie eine bessere Version Nadals, der seine Gegner allein durch die Kraft der Muskeln zu dominieren pflegte. Als Zeichen seiner Stärke trug der Argentinier ein ärmelloses Shirt, um die muskulösen Oberarme noch besser zur Wirkung kommen zu lassen. Nadal trug in der zweiten Saisonhälfte bezeichnenderweise klassische Shirts mit halbem Arm.
Über 400 Matches bestritt Nadal in den letzten fünf Jahren, mehr als jeder andere Profi. Er braucht die vielen Partien, um in den optimalen Rhythmus zu kommen, auch wenn er sich bei der ATP in diesem Jahr wieder beklagte, dass es zu viele Turniere gäbe. Nur durch die Masse der Partien funktioniert sein Spiel perfekt, bei dem er den Gegner nicht ausspielt, wie Federer und früher Pete Sampras es praktizieren, sondern niederringt. Klickt man sich durch die Videos auf Nadals Homepage wird immer wieder ein Motiv deutlich: Bälle, Bälle, Bälle schlagen.
„Ich brauche die innere Ruhe.“
Das Dilemma an Nadals Situation trat in den letzten Wochen und Monaten deutlicher denn je zu Tage: Spielt er zu viele Matches, leiden die Knie, möglicherweise schon bald wieder auch die Füße wie 2005 und 2007. Spielt er zu wenige, fehlt es seinen Schlägen an Präzision und Härte. Im zweiten Halbjahr war der Rhythmus gestört: Ich brauche ein bisschen mehr Selbstvertrauen und mehr Matches auf diesem Niveau. Ich brauche die innere Ruhe, betonte Nadal immer wieder ob in Shanghai, Paris oder London.
Es ist eine neue, ungewohnte Rolle für Nadal. Die Aura des Unbesiegbaren hat er zunächst verloren. In Madrid, eine gefühlte Ewigkeit ist das her, gewann er zuletzt gegen einen Spieler aus den Top acht. Seine Kritiker glauben, er habe sechs Kilogramm abgenommen, um die Knie zu entlasten. Dadurch fehle es ihm an Power. Kaschieren würde er die fehlende Muskelmasse durch die neuen Outfits. Nadal behauptet, dass sei Unsinn. Fakt ist, dass es zuletzt bittere Niederlagen hagelte. Beim ATP World Tour-Finale in London verlor er alle drei Vorrundenmatches. Keinen Satz konnte er gewinnen.
Gejagt bei den Australian Open
2010 reist Nadal als Titelverteidiger zu den Australian Open. Im Jahr zuvor war er der alles überragende Akteur, der trotz Marathon-Schlacht im Halbfinale gegen Fernando Verdasco noch genug Benzin im Tank hatte, um den Widersacher Federer zu schlagen. Nadal wird diesmal der Gejagte sein, aber auch Jäger, für den jede gewonnene Partie wie ein Mosaiksteinchen ist, das ihn, wenn das große Bild fertig ist, wieder als besten Spieler der Welt zeigen soll. Ich werde noch jahrelang auf hohem Niveau spielen, sagt Nadal. Es wird spannend zu sehen sein, wann er wieder siegen wird.
Andrej Antic
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